Das Klassik-Prisma

 

Bernd Stremmel

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Frederic Chopin

 

1.    Scherzo h-Moll op. 20

 

Neubearbeitung und Ergänzung 2022

 

Beethovens und Chopins Scherzi tragen zwar denselben Namen, sind jedoch inhaltlich kaum miteinander verwandt. Das tänzerische Element, die Freude an einer Überraschung, der Scherz, ist bei Beethoven immer gegenwärtig. Bei ihm ist das Scherzo, als Nachfolger des Menuetts, immer Teil von meist viersätzigen Sonaten, Sinfonien oder Streichquartetten. Chopin dagegen verselbständigt den Formtyp und weist jedem seiner vier Scherzi eine charakteristische Physiognomie zu. Mit atemberaubender Virtuosität und mitreißender Dramatik stürzt sich der zwanzigjährige polnische Pianist und Komponist, der gerade eine Bildungs- und Konzertreise in Mitteleuropa absolviert, in sein neues Klavierwerk namens Scherzo, später die Nummer 1. Musikologen halten es für wahrscheinlich, dass die aufgewühlte Musik in den Eckabschnitten (A) den Seelenzustand Chopins widerspiegelt, als er in Wien vom polnischen Aufstand gegen die russische Oberherrschaft (1830/31) und die nachfolgende Niederschlagung durch russisches Militär erfuhr. Dem H-Dur-Mittelteil (B) legt Chopin die Melodie eines alten polnischen Weihnachtslieds zugrunde: „Schlaf, mein Jesulein, schlaf“, das vom Daumen der rechten Hand zu spielen ist. Nur wenige Interpreten, wie z. B. Anne Queffélec, gelingt es den Rhythmus aus Halben und Vierteln so zu gestalten, dass die jeweiligen Achtel auf der Zählzeit 2 nicht zu laut klingen. Als Weihnachtsglöckchen könnte man das fortwährende dominantische fis im Diskant verstehen. Insgesamt hat der Komponist hier eine Musik von großer Imagination hinterlassen. Neben Chopins 1. Ballade in g-Moll zählt das 1. Scherzo zu den technisch anspruchsvollsten Werken des Komponisten.

 

Die Wiederholung der Takte 9-68 wird von den meisten Pianistinnen und Pianisten befolgt, außer von Rubinstein, Bolet, Horowitz, Leimer, François, Magaloff, Freire, Haas, Queffélec, Weissenberg, Vasary, Harasiewicz, Crosvenor und Cho.

 

 

5

Svjatoslav Richter

BMG

1977

10‘22

 

5

Svjatoslav Richter

BMC

1965

9‘52

 

5

Arturo Benedetti Michelangeli

aura     Ermitage

1990

12‘50

 

live London, ABM lässt sich etwas mehr Zeit als viele andere, Musik triumphiert über Virtuosität, Nebenstimmen kommen ans Licht, ausdrucksvoll in B, sehr heller Klang

5

Arturo Benedetti Michelangeli

aura    Ermitage

1988

11‘39

 

live Bregenz, wie 1990, etwas schneller, viele Huster, etwas unruhiges Klangbild

5

Vladimir Ashkenazy

Decca

P 1967

9‘58

 

A: Pianist achtet auf verborgene Melodie-Partikel, B: sehr schön gesungen

5

Wladimir Horowitz

Sony

1963

8‘27

 

5

Maurizio Pollini

DGG

1990

9‘26

 

die pianistisch unangefochten beste Aufnahme

5

Claudio Arrau

Decca-US   Membran

1953

10‘38

 

überzeugend, mit Nachdruck

5

Wladimir Sofronitzki

Brilliant

~ 1952

10‘53

 

live, insgesamt nachdenklicher als 1960, ohne Hektik, B: mit mehr Ausdruck

5

Seong-Jin Cho

DGG

2021

8‘48

 

bestes Virtuosenhandwerk in den Dienst der Musik gestellt, A: stürmisch, dabei immer kultiviert, B: innig

5

Ivan Moravec

Supraphon

1983

9‘43

 

live, A: stürmisch, jedoch ohne besonderen Druck, B: poetisch, bemerkenswert die Takte sempre dimin. e rallent. am Ende

