Das Klassik-Prisma |
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Bernd
Stremmel |
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1. Ballade g-Moll op. 23
Frederic Chopin war der Schöpfer der Ballade für Klavier, Musikforscher vermuten, dass er sich bei seinen vier Beiträgen auf Gedichte von A. Mickiewicz bezog, ohne dass konkrete Hinweise nachgewiesen sind.
Die erste Ballade ist dreiteilig wie ein Sonatensatz mit langsamer Einleitung, ausgedehntem Hauptteil und abschließendem Finale angelegt. Der Hauptteil gliedert sich wiederum in drei Teile nach der häufig gebräuchlichen A-B-A‘-Form. In Abschnitt A verarbeitet Chopin zwei Themen, die in der Wiederholung A‘ ausgetauscht sind (Bogenform). Die Ballade wird mit einem Finale, Presto con fuoco, wirkungsvoll beschlossen. Unter allen vier Balladen Chopins erfreut sich die erste sowohl beim Publikum als auch bei Interpreten größter Beliebtheit. Für letztere bedeutet sie eine immense technische wie auch musikalische Herausforderung, Chopins 1. Ballade gilt als eine der schwersten Werke der gesamten Klavierliteratur.
Einige Pianisten verbinden das kurze Largo mit dem Moderato des 1. Themas, indem sie den letzte Ton solange aushalten, bis das tiefe d des Themas erklingt (Cortot, Backhaus, Horowitz und Gulda). Gililov entgegen fügt hier eine kleine, nicht vorgesehene Pause ein. Den vielen Sechzehntel und Sechzehntelsextolen im T. 33 sollte nicht zu viel Aufmerksamkeit geschenkt werden, wie eine Arabeske klingt die Stelle z. B. bei Zimerman, Arrau, Casadesus, Moravec, Duchable, Gilels, El Bacha. Wie ein ausdrucksvolles Schaustück spielen es Rubinstein, Horowitz und Gililov, während Glemser fast neutral darüber hinweggeht. Im B-Teil hat Chopin ab den Takten 138 scherzando vermerkt, meist wird dies übersehen oder für wenig gravierend gehalten. Einige Pianisten folgen jedoch den Intentionen des Komponisten und spielen hier recht locker oder duftig, zuerst ist hier Svjatoslav Richter zu nennen, aber auch Gavrilov, Ousset, Grimaud und Freddy Kempf. Erwähnt sei noch, dass der Komponist die Fortspinnung des 2. Themas ab T. 184 weiterhin f gespielt wissen wollte, er vermerkt dies dort extra. Viele Spielerinnen und Spieler jedoch setzen bereits hier, im Blick auf das 1. Thema im pp ab T. 194, ein Diminuendo an und werden leiser.
Noch ein Hinweis: auch hier
ist kein Ranking innerhalb einer Kategorie beabsichtigt, die Interpretationen
sind jeweils unterschiedlich, jedoch ziemlich gleichwertig.
Gilels |
DGG History |
1939 |
8‘14 |
5 |
Gilels erzählt Chopins Ballade, con gran espressione, zwingend, leider nur historischer Klang |
Benedetti Michelangeli |
Testament |
1957 |
8‘33 |
5 |
live London, ▼ |
Casadesus |
CBS Sony |
1960 |
7‘44 |
5 |
Alternative zu den meisten anderen Interpretationen, mit viel Licht, Charme und wenig Dämonie und Düsternis |
|
|||||
Argerich |
DGG |
1959 |
8‘25 |
4-5 |
RIAS-Aufnahme, M. Argerich als 18-Jährige, insgesamt locker, fast spielerischer Umgang mit dem musikalischen Material, A. erzählt die Ballade, rasantes Finale |
Benedetti Michelangeli |
DGG |
1971 |
9‘09 |
4-5 |
▼ |
Zimerman |
DGG |
1987 |
9‘28 |
4-5 |
persönliche Note, Tempomodifikationen auf kleinstem Raum, Spannung – Entspannung, Zimerman hat kein Interesse, seine Technik zu präsentieren |
Gilels |
Melodya-BMG |
1965 |
7‘53 |
4-5 |
live, Publikumsgeräusche, im Ansatz wie früher, einige Stellen, z. B. Finale nicht mehr ganz so zwingend; schade, dass kein besseres Instrument zur Verfügung stand |
