Das Klassik-Prisma |
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Bernd
Stremmel |
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Felix Mendelssohn-Bartholdy
Streichquartett
a-Moll op. 13
Adagio,
Allegro vivace – Adagio non lento – Intermezzo: Allegretto con
molto, Allegro di molto – Presto, Adagio non lento
Das erste Streichquartett Mendelssohns,
das er als gültiges Werk dieser Gattung der Nachwelt übergeben hat, ist sein
Quartett a-Moll op. 13, nicht das heute als Nr. 1 gezählte Es-Dur-Quartett op.
12, welches zwei Jahre später komponiert wurde. Im a-Moll Quartett verarbeitet
der erst 18jährige Komponist seine Eindrücke von den letzten Quartetten
Beethovens, besonders dem a-Moll Quartett op.132 und dem F-Dur Quartett op.
135, die 1826/27 im Druck erschienen waren und damals als modernste und avancierteste Quartette galten. Allerdings wurden sie von
zeitgenössischen Komponisten als unverständliche Kompositionen des alten und
tauben Tonsetzers abgetan und kaum aufgeführt wurden. Der junge Mendelssohn
dagegen war von den Quartetten infiziert, je mehr er sich mit ihnen
beschäftigte. Mit Beethovens a-Moll Quartett hat das Mendelssohnsche
Pendant nicht nur die Tonart gemein, sondern der Jüngere übernahm auch
Kompositionstechniken des Älteren, z. B. die langsame Einleitung im Kopfsatz,
rezitativische Stellen der ersten Geige nach dem Höhepunkt im Satz 2 und
mehrmals in Satz 4, auch die Verwendung von Fugen, jedoch nicht kritiklos,
sondern als Anregung für sein Komponieren. Für mich klingt dieses Quartett
stellenweise wie ein (vorweggenommenes) Violinkonzert. Vom Ragazze
Quartet gespielt gibt es beide a-Moll Quartette auf
einer CD.
Gewiss nicht zufällig beginnt
Mendelssohns Komposition mit einer langsamen Einleitung, in der er eine
Eigenkomposition zitiert, das Lied „Ist es wahr?“, das er früher komponiert
hatte und das als op. 9 Nr. 1 bekannt ist. Am Ende des vierten Satzes zitiert
er diesen leisen Beginn des Quartetts und lässt es leise und molto espressivo
ausklingen. Dieses Liedzitat erinnert an Beethovens „Muss es sein?“ zu Beginn
des letzten Satzes aus dem Quartett F-Dur op. 135.
Verweilen wir noch ein wenig bei
dieser Einleitung. Mendelssohn schreibt für die vier ersten Noten ein mf vor, das sich zum p abschwächt. Bei der Wiederholung eine
Oktave höher möchte er es leiser haben, wie eine Erinnerung, jetzt soll es p beginnen und dann zum pp leiten. Leider hört man es in den zum
Vergleich stehenden Aufnahmen selten, fast alle Quartette spielen diese Takte
in derselben Lautstärke, ausgenommen das Quatuor Ebène und das Tetzlaff Quartett, letzteres betont auch den
Trugschluss auf Eins im sechsten Takt. Eine vergleichbare Stelle findet man im
zweiten Satz im ersten Thema: dort verlangt die Partitur in Takt 5 auf Zählzeit zwei ein f
mit verstärkendem sf, bei der
(abgewandelten) Wiederholung im folgenden Takt ein pp, entsprechend auch in den Takten 16/17 und 97/98. Die meisten
Formationen nehmen Mendelssohns Vortragsbezeichnungen als Rahmen, weniger als
verbindliche Vorgaben. Der Gegensatz zwischen lautem und leisem Spiel wird
meist überspielt oder bestenfalls nur halbherzig ausgeführt. Mendelssohns Wünsche
erfüllen nur die Quartette Tetzlaff, Arod, Artemis, Talich, Henschel, Rodin und Klenke.
5 |
Tetzlaff
Quartett |
Cavi |
2013 |
28‘37 |
|
I und IV unterschwellige Unruhe, zielstrebig
nach vorn, inspirierter Vortrag, II überzeugende Tempokontraste gepaart mit
unterschiedlicher Vortragsweise, viele deutliche Seufzermotive.
