Das Klassik-Prisma |
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Bernd
Stremmel |
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Frederic Chopin
12 Etüden op. 25
Chopins
Etüden stehen zwar in der Reihe der Übungsetüden von Czerny, Clementi, Cramer, Kalkbrenner und Moscheles,
er hebt sie jedoch durch Raffinement und Erfindungsreichtum auf eine höhere
Ebene. Der Komponist versteht sie eher als Übungsstücke, um bisher nicht gekannte
Möglichkeiten der Klaviatur zu ergründen. Chopin wendet sich ab von der reinen
Übungsetüde und kreiert eine Form, an der auch das Publikum gefallen findet:
die Konzert-Etüde, Franz Liszt wird ihm dabei bald folgen.
Musikforscher
fragen sich, ob Chopin sich über die Unzulänglichkeiten der zeitgenössischen
Instrumente im Klaren war, anders gesagt: nicht alles was Chopin entworfen
hatte, war auch zu dieser Zeit 1 zu 1 umzusetzen. Bis jetzt bleibt dies ein
Rätsel. Chopins Werke, die eine zunehmende Beliebtheit sowohl bei Pianisten als
auch Zuhörern fanden, bedeuteten auch eine Herausforderung an die
Instrumentenbauer, ihre Instrumente weiterzuentwickeln.
Vermutlich
hatte Chopin nie die Gelegenheit, seine Etüden als vollständigen Zyklus jemals
in einem Konzert zu hören. Am ehesten wäre es Liszt gewesen, dem Widmungsträger
der ersten 12 Etüden, sie öffentlich aufzuführen. Ein Nachweis fehlt jedoch
bisher.
Auch
heute werden bei Recitals, wenn Chopin auf dem Programmzettel steht, nur
einzelne Etüden geboten, selten die komplette Serie von op. 10 oder op. 25. Ich
kann mich auch nur an eine Darbietung der ersten Serie während eines Konzerts
erinnern. Bei den Preludes op. 28 ist es genau
umgekehrt. Manche namhaften Pianisten verweigern sich den Etüden, zumindest im
Studio: Rubinstein, Gieseking, Horowitz, Richter, Gilels,
Weissenberg, Argerich haben nur ausgewählte Etüden gespielt, sofern man das von
Tonträgern beurteilen kann.
Der
ungarisch/deutsche Pianist Julian von Karolyi äußerte
sich bei einem Tischgespräch im Anschluss eines Konzerts, an dem ich auch
teilnehmen durfte, so: um technisch fit zu bleiben, sollte ein Pianist jeden
Tag vor Beginn seines Übungspensums eine Chopin-Etüde spielen.
Die
heute oft gebräuchlichen Namenszusätze stammen nicht vom Komponisten, sie
steigern lediglich ihren Wiedererkennungswert.
Werfen
wir nun einige Blicke auf ausgewählte Etüden:
(1)
Diese Etüde besitzt neben der fein polierten Oberfläche mit Bassunterstützung
auch ein Innenleben, wenn einzelne Sechzehntel aus den Ornamenten heraus mit
Akzenten versehen werden, also leicht angestoßen werden wollen, z. B. T. 15/16
der re. Hd. oder T. 17-20 der lk.
Hd. Dabei können sie sich zu kurzen Melodien formen, sofern diese „Zutaten“
Beachtung finden.
(3)
Chopin arbeitet hier mit unterschiedlichen rhythmischen Modellen, die sich
klanglich kaum unterscheiden. Hier ist es Aufgabe der Interpreten, auf diese
hinzuweisen, was jedoch nicht immer gelingt.
(5)
Diese Etüde ähnelt in den Vivace-Eckteilen der dritten Etüde, sie werden
umschlossen von einem beseelten Mittelteil in E-Dur. Die Hauptmelodie ist der
linken Hand vorbehalten, während die rechte Ornamente
in Achteltriolen und Sechzehntel beisteuert.