Cortot |
EMI Andromeda |
1933 |
8‘35 |
4-5 |
▼ |
Horowitz |
CBS Sony |
1965 |
8‘36 |
4-5 |
live, ▼ |
Horowitz |
RCA |
1947 |
8‘47 |
4-5 |
▼ |
Anda |
EMI |
1956 |
9‘34 |
4-5 |
immer klar, ohne Pedalfett, Anda hält sich an Chopins Tempo- wie Dynamikvorgaben |
Duchable |
Erato |
1983 |
8‘47 |
4-5 |
im Erzählton, balladesk, in großen Bögen, animato |
Pollini |
DGG |
1999 |
8‘23 |
4-5 |
opulenter Klavierklang, zieht den Bassbereich mehr ins musikalische Geschehen, überzeugende Gestaltung |
Arrau |
Membran |
1953 |
9‘14 |
4-5 |
▼ |
Moravec |
Supraphon |
1965 |
10‘05 |
4-5 |
live, Moravec nimmt sich viel Zeit, ohne ins Schleppen zu verfallen, vertraut auf die Spannkraft des musikalischen Materials, deutliche Vorschläge T. 288 f |
Rubinstein |
RCA |
1959 |
9‘16 |
4-5 |
heroischer Vortrag, sehr direkt, leidenschaftlich, in höchsten Lagen etwas Klirren |
Rubinstein |
BBCL |
1963 |
9‘09 |
4-5 |
live, ähnlich wie im Studio, im Finale jedoch weniger Passion |
Perahia |
CBS Sony |
1994 |
8‘45 |
4-5 |
locker und elegant, entfettet, kein Wühlen der Akkorde, Thema 1 weniger beschwert als üblich |
Richter |
Praga |
1960 |
8‘34 |
4-5 |
live, helles u. transparentes Klangbild, sehr unruhiges Publikum – kraftvolles Klavierspiel, jedoch ohne die Glut von Gilels |
Richter |
Melodya-BMG |
1963 |
8‘25 |
4-5 |
live, etwas eingeengtes Klangbild, ruhiges Publikum – interpretatorisch wie 1960 |
El Bacha |
Forlane |
1998 |
8‘39 |
4-5 |
sehr sauberes Musizieren, ausdrucksvolles Klavierspiel ohne persönliche „Zutaten" |
Katz |
Oehms |
2011 |
9‘30 |
4-5 |
träumerisches 2. Th., Spannung-Entspannung, lyrische und dramatische Abschnitte in ausgewogenem Verhältnis |
Gulda |
Decca Philips |
1954 |
7‘51 |
4-5 |
con molto animato, agitato bereits T. 36 |
Ousset |
EMI |
1986 |
8‘04 |
4-5 |
kraftvoll, animato, das Lyrische bleibt nicht unterbelichtet |
Tiberghien |
HMF |
2006 |
9‘30 |
4-5 |
in der Casadesus-Nachfolge, etwas gelassenere Tempi |
|
|||||
Kissin |
RCA |
1998 |
9‘43 |
4 |
ohne Horowitz‘ Fieber und Erzählkunst, sonst auf sehr hohem Niveau |
Janis |
RCA Philips |
1952 |
9‘23 |
4 |
1. Th. immer sehr gewichtig, Einzelabschnitte haben Vorrang vor dem Ganzen, kraftvolles und differenziertes Klavierspiel |
Cortot |
EMI Naxos |
1929 |
8‘42 |
4 |
▼ |
Francois |
EMI |
1954 |
7‘43 |
4 |
emotional besetzte Interpretation, oft sehr schnell, rhapsodisch |
Magaloff |
Philips |
1974 |
9‘26 |
4 |
in großen Bögen, kraftvoll, gewichtig, Ballade als Drama |
Backhaus |
Decca Ermitage |
1950-52 |
8‘18 |
4 |
mit kühlem Kopf, objektive Darstellung, dichtes Klangbild, etwas stumpf |
Benedetti Michelangeli |
aura |
1967 |
8‘27 |
4 |
live Brescia, ▼ |
Benedetti Michelangeli |
aura |
1985 |
10‘30 |
4 |
live Bregenz, ▼ |
Pollini |
EMI |
1968 |
8‘54 |
4 |
gibt sich ganz der Musik hin, nicht so streng wie später, etwas rhapsodisch |
Tipo |
aura |
1979 |
8‘39 |
4 |
live, erzählend, mit viel Gespür für das Lyrische |
Ashkenazy |
Decca |
1964 |
8‘47 |
4 |
1. Thema anfangs ganz zärtlich, insgesamt scheinen A. die lyrisch geprägten Abschnitte wichtiger zu sein, appassionato-Stelle T. 206 f etwas zerpflückt |
Ashkenazy |
Decca |
1983 |
9‘41 |
4 |
etwas langsamer als früher bei ähnlicher Interpretationshaltung |
Anievas |
EMI |
1975 |
8‘11 |
4 |
gut, ohne Lob und ohne Tadel |
Zitterbart |
Tacet |
1991/92 |
8‘36 |
4 |
schnörkellos, klar, Blick nach vorn, weniger Raum für das Lyrische |
Kempf, Freddy |
BIS |
2000 |
8‘21 |
4 |
kraftvoll, jedoch ohne persönliche Note |
Glemser |
Oehms |