5

Ivan Moravec

Dorian    Supraphon

1989

10‘09

 

A: klanglich viel durchsichtiger als meist üblich, B: poetisch wie 1983

 

 

4-5

Wladimir Sofronitzki

Melodya   BMG

1960

9‘34

 

live, A: con fuoco, zusätzliche, nicht vorgesehene Noten, B: etwas unruhig, trotzdem ausdrucksstarkes Klavierspiel

4-5

Abdel Rahman El Bacha

Forlane

1997

10‘22

 

A: fabelhaft, B: etwas zu schnell

4-5

Mikail Pletnjew

DGG

2000

9‘48

 

live, A: souverän, B: Melodie-Linien zersplittert

4-5

Beatrice Rana

Warner

2021

10‘55

 

Parallel zur Virtuosität rückt Rana auch die Gestaltung der Dynamik in den Fokus, besonders in B, dort fff am Ende nur ff, nicht überbetont. Schöner Klavierklang

4-5

Shura Cherkassky

HNH Records

1977

9‘33

 

B: sehr zurückgenommen, aber immer voller Spannung

4-5

Anne Queffélec

Erato

1973

8‘45

 

A: auch im großen Getümmel immer wieder zarte Momente, B: voller Poesie – sehr leise Verkehrsgeräusche im Hintergrund

4-5

Ivo Pogorelich

DGG

1995

10‘49

 

agitato-Teil etwas nähmaschinenhaft, B: verhalten, wie ein Trauermarsch

4-5

Claudio Arrau

Ermitage

1971

10‘06

 

live, überzeugender B-Teil – Pianist schnauft

4-5

Adam Harasiewicz

Philips

P 1959

9‘02

 

B-Teil erzählend, könnte aber etwas langsamer sein

4-5

Cyprien Katsaris

Teldec

1983

9‘39

 

A: etwas hektisch, B: zart

4-5

Dimitri Demidenko

hyperion

1990

10‘28

 

Anfangsakkorde etwas zurückhaltend, Blick auch auf Gegenstimmen im B-Teil, durchsichtiger Klang

4-5

Nelson Freire

Teldec

P 1975

8‘09

 

bestes Klavierhandwerk - A: agitato-Abschnitte langsamer begonnen, B: ein wenig zu schnell, Nebenstimmen übersehen

4-5

Earl Wild

Chesky

1990

9‘04

 

A: p nicht überspielt, B: poetisch

4-5

Louis Lortie

Chandos

2009

9‘21

 

bestes Klavierhandwerk, A: beinahe schon elegant, B: mit großer Sensibilität – guter Klang

4-5

Bernd Glemser

Oehms

2009

10‘11

 

spürbare Vitalität, selbstverständliche Perfektion, B: warum auch die jeweils 3. Achtel der re. Hd. nicht etwas leiser?

 

 

4

Artur Rubinstein

RCA

1959

9‘00

 

A: nicht ganz so schnell, stattdessen aber deutlicher, agitato-Teil vorsichtig. B: schlicht

4

Emanuel Ax

RCA

1987

9‘53

 

A: deutliche Artikulation, besser als bei vielen anderen, d. h. aber auch kein Gleiten von Ton zu Ton in den Spielfiguren, also mehr Handwerk als zur Schau gestellte Virtuosität

4

Jorge Bolet

Marston

1985

9‘12

 

live - A: hier und da etwas undeutlich, B: sehr ausdrucksstarker con anima-Abschnitt - Amateur-Aufnahme!

