Das Klassik-Prisma

 

 Bernd Stremmel

www.klassik-prisma.de

Diese Webseite ist urheberrechtlich geschützt.

 

Chopin       home

 

Frederic Chopin

1.    Polonaise cis-Moll op. 26 Nr. 1

 

Der Gattungsbegriff „Polonaise“ ist bereits im 16. Jahrhundert als Schreittanz in der polnischen Volksmusik nachzuweisen. Die Polonaise blieb jedoch nicht auf Polen beschränkt, sondern eroberte sich auch die Kunstmusik, vor allem in Schweden und in Deutschland. Polonaisen finden sich auch schon bei Couperin, Telemann, Händel, J. S. Bach, Kirnberger, W. F. Bach. Am Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts bediente sich Beethoven der Polonaise, ein paar Jahre später konnten Weber, Schubert und Liszt große Erfolge mit diesem Tanz einfahren. Heute verbindet man Polonaise besonders mit Frederic Chopin und dessen berühmte Schöpfungen in A-Dur op. 40 Nr. 1 sowie As-Dur op. 53, kaum ein Pianist kann es sich erlauben, um diese beiden Werke einen Bogen zu machen. Nach frühen Versuchen in seiner Heimat, die unveröffentlicht blieben, schrieb der Komponist im Alter von 24 Jahren seine beiden ersten, von ihm als vollgültig anerkannten Polonaisen op. 26.

Die erste in cis-Moll trägt die Vortragsbezeichnung Allegro appassionato. Nach einer drohenden dramatischen Einleitung lässt Chopin nacheinander zwei von rhythmischer Kraft aber auch lyrischem Einfallsreichtum geprägte Themen folgen.

Der erste Abschnitt steht in cis-Moll (insgesamt 49 Takte), der wiederum in zwei Teile konzipiert ist (T. 1-24 und 25-49). Der zweite davon soll wiederholt werden. Dann wechselt Chopin zu einem nicht so schnellen und weniger auftrumpfenden, eher lyrisch gehaltenen Abschnitt, con anima, jetzt in Des-Dur (T. 50-97). Hier wünscht Chopin die Wiederholung des ersten Teils (T. 50-65). Nach einem Intermezzo T. 66-81 kehrt die Musik wörtlich zum Anfang des zweiten Abschnitts zurück, d. h., die Takte 50-65 sollen dreimal gespielt werden. Wie bei einer Tanzmusik seit langer Zeit üblich folgt nun noch die Wiederholung des kompletten ersten Abschnitts, allerdings ohne die Wiederholung der T. 25-49. So ergibt sich die Form A – B – A‘, der Mittelteil B wird hier als Trio wahrgenommen.

Die Wiederholungen werden von den meisten Interpreten beachtet. Auf die cis-Moll-Wiederholung verzichten Fiorentino und Kojoukhine. Die Des-Dur-Wiederholung fehlt bei Cziffra und Duchable. Sowohl Bolet als auch François verzichten auf beide!

 

5

Maurizio Polini

DGG

1975

8‘20

 

überlegene Gestaltung, con spirito, konzentriert

5

Artur Rubinstein

RCA

1950

7‘42

 

5

Witold Malcuszynski

EMI

1959

8‘15

 

zielgerichtet nach vorn gespielt, Polonaisen-Rhythmus tritt klar hervor, natürlich gestaltete Agogik

5

Vladimir Sofronitzki

Melodya-BMG

1960

7‘57

 

live, ▼

5

Homero Francesch

Tudor

1996

8‘18

 

mit spürbarer Hingabe, delikat, breite Ausdrucksskala

 

 

 

4-5

Cyprien Katsaris

Sony

1993

7‘28

 

Blick auch auf Nebenstimmen, natürlich gestaltete Agogik, gelöstes Musizieren mit viel Klangsinn

4-5

Artur Rubinstein

RCA

1964

7‘38

 

4-5

Svjatoslav Richter

Melodya-BMG

1948

7‘49

 

4-5

Svjatoslav Richter

Philips

1988

9‘33

 

live, ▼

4-5

Anna Gourari

Koch-Schwann

2001

8‘17

 

insgesamt poetische Darstellung, die weitgehend überzeugt, deutlicher Kontrast zwischen cis-Moll und Des-Dur-Abschnitten, sf beim Kontra-Gis T. 30/31 übersehen, bei vielen anderen Interpretationen leider auch

4-5

Lazar Berman

DGG

1979

7‘52

 

mit langem Atem, subtil differenziert, geschmackvoll

4-5

Adam Harasiewicz

Philips

P 1968

6‘35

 

geschmeidig, spontanes Musiziergefühl, entschieden voran

4-5

Elisabeth Leonskaja

Teldec

1995

8‘24

 

mit festem Zugriff, pointierte Dramatik, Musik wird immer wieder gestaucht, wie es die Partitur vorsieht

 

 

 

4

Stefan Askenase

DGG

1951

6‘56

 

mit innerer Spannung, wie selbstverständlich, bei der Wiederholung des Anfangs lässt Askenase die T. 13-24 aus, Klang etwas stumpf