2009 |
8‘59 |
4 |
(viel) Leidenschaft, aber auch die lyrischen Partien kommen nicht zu kurz |
Arrau |
M&A |
1938 |
8‘23 |
4 |
Aufnahme RRG Stuttgart |
Arrau |
Philips |
1977 |
9‘11 |
4 |
▼ |
Hough |
hyperion |
2003 |
9‘07 |
4 |
lässt sich viel Zeit, nicht überhitzt, objektiv |
Gililov |
Aulos |
1982 |
9‘17 |
4 |
im 1. Teil etwas neutral |
Gawrilow |
EMI |
1984 |
8‘45 |
4 |
in schnellen Passagen etwas ungezügelt |
Ax |
RCA |
1985 |
9‘52 |
4 |
tadellos, Ax schenkt den lyrischen Partien mehr Aufmerksamkeit |
Demidenko |
hyperion |
1993 |
9‘01 |
4 |
sehr fließend und locker, keine schwere Akkordarbeit, leichtgewichtig |
Vasary |
DGG |
1965 |
9‘20 |
4 |
lässt sich Zeit, lyrische Sichtweise überwiegt |
Grimaud |
Brilliant |
1987 |
8‘19 |
4 |
schwergewichtig, eher eine Demonstration der technischen Möglichkeiten der Solistin als echte Hingabe an die Musik |
Vladar |
HMF |
2002 |
9‘18 |
4 |
technisch bestens bewältigt, jedoch etwas trocken, nüchtern |
|
|||||
Wild |
Chesky |
1990 |
8‘32 |
3-4 |
eher ein Pflichtstück als eine Herzensangelegenheit |
Katsaris |
Teldec |
1983 |
8‘58 |
3-4 |
Katsaris scheint alles gleich wichtig zu sein |
Harasiewicz |
Philips |
P 1959 |
7‘56 |
3-4 |
vorwärts!, musikantischer Zugriff, geringe Lautstärkedifferenzierung |
Davidovich |
Philips Brilliant |
1981 |
7‘51 |
3-4 |
T. 93 nicht als Einheit artikuliert, kein Presto con fuoco, mehr Einzelteile als ein Ganzes |
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|||||
Scheps |
Sony |
2009 |
10‘27 |
3 |
beim beginnenden Moderato (1. Th.) meint man noch in der E zu sein, 2. Th. sehr zögerlich angegangen, als wolle die Solistin die Möglichkeiten erst einmal ausloten, beim Scherzando im „normalen" Tempo; sicher eine sehr persönliche Lesart, das Stück zerfällt jedoch in Einzelabschnitte |
Hinweise zu Interpreten und Interpretationen:
Die musikalischen Wurzeln von Alfred Cortot, Wladimir Horowitz, Wilhelm Backhaus und Artur Rubinstein reichen noch bis ins 19. Jahrhundert zurück, das Ausdruckspotential einer Komposition zu erforschen und dem Hörer darzubieten, ist den beiden erstgenannten wichtiger als die reine Erfüllung des Notentextes, dieser ist nur die Vorlage für kreatives Gestalten. Vor allem trifft dies auf Alfred Cortot zu, er gestaltet Chopins 1. Ballade in großen Bögen, dabei erlaubt er sich im agogischen und dynamischen Sinn einen freien Umgang mit der Notenvorlage, ohne diese jedoch zu verbiegen. Aufgrund seiner ausgeprägten Musikalität versteht er sich darauf,Spannung und Entspannung gut zu dosieren. Bei sehr schnellen intensiv gestalteten Passagen verleitet ihn sein Temperament auch zum Hetzen, dabei sind falsche Noten nicht ausgeschlossen, in Studio-Einspielungen jedoch eher selten. Auch kann es vorkommen, dass beide Hände in solchen Augenblicken nicht immer kongruent spielen. Zu Lebzeiten rühmten Zuhörer aber auch Musiker-Kollegen immer wieder Cortots meist überzeugende subjektive Art der Darstellung, die sie akademisch genaueren Darbietungen vorzogen. Die Zeiten haben sich gewandelt, heute erlaubt sich fast keine Pianistin, kein Pianist ein freies, persönliches, den Notentext nur als Blaupause zu verwendendes Klavierspiel. Pletnjew hat es versucht, jedoch gerieten seine Interpretationen m. E. zu manieriert. Die beiden hier vorliegenden Einspielungen Cortots unterscheiden sich interpretatorisch nur wenig, die jüngere klingt etwas deutlicher und noch zwingender (z. B. 1. Thema T. 194 ff.), die ältere enthält einige undeutliche Takte.