III sehr gute Dynamik – die ganze dynamische Bandbreite kommt zum Einsatz,
überzeugende Tempi, erfülltes Musizieren, kein vollständiger Verzicht auf
Vibrato |
|||
5 |
Quatuor Arod |
Erato |
2016 |
30‘32 |
|
I kämpferisch, vorwärtstreibend, wie
atemlos, kräftige Akzente, flexibler Umgang mit dem Notentext, II Tempi als Gestaltungsmerkmal,
facettenreich, molto espressivo, teilweise dichtes Musizieren, III
nachdenkliches Intermezzo, abwechslungsreich, IV die ersten Töne wie ein
Angstschrei herausgeschleudert, kontrastreich, überzeugender Satzschluss –
gute Balance, beeindruckende Interpretation |
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5 |
La Salle Quartet |
DGG |
1969 |
28‘00 |
|
unsentimentales Musizieren, jedoch
keineswegs nüchtern, schlanker und homogener Quartettklang,
in den Ecksätzen schwungvolles Musizieren, dem abschließenden Adagio fehlt es
etwas an Innerlichkeit |
|||
5 |
Artemis
Quartett |
Erato |
2012 |
30‘40 |
|
selbstverständliche Perfektion, spannungsvoller
Vortrag, scharfe Farbwechsel, bestes Zusammenspiel, gute dynamische
Gestaltung, überzeugende Tempi |
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5 |
Juilliard Quartet |
CBS Sony |
1963 |
28‘45 |
|
▼ |
|||
5 |
Emerson
String Quartet |
DGG |
2003/04 |
29‘05 |
|
höchstes spieltechnisches Niveau,
wenig Vibrato; Mendelssohn, nicht Beethoven; II Nachschlagen der tiefen
Streicher T. 46 ff. sehr deutlich, viel Spannung, III locker, immer auf dem
Sprung, IV zugespitzes Musizieren, unterschwellige Unruhe (wie auch im ersten
Satz) – klangschöne Aufnahme |
|||
5 |
Melos
Quartett |
DGG |
1980 |
26‘29 |
|
I Allegro molto, stürmisch, meist deutliche Stimmführungen, höchste
Expressivität, II Mittelteil deutlich abgesetzt, IV die Unruhe der Musik sehr
gut getroffen – mehr Vibratoeinsatz als in unseren
Tagen, Klang bleibt aber immer noch schlank |
|||
5 |
Leipziger
Streichquartett |
MDG |
2000 |
29‘24 |
|
I dramatisch, Transparenz gewahrt,
II spannungsvoll, III Cello spielt sich im Mittelteil (T. 51 ff.) nach vorn,
IV orchestrale Einleitung, überwiegend stürmisch, abschließendes Adagio
könnte leiser gespielt sein |
4-5 |
Mandelring
Quartett |
audite |
2011 |
28‘35 |
|
I orchestral, mit viel Bogendruck,
Transparenz nicht immer bestens, Cello bei langen Tönen mit leichtem Vibrato,
II mit Feingefühl, Spannungsbögen, viel Espressivo
T. 78 ff., im Trio wünschte man sich mehr Feinabstimmung, IV Drive, mit
Hingabe, immer Unruhe, gute dynamische Differenzierung |
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4-5 |
Cherubini
Quartett |
EMI |
1989 |
32‘24 |
|
I E viel mehr Melos als das
Alban-Berg-Quartett, vorwärtsdrängend, jedoch ohne ständiges Forcieren, III dichtes
Klangbild, III guter Kontrast zwischen den Abschnitten, IV Rezitativ der
ersten Geige klingt gewollt ratlos |
|||
4-5 |
Quatuor Ebène |
Erato |
2012 |
29‘56 |
|
I und IV aufgewühlt, markant akzentuiert,
klangliche Wucht, II anfangs breiter Strich, viel Bogendruck, auch in
schnellen Passagen, dichtes Klangbild, III mit viel Fantasie vorgetragen –
immer diszipliniertes Musizieren |
|||
4-5 |
Carmina
Quartett |
Denon |
1991 |
29‘34 |
|
gestalterischer Ernst, klare
Artikulation, überzeugende Tempi, gute Balance, viel Klangsinn, Stimmverläufe
gut nachgezogen, I kein Allegro molto,
lebendig, weniger Druck als üblich |
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4-5 |
Klenke
Quartett |
hänssler |
1998 |
29‘48 |
|
konzentriertes, atmosphärisch
dichtes, picksauberes Musizieren, immer ausgewogen, Extreme nicht bis zum
Letzten durchgezogen, einfühlsam gestaltete Partien, Stilbewusstsein, IV hier
fehlt es etwas an Leichtigkeit |
|||
4-5 |
Alban
Berg Quartett |
EMI |
2000 |
27‘24 |
|
