Das Klassik-Prisma

 

 Bernd Stremmel

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Johann Sebastian Bach

3. Suite für Orchester D-Dur BWV 1068

Ouvertüre – Air – Gavotte I und II – Bourrée – Gigue

Von der vier Orchestersuiten Bachs ist die dritte bis heute die beliebteste und man begegnet ihr häufig im Konzert und im Radio. Der Kopfsatz ist im Stil einer französischen Ouvertüre von Lully gehalten. Ihm folgt ein langsamer gesangvoller Satz mit der Überschrift „Air“ , also Arie oder Aria, wie das Thema der Goldbergvariationen überschrieben ist. Danach folgen, wie es sich für eine richtige Suite gehört, einige Tanzsätze. In diesem Werk greift Bach zu zwei aufeinander folgenden Gavotten, nach der zweiten soll die erste wiederholt werden, einer Bourrée und einer das Stück abschließenden Gigue. Alle Tanzsätze sind zweiteilig komponiert und ihre Teile sollen jeweils wiederholt werden.

Auch die Ouvertüre ist zweiteilig angelegt, bei Beachtung der jeweiligen Wiederholung ergibt sich sogar eine Fünfteiligkeit, aber auch ohne dieselben bleibt sie der längste Satz der Suite. Sie beginnt mit einer langsamen Eröffnung, feierlich, prunkvoll, in punktierten Rhythmen, danach folgt ein lebhafter Teil, vor den Bach das alla breve-Zeichen gesetzt hat. Das bedeutet, dass der zweite  Abschnitt genau doppelt so schnell wie der erste gespielt werden soll. Bach hat auf nähere Tempoangaben verzichtet, analog zu anderen Ouvertüren dieser Zeit sollte man Largo und Allegro annehmen. Diese Temporelation werden bei weitem nicht von allen Interpreten beachtet, am meisten von denen, die nach historisch-informierter Aufführungspraxis musizieren. Der bekannteste Satz unserer Suite ist das Air, auf sehr vielen CDs mit „Kuschel-Klassik“ darf es nicht fehlen. Es wurde auch separat eingespielt, bereits 1928 durfte es Furtwängler mit den Berliner Philharmonikern für das Label Polydor aufnehmen. Sieht man einmal von der Stilfrage ab, liegt hier eine wunderbar schwebende, eindringliche Interpretation vor, die viel geschmeidiger klingt als die spätere Konzertaufnahme von 1948. Stokowski ließ sich die Piece nicht entgehen, aber auch ein stilsicherer Geiger wie Georg Kulenkampff spielte sie in der Mitte der 30er Jahre mit den BPh unter Schmidt-Isserstedt ein.  Die alten Dirigenten, abgesehen von Klemperer, lassen das Air sehr romantisch spielen mit gefühlvollen Crescendi und Diminuendi. Auch bei Helmut Koch und Karl Richter kann man diese Interpretationshaltung noch erleben. Die Interpretationsunterschiede bei den abschließenden Tanzsätzen sind weniger signifikant. Einige Dirigenten lassen die Gavotte II etwas bewegter spielen als ihre Vorgängerin und bringen damit etwas Abwechslung in den musikalischen Ablauf (z. B. Furtwängler, bei Café Zimmermann, Concerto Köln, Akademie für Alte Musik). Die Bourrée wird meist am schnellsten gespielt und die Gigue besitzt sehr oft schon Kehraus-Charakter (Pinnock, Norrington, Knappertsbusch), einige Dirigenten schlagen hier jedoch einen Bogen zum Largo und lassen die Suite festlich ausklingen (z. B. Leppard, Klemperer-56).