(7)
Aus der Reihe der vorwiegend technisch ausgerichteten Etüden fällt das cis-Moll-Lento,
ein Nocturne. Die Melodie ist überwiegend der linken Hand zugewiesen, währen
die rechte in Achteln begleitet. Was sich Chopin bei der Komposition punktierter
Achtel gleichzeitig in beiden Händen in teilweise unterschiedlicher Ausführung
gedacht hat, bleibt sein Geheimnis. In den Takten 12, 30, 31, 33, 34, 44 und 64
notiert er (immer auf dem letzten Viertel) in der rechten Hand eine
Doppelpunktierung, also nach der punktierten Achtel folgt keine Sechzehntel –
wie in der linken Hand – sondern eine Zweiunddreißigstel. Die zeitliche
Verschiebung in den beiden Händen ist zugegeben nur winzig kurz, sie sollte
aber vom Interpreten hörbar gemacht werden, wenn dieser sie nicht als ein zu
übergehender Spleen des Komponisten abtun möchte, da nach seiner Meinung die
Ohren der Zuhörer diese Differenzierung kaum wahrnehmen werden. Arrau, Cortot, Novaes, Perlemuter, Anda-55/56, Leimer, Bingham, Freire, El Bacha, Fiorentino und Lugansky
folgen dem Notentext. Diese Etüde hat einen Nachfolger in dem h-Moll-Stück
Nr. 6 der bald folgenden Preludes op. 28, jedoch auf
nur 26 Takte sublimiert.
(10)
Wie bereits in der ersten Etüde hat Chopin sowohl in der rechten als auch der
linken Hand zwischen die Oktav-Triolen Halbe und Viertel-Noten eingeflochten
und sie dabei auch mit Akzentzeichen versehen. Nicht alle Interpreten erwecken
sie zum Leben, vielleicht ist ihnen ein geschmeidiger Vortrag der Oktaven von
größerer Wichtigkeit.
(11)
Diese Etüde wird oft gedonnert, dabei wird übersehen, dass der Notentext
überwiegend ein f hergibt, nur wenig ein ff oder gar ein fff,
dieses nur in den Schlusstakten. Dasselbe gilt für die letzte Etüde. Die Etüden
(11) und (12) müssen in der Lautstärke ausgewogen gespielt werden, Höhepunkt
ist (12), nicht bereits (11).
Zuletzt
soll noch darauf hingewiesen werden, dass viele Etüden mit einem zarten p
beginnen und auch später wieder zu ihm zurückkehren. Leider wird dies oft
übersehen.
5 |
Geza Anda |
EMI Testament |
1956 |
31‘22 |
|
▼ |
|||
5 |
Geza Anda |
aura |
1965 |
29‘33 |
|
live, ▼ |
|||
5 |
Maurizio Pollini |
EMI |
1960 |
30‘45 |
|
▼ |
|||
5 |
Maurizio Pollini |
DGG |
1971 |
29‘00 |
|
▼ |
|||
5 |
Vladimir Ashkenazy |
Decca |
1972 |
33‘20 |
|
Ashkenazy
schafft es die Etüden so zu spielen, als seien sie gar nicht so schwer, als
sei die Bezeichnung „Etüde“ etwas übertrieben, Technik tritt immer zurück,
Rubato überzeugend eingesetzt, der Pianist verfügt über das richtige Gefühl
für dynamische Dossierungen |
|||
5 |
Grigory Sokolov |
Opus
111 Melodya |
1992 |
32‘02 |
|
live,
Sokolov versucht bei jeder Etüde Chopins Angaben voll gerecht zu werden, ohne
einen didaktischen Anstrich zu erwecken, Musik hat Vorrang vor technischer
Demonstration, (1) belebt, Akzente! (2) Presto, große Bögen, (3) Dynamik
entspricht nicht ganz den Erwartungen, (4) agitato, (5) poetischer
Mittelteil. (7) von großer Dichte und Spannung, Atmosphäre, (12) Akzente
schwimmen etwas |
|||
5 |
Frederic Chiu |
HM-US |
2001 |
32‘30 |
|
Chius
Interpretation geht immer über das rein Technische hinaus, orientiert sich
weitgehend an Chopins Dynamik, kein aufgesetztes Forcieren, (1) nicht nur die
Oberstimme, lässt die Musik atmen, (2) locker, geschmeidig, (5) nicht eilend,
so kommt das Verquere gut heraus, (7) ruhig, Atmosphäre, (12) in T. 30/31
Zurücknahme der Bewegung, wie ein Atmen |
|||
5 |
Zlata Chochieva |
Piano
Classics |
2014 |
30‘51 |
|
ohne
Hektik, Pianistin lässt immer wieder mit Details aufhorchen, (1) nicht nur
die Oberstimme! (2) sehr geschmeidig und locker, (3) deutliche
unterschiedliche rhythmische Modelle, (4) locker, Oberstimme immer deutlich,
(5) bester Ausgleich zwischen den Händen, (6) aufmerksame lk.
