Das Klassik-Prisma

 

 Bernd Stremmel

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Maurice Ravel

 

Streichquartett F-Dur

 

Allegro moderato, Très doux – Assez vif, Très rythmé – Très lent – Vif et agité

 

Ravel hinterließ der Nachwelt nur ein Streichquartett, wie 10 Jahre zuvor sein Kollege Claude Debussy. Es entstand in zwei Schüben: Satz 1 und 2 vollendete er im Jahre 1902, die beiden folgenden ein Jahr darauf. Ravels Opus wurde ein Jahr nach seiner Fertigstellung (1904) in Paris vom damals renommierten Heymann-Quartett uraufgeführt. Etliche prominente Zuhörer, darunter auch Ravels Lehrer Gabriel Fauré, glaubten eine frappante Ähnlichkeit mit Debussys Quartett auszumachen. Letzterer, dem die Einwände bekannt geworden waren, drängte Ravel jedoch, sein Quartett so zu belassen und keine Änderungen, hier waren in deren Augen Verbesserungen gemeint, vorzunehmen. Ravel folgte dem Rat und konnte bald die Popularität seiner Komposition erleben. Ravel war damals 28 Jahre alt und stand am Anfang seiner vielbeachteten Laufbahn als einer der führenden Komponisten Frankreichs.

 

Nach klassischem Vorbild besteht Ravels Quartett aus vier Sätzen bei vertauschtem Scherzo und langsamen Satz. Das ist jedoch kaum als Neuerung zu verstehen, bereits in Haydns Quartettserie op. 9 steht das Menuett an zweiter Stelle. In drei der vier Sätzen begegnen wir einer motivischen Keimzelle, einem Motiv, das jedoch in ständiger Verwandlung, rhythmisch, harmonisch, durchgeführt wird. Ravel stellt es gleich am Beginn des 1. Satzes von der ersten Geige vor (T. 1-4), verwandelt es anschließend (T. 5-8), halbiert es und bringt es im Wechsel der beiden Geigen. Leicht und trotzdem expressiv soll das zweite Thema klingen, das zunächst von der ersten Geige angestimmt, danach von der Bratsche übernommen wird. In der Durchführung steigert sich die Musik zu einem knappen Höhepunkt von p (T. 114) zu fff (T. 119-120). Ein paar Takte später beginnt die Reprise, fast wortwörtlich wie die Exposition. Hier ist Ravel nicht weit entfernt von klassischen Vorbildern wie Haydn oder Mozart.

 

Der 2. Satz besitzt viel spanisches, genauer: baskisches Flair, das vor allem in der rhythmischen Gestaltung zu beobachten ist. Der Satz beginnt mit einer Pizzicato-Passage aller vier Instrumente, die folgende Musik wechselt immer wieder zwischen einem 6/8 und 3/4-Takt. Wie auch in den anderen Sätzen fügt Ravel hier kurze flirrende Passagen in das Satzgefüge ein.

 

Auch im langsamen Satz, der nun an die dritte Stelle gerückt ist, begegnet man ständigem Taktwechsel von 4/4-, 3/4- und sogar einmal einem 5/4-Takt. Die Folge ist eine ständige Unruhe auf der einen Seite, anderseits aber auch ein träumerischer Klangzauber in der Satzmitte (T. 65-80). In den Takten 52, 54 und 60 verordnet der Komponist der Musik eine Unschärfe, wenn er gleichzeitig den Geigen und der Bratsche eine Sechzehntel-Quintole, eine Sechzehntel-Sexstole sowie eine Sechzehntel-Septole abverlangt, was von den Ohren der Hörer jedoch kaum wahrgenommen wird.

 

Das Finale, mit einem ostinaten Motiv im 5/8-Takt durchzogen, bestimmt mit seiner Unruhe weitgehend den Satz. Zur Ruhe kommt die Musik erst, wenn Ravel eine abgewandelte Version des zweiten Themas aus Satz 1 einschiebt (jetzt im 3/4-Takt).

 

Vor 100 Jahren galt das Ravel-Quartett als eines der technisch anspruchsvollsten Quartette. Mittlerweile sind andere mit höchsten Schwierigkeitsgraden nachgerückt.

