Das Klassik-Prisma

 

 Bernd Stremmel

www.klassik-prisma.de

Diese Webseite ist urheberrechtlich geschützt.

 

 

Mahler        home

 

Gustav Mahler

Das Lied von der Erde

 

Symphonie für eine Alt- und eine Tenorstimme und großes Orchester

1.      Das Trinklied vom Jammer der Erde

2.      Der Einsame im Herbst

3.      Von der Jugend

4.      Von der Schönheit

5.      Der Trunkene im Frühling

6.      Der Abschied

 

Das „Lied von der Erde“ entstand im Anschluss an seine 8. Sinfonie Es-Dur im Jahre 1908 im Südtiroler Kurort Toblach, wo sich Mahler in diesen Jahren mit Familie während des Sommerurlaubs zurückzog, jedoch weniger „urlaubte“ als die Zeit zur Komposition eines neuen Werkes zu nutzen. Für Mahler war es eine Zeit privater Schicksalsschläge: Der Tod seiner ältesten Tochter, die erzwungene Demission vom Posten des Wiener Hofoperndirektors, sowie die Diagnose einer lebensbedrohenden Herzkrankheit. Die Textvorlagen, die seiner neuen Komposition zugrunde liegen, entstammen einer Gedichtsammlung von Hans Bethge, „Die chinesische Flöte“ genannt, die dieser wiederum aus chinesischen Gedichten aus der Tang-Zeit entnahm, die im 19. Jahrhundert ins Französische und Anfang des 20. Jahrhunderts weiter ins Deutsche übersetzt wurden. Man könnte also von Texten aus dritter Hand sprechen, die Mahler an einigen Stellen zusätzlich bearbeitete. „Das Lied von der Erde“ wurde im folgenden Jahr vollendet, aber erst 1911 durch Bruno Walter in München zur Uraufführung gebracht.

Über das formale Konzept des Werkes und seiner 6 Sätze ist viel und kontrovers geschrieben worden. Mahler selbst gab den Hinweis mit seiner Bezeichnung „Symphonie für Tenor, Alt und großes Orchester“, dass es in die Reihe seiner bisherigen Sinfonien einzureihen sei. Viele Musikologen durchleuchteten die Partitur, kamen aber zu keiner eindeutigen Zuordnung. Handelt es sich um einen Orchester-Lieder-Zyklus oder um eine Symphonie, wie der Untertitel andeutet. Die Fachleute wiesen bestimmte Abschnitte der Musik der Sonatenform zu, vor allem im Kopfsatz und dem ausgedehnten Finale, das die Hälfte der kompletten Sinfonie ausmacht. Die folgende 9. Sinfonie D-Dur steht in ihrer Struktur einer Sinfonie mit Sonatenform eindeutig näher, auch wenn man berücksichtigt, dass diese in der Romantik und Spätromantik individuell weiterentwickelt oder ausgeweitet wurde. Der Mahler-Forscher Jens Malte Fischer äußert sich folgendermaßen: „Ein Geheimnis der ungewöhnlichen Wirkung des Werkes liegt in der Coincidentia oppositorum, der Vereinigung des eigentlich Unvereinbaren, Lied und Symphonie.“ Für ihn ist es der Schlusssatz, der „gewissermaßen mit einem Ruck das Ganze auf das Niveau der großen Symphonietradition [reißt] … Dieser Schlusssatz … stellt sich den größten seiner Adagios an die Seite, übertrifft sie noch durch die Erzielung der gleichen Wirkung mit sehr viel sparsameren Mitteln“ (J. M. Fischer: Gustav Mahler, Wien 2003, S. 695).

Wenden wir uns noch den SängerInnen zu. An den Tenorsolisten werden höchste Ansprüche in Bezug auf Stimm- und Gestaltungskraft gestellt. Vor allem die exponierten Töne in der Höhe stellen eine ständige Herausforderung an seine Stimmbänder dar. Leider sind dem viele der in meiner Übersicht aufgeführten Sänger nicht immer oder kaum gewachsen. Vor diesem Hintergrund ist die niedrige Einordnung mancher gelobten Aufnahme zu verstehen. Die Alt-(oder) Mezzosopranstimme – Mahler hat auch stattdessen einen Bariton „erlaubt“ – ist für die Lieder mit überwiegend lyrischem Charakter zuständig, Stellen mit extremer Höhe sind eher selten. Leider ist durchaus Unzulängliches zu beobachten, ich denke an die vielen Vokalverfärbungen, die die Textverständlichkeit herabsetzen (z. B. Kathleen Ferrier). In die gleiche Richtung geht ein fast ständiger Einsatz des Vibratos, das mir manche Aufnahme verleidet.