Hd., (7) trotz langsamen Tempos lebendig, (8) Bassmelodien herausgearbeitet, (11)
immer deutliche lk. Hd., nicht nur Beiwerk |
|||
Anton Kuerti |
Monitor |
1971 |
32‘09 |
|
|
Kuerti wie gewohnt immer nahe am
Notentext, Musik gestaltet, (1) ruhig, Höhepunkte genau dosiert, (4) Bögen,
(6) geschmeidige Sexten, lk. und re. Hd. in ausgewogener Balance, (7) mit langem Atem,
überzeugende Dynamik, (9) leggiero, (10) MT
in einer ganz anderen Welt, lento, (11) eher relaxt gespielt, kein fuoco,
so kann auch (12) zum abschließenden Höhepunkt werden |
|||
|
||||
4-5 |
Beatrice Rana |
Warner |
2020 |
32‘29 |
|
Rubati
bewusst als Gestaltungsmittel eingesetzt, könnte jedoch als manieriert
verstanden werden, keineswegs eine Interpretation von der Stange, beste
nachschöpferische Leistung, (1) Nocturne, nicht nur die Oberstimme, (2) lange
Bögen, (5) lk. Hd. gestaltet, (7) Nocturne, (9)
ganz locker, (12) in T. 30/31 Zurücknahme der Bewegung, wie ein Atmen |
|||
4-5 |
Jan Lisiecki |
DGG |
2013 |
31‘32 |
|
blitzblank,
aber keineswegs geglättet, sorgfältiger Umgang mit der Dynamik, (1) p!, “Zutaten“, ruhig fließend, (2) spannungsvoll,
Basslinien durchgehend hervorgehoben, (3) verschiedene rhythmische Modelle,
(6) immer wieder die Basslinie, (7) nachdenklich, (12) con
fuoco nicht ab dem ersten Takt, Bass! |
|||
4-5 |
Nikolai Lugansky |
Erato |
1999 |
30‘55 |
|
Lugansky
wartet nicht nur mit blitzblanker Technik auf, sondern öffnet auch einen
Blick auf musikalische Zusammenhänge, der Umgang mit der Dynamik ist hier
besser als bei vielen anderen, (1) relaxt, sehr gleichmäßig, „Zutaten“, (2)
gefällig, (6) etwas geglättet, (7) dynamische Abstufungen zwischen re. und lk. Hd. nicht
übersehen, emotional jedoch etwas zurückhaltend, (10) MT wie ein zartes
Pflänzchen inmitten stürmischer See |
|||
4-5 |
Garrick Ohlsson |
hyperion |
1996 |
31‘33 |
|
immer
geschmackvoll, kaum forcierend, (1) Nocturne, (2) sehr geschmeidig, auch (6),
(11) nicht immer mit höchster Spannung |
|||
4-5 |
Wilhelm Backhaus |
EMI |
1928 |
26‘32 |
|
Backhaus
als überragender Chopin-Interpret am Anfang seiner Karriere, (1) passionato,
(2) Presto, (6) geschmeidig, (7) bewegt, (9) locker, aber nicht elegant, (11)
lk. Hd. etwas zurückhaltend, (12) man spürt
Backhausens großes technisches Potential |
|||
4-5 |
Geza Anda |
Ariola-Eurodisc |
1955 |
30‘11 |
|
live, ▼ |
|||
4-5 |
Geza Anda |
audite |
1955 |
29‘46 |
|
▼ |
|||
4-5 |
Geza Anda |
Orfeo |
1965 |
30‘44 |
|
live, ▼ |
|||
4-5 |
Nelson Freire |
Decca |
2002 |
29‘26 |
|
Freire als
gereifter Interpret, der nicht sein Klavierhandwerk vorführen will, (2)