 

 

5

Juilliard String Quartet

RCA

1959

28‘57

 

 

 

5

Carmina Quartett

Denon

1992

28‘35

 

 

sehr klar musiziert, bewegt ausgewogen, pulsierend, pointierte Dramatik, ansteckende Spielfreude, teilweise filigranes Stimmgewebe

 

5

Ungarisches Streichquartett

Columbia        forgotten records

1958

27‘05

 

 

I con anima, mit langem Atem musiziert, II spielfreudig, gute Balance, mit einer gewissen Sinnlichkeit, III mit Hingabe, Musiker atmen mit der Musik, IV mit Verve, prickelnd

 

5

Quatuor Ebène

Erato

2008

29‘41

 

 

I körperhafter KJang, hoher Bogendruck, klangvoller Espressivo-Stil, elastischer Vortrag, II auch hier hoher Bogendruck, besonders im langsamen MT, III Ensemble atmet mit der Musik, rhythmische Verschiebungen gut gemeistert – sehr gutes Feeling für Ravels Musik

 

5

Hagen Quartett

DGG

1993

28‘11

 

 

I nuanciertes Musizieren, mit Hingabe, bestes Miteinander, überwiegend locker, II die unterschiedlichen Aggregatzustände der Musik bestens getroffen, immer auch die Dynamik im Blick, III mit langem Atem, IV ständige Unruhe beherrscht die Musik – sehr gute Balance und Transparenz

 

5

Arcanto Quartett

HMF

2009

28‘05

 

 

I immer wieder pulsierende und flirrende Tongebung, kapriziös, sprechende Tongebung, II darstellerische Konzentration, nuanciert, Atmosphäre, III inspiriert, mit Hingabe, IV ausgelassen, selbstverständliche Perfektion – sehr gute Balance und Transparenz

 

 

 

 

4-5

Juilliard String Quartet

Sony

1992

30‘14

 

 

 

4-5

Capet Quartett

EMI     Toshiba     forgotten records

1927/28

27‘47

 

 

I / II überwiegend lebendige Darstellung, zeitbedingt viele Portamenti, III ruhig, Balance nicht immer im Lot, IV überwiegend bewegt

 

4-5

Quatuor Modigliani

Mirare

2012

28‘20

 

 

I Ensemble präsentiert sich als 4 Stimmen, weniger als Quartett, II hier näher am Werk, mit mehr Überzeugungskraft, III wie suchend, IV diesen Satz wünschte ich mir noch lockerer – insgesamt sehr gute Transparenz

 

4-5

Loewenguth Quartett

DGG

1953

29‘37

 

 

I dynamisch, sowohl in der Lautstärke als auch im Tempo, leider keine höchste Transparenz; II stellenweise etwas derb, III ein gut aufeinander eingespieltes Ensemble, IV man verliert nicht den Überblick

 

4-5

Borodin Quartett

Virgin

1989

29‘52

 

 

spielfreudig, mit einer gewissen Sinnlichkeit, II nuanciertes Spiel, III zu Beginn Va. danach Vc. mit viel Vibrato, insgesamt aber mit viel Feingefühl, IV an vielen Stellen (zu) orchestral

 

4-5

Alban Berg Quartett

EMI

1984

28‘28

 

 

I immer wieder voller Spannung, T. 184 ff. zu laut, II sehr abwechslungsreich, III rhythmisch überzeugender Beginn, jedoch nicht durchgehend, Lautstärke im p-Bereich nicht ausgeschöpft, IV vorwärts, mit viel Druck

 

4-5

Quartetto Italiano

Philips

1965

29‘40

 

 

 

4-5

La Salle Quartet

DGG

P 1972

27‘15

 

 

I konzentrierte Darstellung, Bogenführung leicht und locker, II Klang leider zurückgesetzt, weniger Sinnlichkeit, III etwas distanziert, kaum Zusammenhänge geöffnet, IV nicht forciert, eher angeglichen

 

4-5

Auryn Quartett

Tacet

2002

27‘36

 

 

I Musiker haben sich in den ersten 15 Takten noch nicht richtig gefangen, II vehementer Zugriff, gediegen, abwechslungsreich, III mit viel Klangsinn, IV bewegt, pulsierendes Spiel

 

 

 

 

4

Cuarteto Casals

HMF

2006

28‘58

 

 

I Vl. 1 in hoher Lage oft zu spitz, Balance nicht immer top, II an einigen Stellen etwas grobkörnig, Streicher ahmen Gitarren nach, III T. 64 Spannung weg, sonst jedoch ausdrucksstark, IV Einzelstimmen vor Gesamtklang – eher spanisches als französisches Kolorit, herbe Darstellung

 

4

Emerson Quartet

DGG

1984

27‘ 58

 

 

I sehr bewegtes Musizieren, jedoch etwas unruhig; Geigen in der Höhe oft zu scharf, II Blick auf rhythmische Muster, teilweise elektrisierend, III sehr konzentriert, IV filigranes Stimmgewebe, teilweise unruhig