Mahlers Orchester spielt in großer Besetzung auf, mit dreifachem Holz und zusätzlichem Englischhorn, Bassklarinette und Kontrafagott. Bei den Blechbläsern bleibt Mahler bei dem Einsatz der aus der Romantik überlieferten Anzahl von 4 Hörnern, 3 Trompeten, 3 Posaunen und Basstuba. Das Schlagwerk ist mit Glockenspiel, Celesta, Triangel, Becken, Tamtam, Tamburin, Pauken und großer Trommel reichhaltig besetzt. Diese Instrumente werden allerdings höchst sparsam eingesetzt. Eine herausragende Rolle jedoch spielen 2 Harfen, die dem jeweiligen Satz eine charakteristische Stimmung und Färbung verleihen. Trotz der großen Anzahl der Instrumente wirkt die Musik an den meisten Stellen nicht überladen, da alle nur an wenigen Stellen zum Einsatz kommen. Viele Abschnitte begegnen dem Hörer mit kammermusikalischer Zartheit, besonders im „Abschied“.

Zuletzt sei noch erwähnt, dass die Stimmung im letzten Satz der 9. Sinfonie von einem Doppelschlagmotiv geprägt wird, das bereits an zwei Stellen im LvdE anklingt: 1. Satz T. 79-81 sowie T. 134-145 und noch prägnanter im 6. Satz T. 87/88. Es scheint, dass dieses den Komponisten wohl schon früher beschäftigt hat.

Trotz der genannten Schwierigkeiten ist das LvdE häufig im Konzertsaal anzutreffen. Die Diskographie ist im Laufe der Jahre stetig angewachsen und hat inzwischen die 100 überschritten, die meisten als Konzertmitschnitte. Ich habe mich in diesem Vergleich auf 30 beschränkt.

 

 

5

Fritz Reiner

Richard Lewis, T, Maureen Forrester, M

Chicago Symphony Orchestra

RCA

1959

62‘34

 

Reiner konnte als junger Student Mahler in der Oper und auf dem Konzertpodium erleben, das prägte den angehenden Kapellmeister; bekannt ist die Traditionskette von Mahler zu Walter sowie zu Klemperer, Fritz Reiner sollte man dabei nicht vergessen; beste Orchesterführung, klares Musizieren, sehr gute Transparenz; Lewis mit schlanker Stimme, leider kein idiomatisches Deutsch, Forresters Stimme mit schlankem Vibrato, stellenweise auch etwas wattiert

5

Hans Rosbaud

Ernst Haefliger, T, Grace Hoffman, M

Kölner-Rundfunk-Sinfonie-Orchester

Tahra     Andromeda

1955

61‘45

 

live, Solisten und Rosbaud im besten Einvernehmen, Dirigent geht den Verästelungen der Partitur nach, inspiriert, scharfe Farbwechsel, klangvoller Espressivo-Stil, ansteckende Spielfreude; Haefliger zeigt engagiertes Singen, stößt aber in der Höhe an seine Grenzen, Hoffman mit guter Textverständlichkeit, engagiert und ausdrucksstark – Orchester in Lied 5 stellenweise zu laut

5

Pierre Boulez

Michael Schade, T, Violeta Urmana, M

Wiener Philharmoniker

DGG

1999

60‘19

 

Boulez reinigt die Partitur, immer durchsichtig, musikalisches Geschehen läuft wie ein Uhrwerk ab, ohne Impulse von außen; Schade mit hellem Tenor, muss sich die Höhe bei exponierten Stellen erkämpfen, insgesamt klar, gute Textverständlichkeit, Urmanas Vibrato hält sich in Grenzen, auch hier gute Textverständlichkeit

 