leicht und locker, geschmeidig, (4) dynamisch gut dosiert, (5) Mittelstimme
T. 15-24 weniger deutlich, (6) Terzen T. 4 und 8 nicht ganz rund, (7)
geschmackvoll, (9) gutes Tempo, geschmeidig, (11) ohne Gewalt, eigene
Dynamik-Ideen einbezogen |
|||
4-5 |
Adbel Rahman El Bacha |
Forlane |
1999 |
31‘00 |
|
Chopin pur,
wenige persönliche Zutaten, aber keinesfalls nur objektiv, den Etüden ganz
nahe auf der Spur, (4) die Hektik herausgearbeitet, (5) leggiero,
(10) eingeschlossene Melodiefetzen quasi Mittelstimme kaum beachtet, MT etwas
nüchtern |
|||
4-5 |
Guimar Novaes
|
Vox |
~ 1954 |
30‘47 |
|
weitgehend
didaktische Darbietung, sympathisch, immer sehr deutlich, keine andere
Aufnahme bringt so viele Nebenstimmen ans Licht, Dynamik nicht immer nach
Partitur, etwas stumpfer Klang, (1) in großen Bögen, auch in (2), rhythmische
Modelle herausgearbeitet, (5) deutliche Oberstimme (6) Nebenstimmen genau
artikuliert, (10) MT mit Poesie |
|||
4-5 |
Murray Perahia |
Sony |
2001 |
29‘13 |
|
persönlichkeitsstarke
Interpretation, elastisches Klavierspiel, (1) mit allen „Zutaten“, Perahia verlässt jedoch anfängliches p, (2) sehr
geschmeidig, (4) p-Bereich vernachlässigt, auch im MT von (5), (6) lk. Hd. wie nur nebenbei, (7) erfülltes Zusammenspiel
zwischen beiden Händen, (12) Spannungsbögen, Bassnoten immer als ruhender Pol |
|||
|
||||
4 |
Vlado Perlemuter |
Nimbus |
1982 |
31‘57 |
|
vornehmes
Klavierspiel, Pianist will nichts beweisen, überwiegend locker, (1) mit
„Zugaben“, sonore Bassmarkierungen, (2) p-Kultur, (4) hier ruckelt es
etwas, (7) ohne aufgesetztes Espressivo, (8) klar und transparent, (11)
anfangs f statt p, ohne den Drive anderer Interpretationen |
|||
4 |
Claudio Arrau |
EMI |
1956 |
32‘31 |
|
immer sehr
sorgfältig, zurückhaltende Tempi; Arrau verzichtet darauf, die Etüden
interessant zu machen; legt großen Wert auf p, Klangbild etwas mulmig
und stumpf, weniger klar, führte zur Herabstufung! |
|||
4 |
Shura Cherkassky |
EMI Philips |
1955 |
29‘22 |
|
Cherkassky
immer locker, zuverlässige Technik, Dynamik nicht immer nach Notentext, (1) Rubati, (2) Presto, (4) deutliche Oberstimmen, (6) ganz
locker, (7) bewegt, atmosphärisch dicht, (10) belegter MT, (12) Bassnoten
immer betont |
|||
4 |
Boris Berezowsky |
Teldec |
1991 |
31‘41 |
|
Berezowsky
auf der Suche nach der jeweiligen Stimmungslage hinter der vordergründigen
Brillanz der re. Hd, (1)
schwache Bass-Akzente, (4) Diskant immer hervor, (5) Chopins Dynamik nicht
immer übernommen, (6) Dynamik bleibt im p-Bereich, (7)