4

Vladimir Sofronitzki

Brilliant

1946

6‘42

 

live, ▼

4

Jewgenij Kissin

RCA

2004

8‘40

 

live, eher zart als zupackend, Des-Dur-Abschnitt innig, insgesamt eher zurückhaltend gespielt

4

Svjatoslav Richter

Live Classics

1992

9‘03

 

live, ▼

4

György Cziffra

Philips

P 1963

7‘03

 

keineswegs auftrumpfend, eher zurückhaltend, wenig Spannung, stumpfer Klang

4

Shura Cherkassky

DGG

P 1969

8‘04

 

etwas scheu, zurückhaltend, cis-Moll- und Des-Dur-Abschnitte mit wenig Kontrast, insgesamt zu gelassen

4

Francois-René Duchable

Virgin

1996

6‘05

 

cis-Moll-Abschnitt zu schnell, Musik klingt fast wie überfahren, keine Wiederholung des Des-Dur-Abschnitts!

 

 

 

3-4

Jorge Bolet

marston

1975

7‘18

 

überwiegend zurückhaltend, T. 32 kein ff, ohne spürbare Vitalität

3-4

Abdel Rahman El Bacha

Forlane

1998

6‘31

 

Pianist schenkt dem ritterlichen-Polonaisen-Rhythmus weniger Beachtung, zu lyrisch, Kontra-Gis T. 30 und 31 entfällt? – keine Wiederholung des 1. Teils (T. 1-49)

3-4

Samson François

EMI

1969

6‘25

 

man vermisst eine klare Gestaltung, vor allem im Rhythmus und in der Agogik, z. B. T. 13/14, ohne Wiederholungen

3-4

Sergio Fiorentino

Piano Classics

1960

7‘18

 

wechselnde Stimmungen, etwas flüchtig, Temposchwankungen noch über die Notenvorlage hinausgehend, man vermisst den Überblick – stumpfer Flügelklang

3-4

Alexander Brailowsky

CBS     Sony

1961

6‘58

 

Rhythmus in den T. 1 und 2 sowie T. 13/14 verwaschen; Chopins Musik gespielt, jedoch wenig gestaltet, Aufnahme hinterlässt keinen bleibenden Eindruck

3-4

Denis Kojoukhine

Klavierfestival Ruhr

2006

6‘18

 

deutlicher Kontrast zwischen cis-Moll und Des-Dur-Abschnitten, Pausen auf der 3. Zählzeit in T. 2 und 14 überspielt, mehr an der Oberfläche agierend, sf beim Kontra-Gis T. 30/31 übersehen

Hinweise zu Interpreten und Interpretationen

 Artur Rubinstein

Zwei Studio-Produktionen der ersten Polonaise stehen hier zum Vergleich an. Die erste stammt aus dem Jahre 1950, die zweite wurde 14 Jahre später eingespielt. Zielstrebig nach vorn spielt Rubinstein 1950, jedoch auch poetisch, die Musik darf atmen. In der Stereo-Aufnahme geht es hier und da etwas nachdenklicher zu, Rubinstein spielt auch etwas gelassener, ob ihm seine polnische Heimat in den Sinn kam? Leider wurden die leisen Verkehrsgeräusche aus NY, die man auf vielen RCA-Aufnahmen aus dieser Zeit gratis mitgeliefert bekommt, nicht eliminiert, ein Ärgernis!

 Vladimir Sofronitzki

Auch vom russischen Pianisten Sofronitzki kann ich zwei Einspielungen zum Vergleich anbieten, die beide in der ehemaligen UdSSR in Konzerten mitgeschnitten wurden (1946 und 1960), und die sich deutlich voneinander unterscheiden. Sehr unruhig, theatralisch, jedoch keinesfalls einfallslos klingt die frühere Aufnahme. Warum er die Takte13-24 auslässt, ist nicht bekannt. Der Klang kommt historisch mulmig aus den Lausprechern. Auf dem jüngeren Mitschnitt spielt Sofronitzki nuanciert, mit Delikatesse. Am meisten überzeugt der Des-Dur-Abschnitt, der mit großer Übersicht dargeboten wird. Die klangliche Seite steht fast auf der Höhe der damaligen Zeit.

Svjatoslav Richter

Richters früheste Aufnahme entstand im Jahre 1948 für Melodya (Studio). Das ist auch der Grund, warum das Klangbild als etwas belegt wahrgenommen wird. Bei Richter stehen explosive Ausbrüche einer feinfühligen Gestaltung gegenüber. Die punktierten Rhythmen zu Beginn und einige Takte später kommen jedoch nicht wünschenswert deutlich. Die beiden folgenden Aufnahmen wurden 40 bzw. 44 Jahre später in Holland (1988 – Philips) und Deutschland (1992 -Live Classics) mitgeschnitten. Bei beiden fallen sofort die gezügelten Tempi auf, Richter entschädigt jedoch bei Philips mit einer poetischen Darstellung. Der klar klingende Flügel unterstützt den positiven Eindruck zusätzlich. Letzteres gilt auch für seine Spätaufnahme, hier kommt die Musik etwas spröde aus den Lautsprechern, auch etwas zögerlich, obwohl der Pianist 30 Minuten schneller zum Ziel kommt.

 

Chopin       home