 

 

4-5

Otto Klemperer

Fritz Wunderlich, T, Christa Ludwig, M

Philharmonia and New Philharmonia Orchestra London

EMI

1964/66

63‘59

 

4-5

Bruno Walter

Charles Kullman, T, Kerstin Thorberg, M

Wiener Philharmoniker

EMI    Dutton

1936

57‘22

 

live, ▼

4-5

Bruno Walter

Julius Patzak, T, Kathleen Ferrier, A

Wiener Philharmoniker

Decca

1952

60‘16

 

4-5

Bruno Walter

Ernst Haefliger, T, Mildred Miller, M

New York Philharmonic Orchestra

CBS            Sony

1960

63‘13

 

4-5

Carl Schuricht

Carl Martin Öhmann, T, Kerstin Thorberg, M

Concertgebouw-orchester Amsterdam

Rundfunkmitschnitt Archiphon    Membran

1939

62‘19

 

live, ▼

4-5

Rafael Kubelik

Waldemar Kmentt, T, Janet Baker, A

Symphonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks

BR Mitschnitt     audite

1970

62‘03

 

live, Ergänzung zum DGG-Zyklus der Sinfonien, engagiertes Musizieren, Kmentt muss sich die Höhe abringen oder wechselt in die Kopfstimme, Baker mit ausgeglichener heller Stimme, gute Textverständlichkeit, auch dann noch, wenn sie Vibrato einsetzt, eine der besten in dieser Rolle

4-5

Carlos Kleiber

Waldemar Kmentt, T, Christa Ludwig, M

Wiener Symphoniker

Eigenlabel des Orchesters

1967

58‘07

 

live, m. W. die einzige Mahler-Aufnahme des Dirigenten, Kleiber gestaltet die Musik, stellenweise hochdramatisch, Kmentt mit etwas mehr Einsatz und besserer Höhe als bei Kubelik, Ludwig mit hohem Engagement, leider Dauer-Vibrato und Tonverfärbungen, herabgesetzte Textverständlichkeit

4-5

Paul Kletzki

Set Svanholm, T, Oralia Dominguez, A

Wiener Symphoniker

Orfeo

1954

58‘16

 

live, Aufnahme mit den überzeugendsten Solisten: Svanholm mit ziemlich sicherer Höhe, weniger angestrengtes Singen, in Lied 1 bei T. 171 singt er bei „Rei- von „Reiche“ ein ges statt das verlangte es und hebt so die erste Silbe hervor, in Lied 5 einige Lautverfärbungen; Dominguez helle Stimme kommt klarer aus den Lautsprechern, jedoch auch bei ihr einige Lautverfärbungen, im letzten Lied Singen in gelöstem Tonfall; Orchester in Lied 4 stellenweise burschikos, bei Kletzki ist das LvdE in besten Händen

4-5

Colin Davis

Jon Vickers, T, Jessey Norman, M

London Symphony Orchestra

Philips

1981

69‘15

 

Colin Davis geht mit Umsicht ans Werk, an Vickers Stimme muss sich der Hörer erst gewöhnen, kein idiomatisches Deutsch, mit klanglicher Wucht, kämpferisch, spontan, Lied 3 sehr schnell; Norman lässt sich in allen Liedern mehr Zeit als andere Sängerinnen, ausgenommen bei Lied 4 Ziff. 14 „Das Roß …“, Lied 6: eindringliche E, sowohl Orchester als auch Norman mit großer Intensität, spannungsvoller Instrumentalabschnitt T. 288-373

4-5

Michael Gielen

Siegfried Jerusalem, T, Cornelia Kallisch, M

SWF Sinfonie-Orchester Baden-Baden und Freiburg

hänssler

1992/Jerusalem-2001/Kallisch

63‘26

 

Gielen pflegt ein überwiegend schlankes und ausgeglichenes Musizieren, weniger Auftrumpfen, geschmeidiger Vortrag, ohne alles umarmender Weltschmerz; Jerusalem setzt seine Heldentenorstimme behutsam ein, nicht immer höhensicher, Kallisch verzichtet auf emotionsgeladenen Vortrag, in Lied 4 bei der bewegten Stelle nach Ziff. 14 nicht immer deutlich