empfindsam und ausdrucksvoll, (9) geschmeidig, (10) Binnenstimmen beachtet,
(12) dynamische Wellen mittels cresc. und dim. |
|||
4 |
Earl Wild |
Chesky |
1992 |
28‘00 |
|
Wild bemüht
sich um einen schlanken Vortragsstil, elastisch, locker (in 11 und 12) jedoch
weniger, (1) dezente „Zutaten“, ruhig, (3) ohne p, ähnlich bei (4),
(5) abwechslungsreich, (6) es wird nicht deutlich, dass nicht nur die Terzen
die Hauptsache sind, (7) mit Feinsinn, (10) warum nicht leiser? Eckteile etwas drauflos gespielt |
|||
4 |
Adam Harasiewicz |
Philips |
P 1961 |
32‘41 |
|
keine
Extreme ansteuernd, Chopin auf einem ausgeglichenen Mittelweg, (1) deutliche
Nebenstimmen der lk. Hd., (3) zu laut, Unterschied
von p zu f gering, (5) im abgesicherten Modus, (8) etwas
vorsichtig, (10) im MT klingen in den Achtelketten jeweils die 5. und 6. Note
wie abgekoppelt, (11) und (12) nur Etüden |
|||
4 |
Augustin Anievas |
EMI |
1966 |
28‘46 |
|
Anievas
forciert nicht mehr als nötig, will nichts beweisen, lässt keine technischen
Schwierigkeiten erahnen, verbindet mehrmals cresc. mit accel., bleibt
insgesamt aber etwas monoton, (1) kaum Bass-Akzente, (4) legato-Oberstimme
kaum herausgestellt, (6) geschmeidig, (7) bewegt, (9) elegant, (11) souverän |
|||
4 |
Lang Lang |
Sony |
2012 |
32‘55 |
|
keine
einheitliche Darstellung, fragwürdige Lösungen wechseln sich mit Darbietungen
im Sinne des Notentextes ab, (1) wie ein Auf- und Abstieg, (2) lk. Hd. tritt ganz zurück, (3) ein Kraftakt, (5) gut, (5)
aufgeweichte Tempi, die letzten 9 Takte vom Vorherigen losgelöst, (6) in den
ersten vier Takten treten die oberen Noten hervor, Etüde in Abschnitte
parzelliert, (7) überwiegend zart bei guter dynamischer Differenzierung, (9)
leicht und locker, (10) con fuoco,
aber auch gedonnert, MT gelassen |
|||
4 |
Kurt Leimer |
DGG Colosseum |
1953 |
28‘42 |
|
etwas
sachlicher Vortragsstil, p-Bereich nicht nach Notentext, leicht
belegtes Klangbild, (3) rhythmische Modelle herausgearbeitet, (4) pauschale
Dynamik, (7) Andante con moto, ohne Duft, (10) weitgehend ohne legato,
am Ende von T. 28 ohne Fermate |
|||
4 |
Gregory Ginzburg |
Melodya monopole |
~ 1952 |
31‘55 |
|
uneinheitlich,
die letzten Etüden hinterlassen den stärksten Eindruck, technische
Unzulänglichkeiten, (1) Poesie, (2) Presto, (3) Anfang undeutlich, ohne p,
(4) pointiert, (5) MT sehr deutliche lk. Hd., (7)
stark! |
|||
4 |
François-René Duchable |
Erato |
1980 |
30‘52 |
|
(1) Duchable konzentriert sich auf die Oberstimme, Ornamente
eher Nebensache, weniger ausgezirkelt, (3) dynamische Unterschiede fehlen,
(4) kein agitato, wenig Dynamik, (6) Eleganz, locker, (7) etwas