Die Besetzung der 3. Suite besteht aus einem Chor von 3 Trompeten sowie Pauken, einer kleinen Gruppe von 2 Oboen, einem Streichorchester aus doppelt besetzten Violinen, Bratschen und einer Bassgruppe aus Cello und Violone oder Kontrabass, die bereits dem obligatorischen Continuo mit dem Cembalo zuzurechnen sind. Bei den älteren Interpretationen kommt das herkömmliche Sinfonie-Orchester zum Einsatz, entsprechend großformatig und gewaltig in den Abschnitten mit  Trompeten hört sich Bachs Musik hier an. Dabei geraten die beiden Oboen fast immer ins Hintertreffen. Einher geht eine (falsche) romantische Auffassung. Man sollte jedoch nicht alle diese Aufnahmen über einen Kamm scheren, unter ihnen gibt es etliche, die sich um schlanke Tongebung, ein transparentes Klangbild sowie angepasste Tempi kümmern. Der erste von ihnen war Otto Klemperer. Adolf Busch versuchte bereits 1936 mit seinem Kammerorchester einen Gegenentwurf zum Klang des großbesetzten Orchesters bei einer gleichzeitig sachbezogenen Spielweise. Auf Schallplatte fand er Nachfolger erst am Ende der 50er Jahre bis in die Jetztzeit (Richter, Münchinger, Vegh, Marriner). Leppard gehört auch in diese Gruppe, aber man meint aus seiner Interpretation herauszuhören, dass er kurz vor Hinwendung zur historisch-informierter Aufführungspraxis stünde. Letztere wurde vor allem nach dem 2. Weltkrieg erforscht und klanglich ausprobiert, unter Verwendung erhaltener alter Instrumente oder/und deren Nachbauten an der Baseler Schola Cantorum, konnte sich aber nur langsam durchsetzen. Erst Mitte der 60er Jahre  fruchtete die neu gewonnene Sichtweise allmählich und es kam es zu einem Richtungswechsel und Gründung einer Anzahl von Alte Musik-Ensembles in Mitteleuropa, aber vor allem in England. Der Cellist und Gambist Nikolaus Harnoncourt sowie der Cembalist und Organist Gustav Leonhardt müssen hier als Pioniere genannt werden. Ihre Ensembles aber auch andere kamen ohne einen Dirigenten aus, wie auch die deutsche Gruppe Collegium Aureum, deren Spieler teilweise mit dem schon länger existierenden WDR-Orchester für Alte Musik, der Capella Coloniensis, identisch waren. Mussten sich deren Musiker, die im Hauptberuf im normalen Sinfonie-Orchester arbeiteten, erst mit der Spielweise der alten Instrumente vertraut machen, trifft man heute fast nur noch auf Gruppen, deren Spieler von der Pike auf mit ihrem Instrument bestens vertraut sind.  Entsprechend sicher, geradezu virtuos, klingen ihre Interpretationen.

 Interpretationen mit Sinfonie-Orchester:

Klemperer

Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester

ica-classics

1955

23‘04

5

live – I erhabenes Largo, festlich, II in großen Bögen musiziert, natürlich, III wie selbstverständlich, IV lebendig, V bewegt, am Schluss Ritardando – die 1. Trp. spielt hier und da nicht ganz sauber

 

Klemperer

Philharmonia Orchestra London

EMI Testament

1954

22‘55

4-5

I gewichtiger als 1955, auch klanglich kompakter, V noch lebendiger – Achtung Bandschäden: Verzerrungen am Ende des 1. Satz und während des ganzen 2. Satzes

Klemperer

Berliner Philharmoniker

Testament

1964

23‘54

4-5

live – etwas langsamere Tempi, mehr Klangvolumen in der  Neuen Philharmonie

Kempe

Berliner Philharmoniker

EMI Testament

1956

22‘49

4-5

I echtes Largo, erhaben, feierlich, Anklänge an Händel, II weitgreifende Phrasierung, intensiv – Orchester klanglich etwas zurückgesetzt

van Beinum

Concertgebouw Orchester Amsterdam

Philips

1956

20‘54

4-5

I breit klingender Streicherchor, Largo!,  richtiges Tempoverhältnis, II ruhig fließend, ausdrucksvoll

 

Klemperer

New Philharmonia Orchestra London

EMI

1969

26‘31

4

2. Studioproduktion mit langsameren Tempi

Abendroth

Gewandhausorchester Leipzig

Tahra

1944

21‘25

4

Rundfunk-Produktion – I monumental, geringe Transparenz, II immer in Bewegung, viel Dynamik, V Schlusston: 1.Trp. hohes c – mächtiger Streicherapparat

Knappertsbusch

Wiener Philharmoniker

History

1944

18‘12

4

I pompöses Largo, geringe Transparenz, II bewegt, etwas äußerlich, romantisch, viel Dynamik

 

Furtwängler

Berliner Philharmoniker

DGG   audite

1948

21‘05

3-4

live – I Largo schleppend, zäh, deutliches Espressivo, mächtiger Streicherapparat, monumental, romantische Dynamik, II Espressivo!, große Bögen, hochromantisch; Tanzsätze ohne Tanzcharakter, IV etwas grob, V zu schwer, am Ende deutliches Ritardando – Ästhetik einer vergangenen Zeit

Karajan

Berliner Philharmoniker

DGG  

1964

23‘56

3-4

I echtes Largo, breiter, dichter Klang, romantische Attitüde, II schwerblütig, Bruckner in Köthen, III fast ohne Tanzcharakter, V gezogen, Tanz?