4-5

Carlo Maria Giulini

Francisco Araiza, T, Brigitte Fassbaender, M

Wiener Philharmoniker

Orfeo

1987

64‘10

 

 

live, ▼

 

4-5

Carlo Maria Giulini

Francisco Araiza, T, Brigitte Fassbaender, M

Berliner Philharmoniker

DGG

1984

64‘10

 

 

 

4-5

Gary Bertini

Ben Heppner, T, Marjana Lipovsek, M

Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester

EMI

1991

61‘47

 

 

live, Heppner mit großer strapazierfähiger Stimme, heller Klang, gute Textverständlichkeit, einer der besten hier versammelten Tenöre; Lipovsek mit ausladender Stimme, viel Druck, nicht immer mit bester Textverständlichkeit, ausdrucksvoller Gesang nach Ziff. 48 in Lied 6 bis zum Satzende – Bertini achtet auf einen hellen Orchesterklang mit guter Transparenz

 

4-5

Leonard Bernstein

René Kollo, T, Christa Ludwig, M

Israel Philharmonic Orchestra

CBS      Sony

1972

63‘32

 

 

live, Kollo ein Gewinn als Tenorsolist, mit schlanker Stimme und guter Höhe; Ludwig mit viel Vibrato, besonders in Lied 4, manchmal gekünstelter Gesang, je lauter, desto unverständlicher der Vortrag; am besten gelingt der „Abschied“, der eine große Ruhe ausstrahlt; das ist auch das Verdienst von Bernstein, der mit einem detailreichen und einfühlsamen Orchesterspiel viel zum Erfolg dieser Aufnahme beiträgt

 

 

 

 

 

4

Otto Klemperer

Anton Dermota, T, Elsa Cavelti, A

Wiener Symphoniker

Vox           Intercord         Tuxedo

1951

52‘26

 

 

 

4

Kurt Sanderling

Peter Schreier, T, Birgit Finnilä, A

Berliner Sinfonie-Orchester

Eterna        Berlin Classics

1983

61‘52

 

 

wie bei den meisten Aufnahmen kann man auch hier ein Gefälle zwischen den beiden Solisten ausmachen. Peter Schreiers helle und schlanke Stimme passt zwar gut zu Mahlers Musik, in der Höhe klingt sie jedoch angestrengt und in der Diktion hier und da affektiert. Birgit Finnilä überzeugt mit ihren eindringlichen Vorträgen. Beim LvdE spürt man Sanderlings Mahler-Erfahrung.

 

4

Jascha Horenstein

John Mitchinson, T, Alfreda Hodgson, A

BBC Northern Orchestra

Descant

1972

69‘04

 

 

überwiegend langsamere Tempi als üblich, Mitchinsons Stimme etwas eingedunkelt, schwer und teilweise auch etwas heldisch, Hodgson nicht immer wünschenswert klar und deutlich, oft (zu) viel Vibrato, herabgesetzte Textverständlichkeit, VI lastend, schleppend, viel Vibrato, Orchester deckt Hodgson zu – Klangbild ein wenig entfernt

 

4

Eugen Jochum

Ernst Haefliger, T, Nan Marriman, M

Concertgebouw Orchester Amsterdam

DGG

1963

58‘06

 

 

Haefliger engagiert, jedoch mit angestrengter Höhe, Lied 3 zu schnell, „Das Roß …. Nüstern“ herabgesetzte Textverständlichkeit, nur die große Linie; Marriman mit Hingabe, breite Ausdrucksskala; Jochum pflegt eher ein sachliches Musizieren, die Flatterzunge der Flöten in T. 285-289 kommt nicht heraus

 

4

Georg Solti

Thomas Moser, T, Marjana Lipovsek, M

Concertgebouw Orchester Amsterdam

Decca

1992

62‘39

 

 

live, Solti mit viel Glut am Pult, hebt in VI bei „Silberbarke“ die Klarinetten vorteilhaft heraus; Moser muss sich die hohen Töne erkämpfen; Lipovsek im Vergleich mit hellerer und leichter geführter Stimme, jedoch auch mit Vibrato, besonders in tiefer Lage, dann herabgesetzte Textverständlichkeit, VI Orchester deckt T. 213-218 die Sängerin zu