nüchtern, T. 26/27 fehlende Übersicht, (10) ohne Magie in den Eckteilen,
wenig Poesie im MT – CD klingt wenig farbig, etwas steril |
|||
4 |
Andreij Gawrilow |
EMI |
1987 |
29‘35 |
|
in Gawrilows Aufnahme tritt die Demonstration technischer
Bewältigung vor einen poetischen Ansatz, die Musik bleibt eher an der
Oberfläche, der p-Bereich bleibt auf Sparflamme, das mechanische
Gelingen steht im Vordergrund, erreicht aber nicht immer allerhöchstes Niveau,
vgl. z. B. die Terzen in (7) mit Pollini, (12) großer Auftritt – insgesamt
uneinheitlich |
|||
4 |
John Bingham |
Meridian |
P 1993 |
34‘24 |
|
insgesamt
etwas uneinheitlich, (1) „Zutaten“ T. 14-18 nicht übersehen, (3) verschiedene
rhythmische Modelle werden gezeigt, (4) abwechslungsreich, (6) leuchtender
Diskant, mulmiger Bass, unbefriedigend, (7) T. 26/27 nicht mit höchster
Spannung, (8) etwas mulmiger Klang beim Treten des Haltpedals, (10) MT ohne
Spannung, (12) nicht immer deutliche Akzente in der Mittelstimme in den T.
16, 18, 20 und später – Yamaha-Flügel mit sehr hellem Diskant |
|||
|
||||
3-4 |
Alfredo Cortot |
EMI |
1934 |
27‘51 |
|
überwiegend
schwungvoll, immer leicht und locker, einige Fehlgriffe im, p-Bereich
sehr großzügig, (1) Oberstimme herausgestellt, einige „Zutaten“, (2) Presto:
1:23, (5) das schnelle Tempo der Eckteile
überfordert Cortots technische Möglichkeiten, (7)
bewegt, trotzdem eindringlich, nachschlagende Hände, (10) MT Sprung von T. 68
zu T. 89, (11) anfangs zu laut, etwas holprig, (12) bemüht |
|||
3-4 |
Samson François |
EMI |
1959 |
31`45 |
|
François
geht weniger zielstrebig voran, Chopins Dynamik nicht konsequent übernommen,
(1) re. Hd. hat Vorrang, nur eine Etüde, (3) zu
laut, (4) kaum agitato, (5) viel Rubato, (6) weniger locker, (7)
Stimmführungen nicht immer klar, (9) ohne assai, (11) Beginn im f, lk. Hd. nicht immer als führend verstanden |
|||
3-4 |
Yu Kosuge |
Sony |
1999 |
30‘20 |
|
Mit 16
Jahren aufgenommen – insgesamt wenig p-Spiel, Dynamik bleibt im
mittleren Bereich stecken, Etüde nur als technische Herausforderung, die
poetische Seite hat sich der Pianistin noch nicht erschlossen, (1) ohne
Chopins Zutaten unterhalb der Oberstimme, (9) kein richtiges Leggiero, (10) MT ziemlich leer, (12)
heruntergedroschen |
|||
3-4 |
Rafael Orozco |
Erato Warner |
1971 |
30‘53 |
|
Oroscos
Klavierspiel nicht so geschliffen wie das von Tastenvirtuosen seines Alters,
eher robust; hier scheint es eher um Etüden, weniger um Poesie zu gehen, der p-Bereich
bleibt sehr oft ausgespart, (6) etwas hektisch, Terzen ohne Duft, (7) T.