4

Cécile Ousset

EMI

1987

10‘01

 

A: anfangs nur f statt ff, Pianistin geht nicht aufs Ganze, eher vornehm zurückhaltend, B: etwas nüchtern

4

Eugen Indjic

Calliope

2006

9‘25

 

A: handwerklich sauber, B: mehr äußerlich als innerlich gespielt

4

Nikita Magaloff

Philips

1976

8‘33

 

A: Magaloffs Finger weniger flink und leicht wie z. B. Katsaris, Pletnjew, Li, B: fließend

4

Werner Haas

MDG

1971

8‘37

 

SWR-Aufnahme, A: ziemlich ohne Druck, B: zurückgenommen

4

Wladimir Horowitz

RCA

1951

8‘20

 

4

Wladimir Horowitz

RCA

1953

7‘35

 

Live,

4

Christian Zacharias

EMI

1972

9‘21

 

live-SWR-Aufnahme, A: mit Nebenstimmen, B: das jeweils 3. Achtel der re. Hd. könnte etwas leiser sein – insgesamt fehlt es etwas an Eleganz

4

Kurt Leimer

EMI   Colosseum

~ 1960

8‘23

 

A: rhapsodisch, verkürzte Noten und Pausen, B: sachlicher Ton

 

 

3-4

Benjamin Crosvenor

Decca

2011

8‘08

 

A: gehetzt, ritenuto-Abschnitte ziemlich überspielt, B: einförmig, nicht das Besondere

3-4

Yundi Li

DGG

2004

9‘27

 

wirkt wie einstudiert, aber noch nicht empfunden

3-4

Samson François

EMI

1955

8‘22

 

etwas unruhig, rhapsodisch, A: zusätzliche kurze Vorschläge

3-4

Tamas Vasary

DGG

1963

9‘04

 

A: kein richtiges con fuoco, eher brav, B: etwas scheu und zu schnell

3-4

Sergio Fiorentino

Piano Classics

1961

10‘32

 

A: robust, B: innig – Klang teilweise belegt, leichtes Klirren

3-4

Anna Gourari

Koch

2000

10‘29

 

Musik ohne Widerstand

3-4

Alexeï Sultanov

Teldec

P 1992

9‘52

 

A: virtuoses Draufgängertum des 20-jährigen Pianisten, B: geringere Sensibilität – heller und stählener Klavierklang, im Diskant auch scharf

 

 

3

Alexis Weissenberg

aura

1969

6‘44

 

live – gekürzt: 2. Agitato fehlt, Mittelteil zu schnell, wenig aufgefächertes Klangbild

 

 

Hinweise zu Interpreten und Interpretationen

 

Wladimir Horowitz

 

Drei Aufnahmen mit Horowitz stehen hier zur Diskussion. In seiner frühesten Aufnahme geht der Pianist aufs Ganze, er stürmt durch die A-Abschnitte, sehr hektisch, dabei werden einige Noten verschluckt. Einen ähnlichen Eindruck hinterlässt der Konzertmitschnitt anlässlich seines 25jährigen Amerika-Debuts 1953. Hier beginnt er etwas langsamer und deutlicher, nach ein paar Sekunden ist dies jedoch passé. Der B-Abschnitt wird jetzt noch schneller genommen, was kaum eine Poesie zulässt. Der Flügel klingt auf diesen RCA-Scheiben sehr präsent, jedoch auch sehr knallig. Einen viel besseren Eindruck hinterlässt die CBS-Studio-Aufnahme von 1963. Horowitz nimmt sich nun etwas mehr Zeit, was eine bessere Artikulation zulässt. Im B-Teil ist der ständige Harmonie-Wechsel gut zu verfolgen. Guter Klang.

 

Svjatoslav Richter

 

Zwei Aufnahmen mit Richter stehen mir vom h-Moll Scherzo zur Verfügung. 1965 spielte er in Budapest alle 4 Scherzi hintereinander, das ungarische Label BMC Records hat sie inmitten einer 14 CD-Box herausgegeben. Richter gestaltet Chopins Notentext: im A-Abschnitt geht er con fuoco zur Sache, überspielt aber nicht die ritenuto-Takte, er nutzt sie zum Atemholen, dabei vergisst er auch nicht Chopins p-Wünsche. Im H-Dur-Mittelteil führt Richter den Hörer in eine ganz andere musikalische Welt, zart und voller Poesie gespielt. Der Klang des Mitschnitts ist trocken und etwas entfernt. Die zwölf Jahre später erfolgte Studio-Einspielung für Eurodisc ist vom gleichen Kaliber, bietet jedoch einen besseren Klang.

 

 

eingestellt am 01.06.05

letzte Ergänzung am 04.07.22

 

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