 

 

 

 

 

3-4

Eugene Ormandy

Richard Lewis, T, Lili Chookasian, M

Philadelphia Orchestra

CBS    Sony

1966

58‘21

 

 

Im Gegensatz zu fast allen mir bekannten Aufnahmen scheint Ormandy seinem Orchester den wichtigsten Part in dieser Produktion zuzuteilen, das mit üppiger Klangpracht aufwartet (in IV T. 70 ff. wildes, fast rasendes Orchester). Die beiden Solisten haben hier das Nachsehen. Lewis mit etwas besserer Aussprache als bei Reiner, sein Gesang ist jedoch zerstückelt, man vermisst die Bögen. Bei Chookasians Singen stört das Dauervibrato (s. Ludwig), das für eine geminderte Textverständlichkeit verantwortlich ist. Leider werden die Sänger hier und da vom Orchester überdeckt.

 

3-4

Yannick Nézet-Séguin

Toby Spence, T, Sarah Connoly, M

London Philharmonic Orchestra

LPO live

2011

63‘38

 

 

live, Spence muss sich die Höhe erkämpfen, Stimme wenig variabel, viele Stellen könnten mehr p vertragen, Connolys Dauervibrato schränkt die Textverständlichkeit deutlich ein, Lied 4 Ziff. 14-16 zu gehetzt, Text?, Lied 6 Spannung nicht immer top; Nézet-Séguin bei lauten Tuttiabschnitten etwas grob

 

 

        Interpretationen mit Bariton (statt Alt), Tenor und Orchester

 

 

5

Simon Rattle

Peter Seiffert, T, Thomas Hampson, B

City of Birmingham Symphony Orchestra

EMI

1995

63‘13

 

 

Rattle mit hoher Affinität zu Mahlers „Lied“, Stimmführungen deutlich nachgezeichnet, gute Transparenz, bestes Miteinander zu den Sängern, gute dynamische Gestaltung; Seiffert ohne heldentenoralen Einschlag, trifft aber die Stimmung, meistens lockerer Vortrag, Hampson mit ziemlich natürlichem Vortrag ohne Übertreibungen, entspannt – insgesamt klangschöne Aufnahme

 

 

 

 

 

4-5

Paul Kletzki

Murray Dickie, T, Dietrich Fischer-Dieskau, B

Philharmonia Orchestra London

EMI

1959

61‘07

 

 

Kletzki mit hoher Affinität zu Mahlers Musik; Dickie mit angenehmer Stimme, weniger angestrengt, mehr entspannt; Fischer-Dieskaus erste seiner drei Bariton-Aufnahmen, kaum Forcieren und sich nach vorn schieben, kaum Manierismen

 

 

 

 

 

4

Josef Krips

Fritz Wunderlich, T, Dietrich Fischer-Dieskau, B

Wiener Symphoniker

DGG

1964

62‘47

 

 

live, Wunderlich mit viel Druck, stellenweise auch etwas rau, Fischer-Dieskau oft zu laut, zu gewollt im Ausdruck, z. B. in Lied 6 bei „Ich sehne mich…“

 

4

Kent Nagano

Klaus Florian Vogt, T, Christian Gerhaher, B

Orchestre Symphonique de Montréal

Sony

2009

61‘17

 

 

teilweise live, Nagano mit Feingefühl, moderater Zugriff, oft zurückhaltend, geringere Spannung, Orchester und Solisten oft nebeneinander als miteinander; Vogt zurückhaltend, schlanke Stimme, teilweise etwas steif und künstlich; Gerhaher mit hohem Bariton, leider immer wieder Vibrato, in Lied 4 bei Ziff. 14 schnell und wenig deutlich, insgesamt jedoch gepflegter Vortrag

 

 

 

 

 

3-4

Jonathan Nott

Roberto Saccà, T, Stephen Gadd, B

Bamberger Symphoniker

Tudor

2016

61‘11

 

 