26/27 fast brutal, (10) zu viel Power, Innennoten übersehen, wenig Poesie im
MT, (11) f = ff, (12) grandioso |
|||
|
||||
3 |
Sergio Fiorentino |
Piano
Classics |
1959 |
29‘38 |
|
Klavierhandwerk
hier nicht auf allerhöchstem Niveau, (3) rhythmische Modelle
herausgearbeitet, (4) Oberstimme nicht durchgehend dargestellt, (5) wenig
geschmeidig, auch (6) Terzen, (7) T.22-27 ohne Übersicht, T. 36 sehr lange
Fermate, (10) am Ende von T. 28 keine Fermate, auch T. 66 und T. 86, (12) p
nicht erst ab T. 31 sondern bereits ab T. 1 |
|||
3 |
Alexander Uninsky |
Philips forgotten records |
1954 |
30‘27 |
|
Erinnerung
an einen einst bekannten Solisten, der noch nicht über die Klaviertechnik der
Pianisten aus jüngster Zeit verfügte, (1) und (2) etwas weniger geschmeidig,
(3) kaum Spannung, (4) etwas spröde, (7) etwas hölzern, die letzten drei
Etüden hinterlassen den stärksten Eindruck – teilweise etwas belegter Klang |
Hinweise
zu Interpreten und Interpretationen
Geza
Anda
Geza
Anda erweist sich bei Chopins Etüden als ebenso technisch überragenden wie auch
feinsinnig agierenden Pianisten, der den Notentext gründlich studiert und mit
spürbarer Hingabe überzeugend umsetzt. Perfektion verbindet sich bei ihm mit
Poesie, Gesanglichkeit und Eleganz. Bevor er die
Etüden op. 25 1956 in London für EMI einspielte, hat er sie mehrmals im
Konzertsaal erprobt: Ein Jahr zuvor standen sie auf dem Programm seines
Konzertes bei den Schwetzinger Festspielen, die der Südwestfunk aufzeichnete
und später als LP von Ariola auf den Markt kam, heute sind sie als CD bei SWR music erhältlich. Nur zwei Monate später spielte sie Anda
für der WDR ein, sie wurden später von audite auf den
Markt gebracht. Auch etliche Jahre später, als sich der Pianist Mozarts
Klavierkonzerten zuwandte, kehrt er wieder zu den Etüden zurück: 1965 stehen
sie bei den Salzburger Festspielen auf dem Programm, sechs Wochen später bei
einem Recital in Ascona. Auch diese Mitschnitte sind als CD bei Orfeo bzw. aura greifbar. In der Studio-Aufnahme gliedert er die erste
Etüde in große Bögen, wie ein Lied mit mehreren Strophen, dabei fungieren die
letzten sechs Takte wie das Klaviernachspiel. Die kurzen Nebenstimmen werden
von ihm allerdings kaum beachtet, vermutlich lenken sie vom Fluss der Musik ab.
Funkelnd, auch in Bögen, absolviert er die zweite Etüde. In der dritten und
fünften arbeitet er die unterschiedlichen rhythmischen Modelle wie kaum ein
anderer so deutlich heraus. Bei etlichen Pianistinnen und Pianisten hört sich
die Musik hier ziemlich gleich an. Die hier aus der Reihe fallende siebte Etüde
wird erzählend in romantischem Geist dargeboten, das klingt nahezu vollkommen.
In der folgenden fallen die sinnstiftenden Rubati
auf, die durch entsprechende Vortragszeichen nicht so ohne weiteres dem Notentext
entnommen werden können. In Etüde 10 zeigt sich erneut Andas gründliche Lektüre
des Notentextes: für ihn sind die Oktaven nicht nur eine Fortsetzung der
Oktavbewegung, wie ein Anhängsel, sondern sie müssen separat gestaltet werden,
als etwas Eigenes, bevor der Mittelteil einsetzt. Bei der vorletzten Etüde kann
man wieder die Gliederung des musikalischen Ablaufs bewundern. In der zwölften
wird die Musik nicht durchgezogen, sondern mit pointierter Dramatik aufgeladen.