 

 Die 3. Orchestersuite war ein Lieblingsstück Klemperers. Bereits bei seinem ersten Konzert als neubestallter musikalischer Leiter der Berliner Kroll-Oper stand sie 1927 auf dem Programm. Die EMI-Aufnahmen der vier Suiten gehörten zu Klemperers ersten Aufnahme bei dieser Firma. Seine Werkauffassung war hier immer sachlich, mit absoluter Werktreue, transparentem Klang, schloss aber ausdrucksvolles Spiel keineswegs aus.

Interpretationen mit Kammerorchester:

Leppard

English Chamber Orchestra

Philips

1968

18‘38

5

I festliche Klangentfaltung, sehr lebendig, doppelte Punktierung an vielen Stellen, II bei den Wiederholungen Stimme der 1. Violine durchgehend verziert, wie neu komponiert, romantisch empfunden, IV pointiert, sehr lebendig

 

Marriner

Academy of St. Martin-in-the-Fields

Philips

1978

22‘37

4-5

I Pk. im Largo solistisch behandelt (immer gleiche Wirbel), II Largo, ausdrucksvoll, Atmosphäre, III deutliches Fagott im Continuo, farbiger Klang

Münchinger

Stuttgarter Kammerorchester

Decca

~ 1961

19‘36

4-5

1. Studioproduktion – I lebendiges Allegro, II klar, Espressivo, , III bewegt, festlich, etwas rau

Richter

Münchner Bachorchester

DGA

1960

23‘07

4-5

Transparenz auf mittlerer Stufe, etwas farbiger als Koch – I Trp. auch im MT immer deutlich, II mit Hingabe, romantisch, III gravitätisch, Echotechnik, Bass etwas zurückgesetzt, IV etwas kurzatmig, V Trp. 1 manchmal etwas gequetscht

Koch

Kammerorchester Berlin

Eterna Berlin Classics

1974

22‘52

4-5

Transparenz auf mittlerer Stufe – II durchsichtig, romantische Auffassung, Tänze etwas oberstimmenbetont

 

Busch, Adolf

Kammerorchester Adolf Busch

EMI

1936

19‘55

4

I sachlich, Trp. 1 nicht immer intonationssauber, II romantisch ausdrucksvoll, Klavier als Continuo, lebendige Tanzsätze

Vegh

Camerata academica Salzburg

Orfeo

1983

22‘32

4

live, etwas kompakter Klang, I Stimmverläufe nicht immer klar, Spannung bricht hier und da ein, II Außenstimmen führen,  Spannungsauf- und Abbau, Tänze nicht immer mit der Präzision einer Studioauffnahme musiziert

 

Interpretationen in historisch-informierter Aufführungspraxis in kleiner Besetzung und Original-Instrumenten:

Die Aufnahmen unter Verwendung von Originalinstrumenten bieten interpretatorisch wenige nennenswerte Unterschiede. Die französische Punktierung in der Ouvertüre ist fast schon obligatorisch. Die Tempi ähneln sich sehr, die Tanzsätze werden meist sehr schnell gespielt, auch von Satz zu Satz zuweilen noch beschleunigt. Bei der Wiederholung der Gavotte 1 nach Gavotte 2 bringen einzelne Aufnahmen nochmals die beiden Wiederholungen in diesem Satz, was nicht üblich ist. Insgesamt sind die Tempi jedoch stabil. Eine festliche Stimmung als Eröffnung im Ouvertürensatz stellt sich meist nur im Largo-Abschnitt ein, der aber auch bewegt durchgezogen wird. Wenn das folgende Allegro dann herunter gerast wird, bleibt nur der Eindruck einer bewundernswerten artifiziellen Darbietung, ist das jedoch noch im Sinne von Bach? Eine wirkliche Bewertung als Hilfe für den Leser/Hörer ist hier kaum noch möglich.