Nott sorgt für ein farbiges Klangbild mit sehr guter Transparenz, die Dynamik reicht bis zum geforderten ppp, gutes Tempogefühl, stellenweise fast eine kammermusikalische Darbietung; bei den Solisten sieht es leider anders aus, hier sind deutliche Abstriche festzustellen: Saccà mit viel Vibrato, kein idiomatisches Deutsch, nicht immer textverständlich, hohe Töne gestemmt, immer wieder Drücker, man wünschte sich mehr Bögen; Gadd mit etwas besserer Textverständlichkeit, gemahnt an heldentenorale Stimme, weniger Vibrato wäre angemessener - schade

 

3-4

Leonard Bernstein

James King, T, Dietrich Fischer-Dieskau, B

Wiener Philharmoniker

Decca       DGG

1966

66‘40

 

 

Bernstein mit eigenwilliger Auslegung, stellenweise etwas grob, scharf und äußerlich, immer wieder Rubati, die Männerstimmen ähneln sich an einigen Stellen in ihrem Timbre, King stellenweise etwas steif, Fischer-Dieskau pointiert, teilweise sentimental, in Lied 6 ziemlich trocken, wenig Spannung

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Transkription für Kammerorchester von A. Schönberg und R. Riehn

 

 

Philippe Herreweghe

Hans Peter Blochwitz, T, Birgit Remmert, A

Ensemble Musique Oblique  

HMF

1993

62‘34

 

ohne Wertung

 

 

Hinweise zu Interpreten und Interpretationen

Bruno Walter

Außer Otto Klemperer gab es niemanden, der Gustav Mahler sehr nahegestanden hat. Bereits mit 18 Jahren wurde er Assistent Mahlers an der Hamburger Oper. Nach weiteren Stationen an verschiedenen Opernhäusern traf er erneut mit dem Komponisten zusammen, als er 1901 als Kapellmeister an der Wiener Hofoper verpflichtet wurde, deren Chef zu dieser Zeit Mahler war. Nach Mahlers frühem Tode 1911 besorgte Walter die Uraufführung der bedeutenden Spätwerke „Das Lied von der Erde“ 1911 in München und der 9. Sinfonie ein Jahr später in Wien. Walters spätere Schallplattenaufzeichnungen dieser Werke muss man als authentisch ansehen. Im Jahre 1936 dirigierte er in Wien „Das Lied von der Erde“, das von der englischen Columbia live mitgeschnitten und recht bald auf Schellackplatten veröffentlicht wurde. Solisten waren der amerikanische Tenor Charles Kullman sowie die schwedische Mezzosopranistin Kerstin Thorberg. Walter hat hier eine beeindruckende Interpretation hinterlassen, gleichzeitig auch die schnellste der bis jetzt bekannten. Nur unter Mühe gelingt es K. Thorberg im 4. Lied den Text klar und deutlich zu formulieren. Charles Kullmans Stimme trifft die deutsche Aussprache nicht immer ganz idiomatisch, das fällt besonders bei e-Lauten auf, die dann wie ä klingen. Insgesamt hat die Klangregie die Solisten etwas zurückgesetzt.

Nach dem 2. Weltkrieg kehrte der Dirigent mehrmals zu Konzerten nach Wien zurück. 1952 nahm die englische Decca mit Walter und den Philharmonikern „Das Lied von der Erde“ im Studio auf. Solisten waren jetzt der Wiener Tenor Julius Patzak sowie die englische Altistin Kathleen Ferrier. Walter bietet eine klare Diktion des Werkes, die Tempi sind nur ein wenig langsamer als früher. Patzak kann sein Wiener Idiom nicht ganz verbergen, was mich hier jedoch nicht stört. Nicht anfreunden kann ich mich jedoch mit Ferriers kehliger Stimme und der damit einhergehender Minderung der Textverständlichkeit, besonders bei kurzen Notenwerten. Dirigent und Sängerin standen in jenen Jahren in einer innigen künstlerischen Verbundenheit, die auch vom Publikum und der4 Fachpresse gewürdigt wurde. Ein eindrucksvolles Singen, trotz vieler Vokalverfärbungen, kann man ihr nicht absprechen. Der Klang der Decca-LP ist der früheren Aufnahme deutlich überlegen.