Andas Studio-Einspielung ist in meinen Augen eine vollkommene Verwirklichung
von Chopins Absichten, die auch Pollini nicht ganz so überzeugend gelingt. Im
Vergleich mit der im selben Jahr erfolgten Aufnahme der Etüden mit Claudio
Arrau beim selben Label erfreut hier der viel bessere Klang. Die restlichen
vier hier aufgeführten Aufnahmen/Mitschnitte kommen ihr von der musikalischen
Gestaltung ganz nahe, in den beiden späteren hat man den Eindruck, dass Anda
den Notentext noch mehr zu einer etwas freieren Ausgestaltung nutzt, die einen
überzeugenden Eindruck hinterlässt. Klanglich müssen jedoch einige wenige
Abstriche hingenommen werden, so auch etliche Huster in Salzburg.
Maurizio
Pollini
Nachdem
der 18jährige Pollini 1960 den renommierten Chopin-Wettbewerb von Warschau
gewonnen hatte, wurde er sofort von His Masters Voice zur Aufnahme von Chopins
1. Klavierkonzert verpflichtet. Die Aufnahme fand bereits einen Monat später
mit dem Philharmonia Orchester unter Leitung von Paul
Kletzki in London statt, die LP wurde ein großer
Erfolg. Eine weitere Einspielung erfolgte noch im September 1960 im Abbey Road
Studio Nr. 1 in London: Chopins Etüden op. 10 und op. 25. Der Produzent Peter Andry erinnerte sich Jahre später in seinem Buch Inside the Recording Studio (London 2008) an Pollinis Spiel
während der Aufnahme-Sitzungen: „Das war eine Pianistik
der allerbesten Art. Selten hatte ich etwas derart Vollkommenes gehört. Er
schien diese schwierigen Werke ohne Mühen zu spielen.“ Tief verwundert und
enttäuscht waren allerdings die HMV-Manager über Pollinis Weigerung, die Bänder
zur Veröffentlichung freizugeben. Der jugendliche Pollini fühlte sich noch
nicht reif für das bevorstehende Konzertleben, sagte alle bereits vereinbarten
Konzerttermine ab, zog sich zum Studium zurück, um sich ein größeres Repertoire
aufzubauen. Die Aufnahmen der Chopin-Etüden blieben im Archiv liegen und wurden
vergessen. Erst 2011, 51 Jahre nach der Aufnahme, wurden sie vom englischen
Label Testament aus der Schublade geholt und als CD der Musikwelt übergeben.
Sie trafen dabei auf die Aufnahme der Etüden des Labels DGG, die der gereifte
Pollini – 11 Jahre später – 1971 eingespielt hatte. Beide Interpretationen sind
von höchstem Rang. Bereits 1960 kniete sich der junge Künstler in die einzelnen
Stücke, erforschte ihr Innenleben und brachte die versteckten Melodien
unterhalb der Oberstimmen ohne mit einem pädagogischen Zeigefinger hervor. Mit
höchster Brillanz bewältigte er Stück für Stück. Eine klare Aufnahmetechnik
ermöglichte auch einen analytischen Klang. Im Hörvergleich mit der DGG-Aufnahme
zeigt diese eine Vertiefung des früheren Ansatzes: Pollini feilt an der
Dynamik, spielt hier und da lockerer, mit noch mehr Übersicht, und auch Schwung
in einigen Stücken. Die DGG-Aufnahme bietet einen abgerundeten Klang, mit etwas
Hallanteil gegenüber der Erstaufnahme.
eingestellt
am 25. 02. 22