live – engagiertes Musizieren,
scharfe Klanglichkeit, darunter leidet etwas die
Transparenz, im zweiten Satz viel Vibrato, das Finale klingt ziemlich
überzeugend, könnte jedoch stellenweise etwas lockerer gespielt sein –
dichtes Klangbild |
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4-5 |
Ragazze Quartet |
Channel Classics |
2017 |
29‘31 |
|
ziemlich perfekte Darbietung,
objektiv, jedoch auch etwas nüchtern, geringer Einsatz von Vibrato, Spannung
nicht immer auf höchstem Level – II im MT Crescendo mit Beschleunigung
gekoppelt, IV etwas robust |
|||
4-5 |
Vermeer
Quartett |
Teldec |
1988 |
31‘55 |
|
I gebremstes Feuer, gebremste
Spannung, II molto espressivo,
dichtes Klangbild, III hier zeigt sich die Dialogfähigkeit der Spieler, IV
zugespitztes Musizieren, streng – insgesamt gepflegtes Musizieren,
klangschöne Aufnahme, gute Dynamik und Balance |
4 |
Minguet
Quartett |
CPO |
2009 |
28‘19 |
|
I 1. Vl. an einigen Stellen zu leise und nicht hinreichend
deutlich, zum Satzschluss orchestral, eher geschlossener Klang, II
Stimmverläufe nicht immer deutlich, dynamische Abstufungen noch
entwicklungsfähig, III melancholisches Intermezzo, Trio mit Feinschliff,
geringere Spannung, IV konzentriert, gefällt am besten, dynamische Gegensätze
nicht immer genügend deutlich |
|||
4 |
Juilliard Quartet |
Sony |
1998 |
30’07
|
|
▼ |
|||
4 |
Bartholdy
Quartett |
Acanta |
P 1973 |
27‘39 |
|
Mendelssohns Text dynamisch etwas
großzügig behandelt, II im Mittelabschnitt höchst expressiv, aber nicht immer
transparent, III T. 51-78 übersichtlicher als bei anderen Quartetten |
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4 |
Rodin
Quartett |
Amati |
2001 |
31‘13 |
|
I keine durchgehende Spannung, II
Anfang und Ende wie weihevoll zelebriert, insgesamt eher die große Linie als aufeinander
bezogenes Musizieren, III erster Abschnitt etwas zu gezogen, Allegro di molto ohne Elfen, das
wünschte man sich etwas spritziger, IV ohne Druck, Musik bleibt so etwas blass |
3-4 |
Henschel
Quartett |
Arte Nova |
2003 |
29‘21 |
|
geschmeidiges Musizieren, gute
Dynamik, I Spannungseinbrüche, besonders an leisen Stellen, II poco piu animato-Abschnitt
noch nicht das letzte Wort des Quartetts, das trifft sinngemäß auch auf III
zu, IV in den ersten Takten noch wenig Spannung zwischen Violine 1 und den
übrigen Instrumenten, Zusammenspiel könnte noch vertieft werden |
Hinweise
zu Interpreten und Interpretationen
Juilliard Quartet
Juilliards erste Aufnahme entstand zu der Zeit,
als die Formation mit Beethovens mittleren Streichquartetten Furore machte.
Fast alles, was damals überzeugte, trifft man auch hier wieder und es passt
bestens zu Mendelssohns a-Moll-Quartett: eine schlanke Tongebung, straffes
Musizieren, genaue Umsetzung des Notentextes, wenn erforderlich ein
wohldosiertes Espressivo. Das Klangbild ist
allerdings weniger farbig, auch wünschte man sich den Bass etwas stärker.
Nach 35 Jahren saßen in der zweiten
Aufnahme völlig andere Musiker an den Pulten, die sich jedoch aufgrund ihrer
Ausbildung dem Geist der Juilliard School
verpflichtet fühlten. Sie spielen nicht mehr so filigran wie die frühere
Besetzung, weniger schlank, bei dichterem Klangbild. Auch sind die Tempi,
ausgenommen im zweiten Satz, etwas langsamer. Hier hört man keine so deutliche
Zäsur beim poco piu
animato wie in der ersten Aufnahme. Im dritten Satz erhält das Intermezzo
mehr Gewicht als früher, der „Elfen“-Mittelteil findet ohne Elfen statt, er
klingt etwas buchstabiert. Auch das Finale wird mit etwas Druck musiziert, es
fehlt die Leichtigkeit. Das Klangbild ist natürlich besser als früher, der Bass
kommt an einigen Stellen schon zu stark heraus.
eingestellt
am 13.07.19
ergänzt am 19. 06. 20