 

4

Guaneri Quartet

RCA

1973

26‘35

 

 

I sehr bewegt, von der Partitur abweichende Dynamik, kein stabiles Tempo, II starker Bogendruck, unterschiedliche Aggregatzustände der Musik jedoch gut getroffen, III schwelgerisch, abrupte Stimmungswechsel, teilweise etwas gekünstelt, IV das Artistische der Partitur herausgearbeitet

 

4

Quartetto Italiano

Columbia    EMI    Warner

1959

30‘47

 

 

 

4

Melos Quartett

DGG

1979

28‘19

 

 

I ansteckende Spielfreude, scharfe Klanglichkeit, explosive Ausbrüche, II 1. Th. etwas trocken, IV vieles zu mechanisch – deutsche Darstellung, kein französisches Flair (z. B. III bei Ziffer 6)

 

4

Orlando Quartett

Philips

1982

30‘32

 

 

I Instrumente dicht zusammen, auf Kosten artikulatorischer Feinarbeit, II Scherzo-Abschnitte etwas spröde, III etwas unruhig, IV auch hier

 

 

 

 

3-4

Tokyo String Quartet

Columbia      Sony

P 1979

27‘55

 

 

I vehementer Zugriff, Dynamik kaum ausgeschöpft (gilt für alle Sätze), II sehr lebendig, III hoher Bogendruck, IV sehr unruhig

 

3-4

Cleveland Quartett

Telarc

1985

29‘09

 

 

I T.85 ff. Spannung bricht etwas ein, Musiker gehen überwiegend lyrisch und feinfühlend zur Sache, wenig spürbare Vitalität, II weniger kontrolliert als spannungsvoll aufgeladen, III mehr neben- als miteinander – Aufnahme hinterlässt keinen bleibenden Eindruck

 

 

 

 

 

 

 

 

 Hinweise zu Interpreten und Interpretationen

 

 Quartetto Italiano

 

Das 1945 gegründete Quartett wurde auf unterschiedlichen Podien in Europa, Ägypten und den USA gefeiert. Ihr „Schallplattenleben“ begann mit einer Aufnahme des Debussy-Quartetts im Jahre 1946 beim Label Telefunken. Es war allerdings eine Eintagsfliege, die folgenden Aufnahmen entstanden in Mailand für die italienische Columbia „La voce del padrone“. Die letzten Aufnahmen für dieses Label waren ein frühes Quartett von Mozart sowie das Quartett von Maurice Ravel, 1959 bereits in Stereo. Nach einer Pause wechselten die vier Musiker zum holländischen Philips-Konzern, wo sie bis zur Auflösung des Quartetts unter Vertrag standen und eine große Anzahl von Quartetten einspielten, u. a. sämtliche Quartette von Mozart, Beethoven, Schumann und Brahms.

Neben der bereits erwähnten Aufnahme des Ravel-Quartetts aus dem Jahr 1959 für Columbia entstand 1965 für Philips eine zweite Einspielung. Diese ziehe ich der früheren etwas vor, das Klangbild ist der früheren in Bezug auf Klarheit und Offenheit überlegen. Die Musiker spielen hier runder, mit etwas Vibrato und weniger starr bei den vertrackten Rhythmen im zweiten Satz. Im langsamen Satz wünschte man sich in der ersten Aufnahme den Umgang mit der Dynamik etwas differenzierter, das zeigt sich auch im Finale, hier klingt die Philips-Einspielung insgesamt etwas gepflegter als die des EMI-Labels.

 

Juilliard Quartett

 

Auch hier stehen zwei Einspielungen zum Vergleich. Die erste entstand im selben Jahr wie die erwähnte frühere des Quartetto Italiano. Lockeres Quartettspiel, sehr lebendig, die Dynamik bewegt sich mehr im piano-Bereich, das schafft Transparenz. Sehr dynamisch verläuft das Scherzo: die unterschiedlichen rhythmischen Modelle werden herausgestellt, präzises Musizieren, im langsamen Satz werden die Melodien aufeinander bezogen. Etwas rau klingt das Finale. Der Klang der späteren CBS-Aufnahme geht etwas mehr in die Breite und hört sich etwas gepflegter an. Die Musiker überzeugen mit einem technisch gekonnten Zusammenspiel, der Klang bleibt glasklar, hier und da mit leichtem Vibrato. Die Musik im Finale klingt jetzt etwas runder als zuvor. Insgesamt dauert die Aufführung mehr als eine Minute länger.

 

eingestellt am 20.10.25

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