Wladimir Horowitz
Die beiden Aufnahmen mit Horowitz entstanden in einem Abstand von 18 Jahren. In den 60er-Jahren begann sich der Klang seines Klavierspiels etwas zu verbreitern, hier und da aufzublähen, was man auch beim Hören der beiden Interpretationen feststellen kann. Davon abgesehen ist der russisch-amerikanische Pianist ein profunder Anwalt der g-Moll-Ballade: er versteht es Spannung aufzubauen, zu halten und wieder zu lösen. Die linke Hand hat dabei einen wichtigen, die Musik belebenden, Anteil. Ich werde jedoch den Eindruck nicht ganz los, dass gerade diese Ballade dem Pianisten auch der Demonstration des eigenen technischen und musikalischen Standards diente, heute würde man sagen: Horowitz – der Hyperkünstler. Ein bisschen Schauspielerei, Hexerei, begleitete sein Spiel, gerade vor Publikum, als Beispiel sollen in der 2. Aufnahme die Takte 238-241 im Finale dienen, wo die Musik in eine donnernde Hölle undefinierter Noten abstürzt. Das ist aufgesetzt, äußerlich, im Gegensatz zu Arrau oder Gilels, die ihre Herangehensweise konsequent aus dem Notentext entwickeln.
Claudio Arrau
Von Arrau liegen drei verschiedene Aufnahmen aus unterschiedlichen Lebensabschnitten vor, die älteste stammt noch aus seiner Zeit in Deutschland, sie wurde für den Reichssender Stuttgart eingespielt. Aus allen Interpretationen spricht ein poetischer Zugang zu Chopins Ballade, auch die vielen ff-Passagen werden aus dem musikalischen Umfeld entwickelt und dienen nie der Zurschaustellung, diese Einstellung war Arrau fremd. Die gültigste seiner Aufnahmen mit der größten Innenspannung wurde 1953 wahrscheinlich für Columbia in den USA gemacht, hier Membran. Die Stuttgarter Aufnahme von 1938 ist zwar schneller, besitzt jedoch ein etwas dumpfes Klangbild. Die späte Philips-Platte verfügt zwar das beste Klangbild, klingt jedoch ein wenig zahmer, besonders auch im abschließenden Finale.
Arturo Benedetti Michelangeli
Vom italienischen Meisterpianisten stehen vier Aufnahmen in meiner Sammlung. Die älteste davon ist ein Mitschnitt eines Londoner Konzerts aus dem Jahre 1957, der jedoch erst 40 Jahre später vom Label Testament dem Plattensammler zugänglich gemacht wurde. In diesem Konzert spielt ABM wie mit leichter Hand, jedoch nicht leichtgewichtig, lebendig und molto animato. Die DGG-Aufnahme ist ihr ähnlich, ohne sie jedoch zu erreichen, da er hier etwas (zu) deutlich, absichtsvoll, spielt. Die Harmoniewechsel kommen gut heraus und der Hörer kann sich an den klaren filigranen Spielfiguren erfreuen. Das ABMs ff-Akkordfolgen kräftig aber ohne Gedonner vorüberziehen, sei nur am Rande vermerkt. Der Mitschnitt aus Brescia von 1967 erinnert an die Londoner Aufnahme, auch hier spielt der Pianist etwas freier als im Studio. Die Oberstimmen sind hier herausgehoben, insgesamt besitzt das Tondokument einen sehr hellen Klang, der Flügel klingt metallisch, manchmal mit einem leichten Klirren im Diskant „verziert". Auch in seiner letzten Aufnahme ist der Flügel zu beanstanden, dessen Töne recht blechern aus den Lautsprechern kommen, eigentlich verwunderlich, da der Meister doch mit seinem eigenen Instrument zu den Konzertsälen reiste. Oder hatte der Tonmeister eine ungünstige Mikrophoneinstellung gewählt? Auch das Klangbild ist nicht immer hinreichend transparent. ABM spielt hier in Bregenz langsamer, nachdenklicher, insgesamt jedoch klingt auch hier die Ballade immer noch überzeugend. Dem Interessenten empfehle ich jedoch dringend den Londoner-Mitschnitt bei Testament, enthält er doch auch weitere ABM-Trümpfe: Chopins Fantasie op.49 sowie Schumanns Carnaval und Ein Faschingsschwank aus Wien.
eingestellt 15. 01. 2013