 

Café Zimmermann

Alpha

2004/10

20‘29

5

I klangprächtig, gute Transparenz, solistisch eingesetzte Pauke, II gehend, schreitend, intensiv gestaltet, III flotte Gavotte 2

Egarr

Academy of Ancient Music

AAM

2013

22‘13

5

sehr präsenter Klang, Oboen vorbildlich als 2. Gruppe der Instrumente platziert – II intensive Gestaltung, Basslinie etwas unterbelichtet, IV als Kontrast jetzt etwas langsamer, V im Vergleich zum Café etwas mehr geerdet

 

Suzuki

Bach Collegium Japan

BIS

2003

23‘29

4-5

I flottes Allegro, motorisch artistischer Leckerbissen, im Sinne von Bach? II sich Zeit lassend, intensives Stimmengeflecht, gesangvoll, abwechslungsreiche Tänzsätze

Harnoncourt

Concentus Musicus Wien

Teldec  

1983

23‘41

4-5

I pompöses Largo, jedoch ohne Glanz, Oboen etwas zurückgesetzt, II lebendige Ruhe

von der Goltz

Freiburger Barockorchester

HMF

2010

22‘10

4-5

transparentes Klangbild, weicher Trompetenklang – I sehr bewegtes, lockeres Allegro, II zart, fast gläsern

 

Concerto Köln

Berlin Classics

2009

21‘18

4-5

I eigentliche keine festliche Eröffnung, eher eine artistische Darbietung;  sehr schnelle Tänze

Pinnock

The English Concert

DGA

1978

18‘31

4-5

I lebendiges Musizieren, teilweise solistisch besetzte Streicher, II 1. Violine tritt ein wenig hervor – Pinnocks Orchester hat mehr Körper als das von Parrott

Dombrecht

Il Fondamento

Fuga libra

2010

23‘17

4-5

Köthener Urfassung – nur Streicher

 

Akademie für Alte Musik Berlin

HMF

1995

22‘43

4

I solistische Pauke, II gehend, schreitend, etwas kühl, III Kontrast zwischen den beiden Gavotten

Parrott

Boston Early Music Festival Orchestra

Virgin

P 1993

20’23

4

I Largo im Andante-Tempo, mit Leichtigkeit musiziert, solistisch besetztes Orchester, abgeschnurrt, II alle Stimmen gleichberechtigt, III aufgrund der solistischen Besetzung erhalten die Oboen mehr Gewicht, Tänze aufgekratzt

Rilling

Oregon Bach Festival Orchestra

hänssler

P 1991

20’42

4

I geringe Transparenz, Oboen zu leise, 1. Trp. führt , II im 1. Abschnitt schwebend, Atmosphäre, III-IV auch wenig Oboenklang

 

Collegium Aureum

DHM

~ 1969

21’43

4

I noch etwas vorsichtig, referierend, II sachlich; Musiker versichern sich der neuen Spielweise, historische Aufführungspraxis noch im Experimentierstadium

 

Interpretationen in historisch-informierter Aufführungspraxis mit großem Orchester:

Harnoncourt

Berliner Philharmoniker

BPh

2002

23‘45

4-5

live, in: Berliner Philharmoniker – Im Takt der Zeit, 10 CDs – I Bass präsenter als 1983, II noch etwas ruhiger

 

Norrington

SWR Sinfonie-Orchester Stuttgart

SWR

2006

23‘32

4

live, unveröffentlicht – I Largo pompös, jedoch ohne Glanz, mehr sachlich, II kantabel, ruhig fließend, III etwas akademisch, lustlos

 

Zum Schluss noch ein paar Sätze zur Handhabung der Wiederholungen: Bei den Aufnahmen nach historisch-informierter Aufführungspraxis werden alle Wiederholungen ausgeführt, lediglich das Collegium aureum, Pinnock und Rilling verzichten im Kopfsatz auf die Wiederholung des Allegros. So verfahren auch Klemperer, Karajan, Münchinger, Vegh, Marriner, Koch und Richter. Münchinger und Vegh laasen auch die 2. Wiederholung im Air weg. Abendroth, van Beinum, Kempe und Leppard bringen keine Wiederholung in der Ouvertüre. So hört man es auch bei Furtwängler, Adolf Busch und Knappertsbusch, die jedoch noch auf mehr Wiederholungen verzichten.

eingestellt am 24.01.14

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