Eine dritte Aufnahme entstand 8 Jahre später, jetzt in Stereo, mit dem New York Philharmonic Orchestra. Das Orchester klingt in dieser Aufnahme heller als die WP, auch die Stimmführungen sind deutlicher zu vernehmen. Der 84-jährige Walter schlägt nun etwas langsamere Tempi an, sie werden von aktuellen Einspielungen jedoch noch übertroffen. Mildred Millers Mezzo klingt heller und bietet eine gute Textverständlichkeit. Das gleiche gilt auch für den schweizerischen Tenor Ernst Haefliger, der bei der hohen Lage des Tenorparts oft in die Kopfstimme wechseln muss.

Otto Klemperer

Otto Klemperers Londoner Studio-Produktion des „Lied von der Erde“ gilt seit Erscheinen der LP bis heute bei vielen Musikfreunden als das Nonplusultra der Interpretation dieses Werkes. Sie klingt wie aus einem Guss, obwohl die Aufnahmesituation Mitte der 1960er Jahre nicht das beste verhieß: Im Februar 1964 wurden einige Partien mit Christa Ludwig produziert, im November desselben Jahres die Tenorlieder mit Fitz Wunderlich. Danach löste der Produzent Walter Legge das Philharmonia Orchestra auf und entließ die Musikerinnen und Musiker, ohne dass die letzten Stücke „im Kasten“ waren. Dazu kam es erst im Juli 1966, als das New Philharmonia Orchestra London ins Leben gerufen wurde. Jetzt konnte die LP auf dem Plattenmarkt erscheinen. Klemperer gelingt es einen plastischen Klang mit dem alten und seinem Nachfolge-Orchester zu formen, glasklar, ohne dass die grellen Partien zu kurz kommen. Wunderlich singt sehr deutlich, wortverständlich, vorwiegend locker und, am besten, mit der erforderlichen Höhe. Ch. Ludwig, damals bei der EMI eine der Top-Künstlerinnen, kann jedoch mit ihrer gaumigen und verschatteten Stimme nicht mithalten. Eine Anteilnahme an den vertonten Texten kann man ihr nicht absprechen, jedoch ihre herabgesetzte Textverständlichkeit stellt sich gegen ihre künstlerischen Absichten. Das letzte Lied gelingt ihr zusammen mit Klemperer mit langem Atem und sehr ausdrucksvoll. Das reicht jedoch nicht für einen Platz auf der obersten Stufe meiner Bewertungsskala.

Nach seiner Rückkehr aus dem amerikanischen Exil trat Klemperer oft in Wien auf und nahm für das amerikanische Billiglabel Vox einige Schallplatten auf, die jedoch nicht in Mitteleuropa vertrieben wurden und nicht als Konkurrenz zu den hier eingespielten Kompositionen unter Leitung der etablierten Maestri (Furtwängler, Karajan, Jochum, Böhm, van Beinum …) wahrgenommen wurden, für Klemperer ein Ärgernis! Beim „Lied von der Erde“ wurde Klemperer vom Tenor Anton Dermota, der Altistin Elsa Cavelti sowie den Wiener Symphonikern begleitet. Dermotas Stimme ähnelt der von Wunderlich, verfügt jedoch nicht über dessen Metall und ist in der Höhe nicht so locker. Cavelti singt klarer als Christa Ludwig, mit weniger Vibrato, ihre Textverständlichkeit gelingt auch nicht immer nach Wunsch, am besten vielleicht im letzten Lied, das man hier in einem viel bewegteren Tempo hört wie kaum in einer anderen Aufnahme. Das Klangbild der Platte ist belegt und mit vielen dumpfen Hintergrundgeräuschen „verziert“.

Carl Schuricht

In seiner Anfangszeit als Generalmusikdirektor von Wiesbaden setzte sich Schuricht für das Schaffen von Gustav Mahler ein. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten nahm dies jedoch sein abruptes Ende. Schuricht blieb aber in Deutschland bis 1944, dirigierte auch im benachbarten Ausland, so im neutralen Holland, wo er bereits 1931 Konzerte mit dem Residenz Orchester Den Haag sowie dem Concertgebouw Orchester Amsterdam gab. Auch in den folgenden Jahren war er dort ein gerngesehener Gastdirigent, so z. B. am 05. Oktober 1939. Auf dem Programm stand nach einer Mozart-Sinfonie Mahlers „Lied von der Erde“. Die Solisten waren der schwedische Tenor Carl Martin Öhmann sowie die schwedische Altistin Kerstin Thorberg, die bereits drei Jahre zuvor den Part in Wien bei Bruno Walter gesungen hatte. Von diesem Konzert aus Amsterdam ist ein Rundfunkmitschnitt erhalten geblieben, der später auch den Weg zur LP/CD fand. Im letzten der 6 Lieder findet sich etwa in der Satzmitte ein längeres Zwischenspiel des Orchesters. Kurz bevor die Sängerin wieder einsetzt, kommt es zu einem Zwischenfall. Der Mahler-Forscher und Publizist Jens Malte Fischer äußert sich in einem Beitrag der Neuen Zürcher Zeitung so: Der Mitschnitt dieses von Carl Schuricht geleiteten Konzerts ist nun durch einen speziellen aussermusikalischen Akzent geprägt worden. Gegen Ende des Werks, am Schluss des «Abschieds», gibt es ein Orchesterzwischenspiel von grösster Intensität, bevor die Altistin mit «Er stieg vom Pferd» wieder einsetzt. In diesem Moment, in dem sich bei Takt 368 (zeitlich gesehen bei 19'30 in diesem sechsten Abschnitt) das Orchester auf ein Pianissimo reduziert, ertönt aus dem Zuschauerraum, deutlich hörbar auch für uns heute, der Einwurf einer Frauenstimme mit holländischem Akzent: «Deutschland über alles, Herr Schuricht». Danach hört man eine leichte Unruhe im Konzertsaal und den Ansatz eines zaghaften Pfiffes. (Quelle: Jens Malte Fischer in NNZ vom 30.08.2014) Die „Ruferin“ verließ den Saal und das Konzert wurde ohne weitere Störung bis zum Ende fortgesetzt.

Abgesehen von diesem Zwischenfall, der sicher als deutliche Kritik an Schuricht gemeint war, zähle ich diese Interpretation zu den besten auf dem Markt. Der Mahler-Kundige Schuricht hat das Orchester fest im Griff und führt es sicher durch die schwierige Partitur. Einen großen Anteil tragen auch die Altistin Thorberg mit einer Geschmeidigkeit in der Linienführung sowie der leichten Höhe und ihr Landsmann Öhmann mit seiner leicht ins Heldische gehender Tenorstimme. Leider ist die Aufnahme damals auf Acetatplatten gespeichert worden, die für ein permanentes Grundrumpeln und Knacken verantwortlich gemacht werden müssen. Das ist nichts für HiFi-Freaks.

 

Carlo Maria Giulini

Es wird kaum bestritten, dass der italienische Maestro einen der vorderen Plätze im Ranking der besten Dirigenten des „Liedes von der Erde“ einnimmt. Es gelingt ihm immer wieder den üppigen Mahler-Klang aufzufächern, für eine hinreichende Transparenz zu sorgen. Sein Musizieren ist immer eindringlich und kann betroffen machen. Wenn der Leser ihn jetzt nicht an der Spitze findet, sollte man nicht vergessen die anderen Mitwirkenden einzubeziehen, die entscheidend zum Gesamtbild einer Einspielung beitragen, also die Sänger. In den beiden hier genannten Interpretationen sind es der Tenor Francisco Araiza sowie die Mezzosopranistin Brigitte Fassbaender in beiden zur Diskussion gestellten Aufnahmen. Während der Tenor mit seiner hellen Stimme als Gewinn zu verbuchen ist, mit deutlichem Vortrag, guter Textverständlichkeit und nicht gequetschter Höhe, sehe ich Frau Fassbaenders Vortrag kritisch. An vielen Stellen stören mich ihr starkes Vibrato sowie Tonverfärbungen beim Verständnis des Textes. Das klingt dann doch zu gekünstelt, leider.

Die DGG-Aufnahme entstand unmittelbar nach Konzerten in der Berliner Philharmonie, die von Orfeo ist ein Mitschnitt von den Salzburger Festspielen drei Jahre später.

 

eingestellt am 27.02,24

 Mahler    home