Das Klassik-Prisma

 

 Bernd Stremmel

www.klassik-prisma.de

Diese Webseite ist urheberrechtlich geschützt

 

Chopin   home

Frederic Chopin

 

 12 Etüden op. 25

 

Chopins Etüden stehen zwar in der Reihe der Übungsetüden von Czerny, Clementi, Cramer, Kalkbrenner und Moscheles, er hebt sie jedoch durch Raffinement und Erfindungsreichtum auf eine höhere Ebene. Der Komponist versteht sie eher als Übungsstücke, um bisher nicht gekannte Möglichkeiten der Klaviatur zu ergründen. Chopin wendet sich ab von der reinen Übungsetüde und kreiert eine Form, an der auch das Publikum gefallen findet: die Konzert-Etüde, Franz Liszt wird ihm dabei bald folgen.

 

Musikforscher fragen sich, ob Chopin sich über die Unzulänglichkeiten der zeitgenössischen Instrumente im Klaren war, anders gesagt: nicht alles was Chopin entworfen hatte, war auch zu dieser Zeit 1 zu 1 umzusetzen. Bis jetzt bleibt dies ein Rätsel. Chopins Werke, die eine zunehmende Beliebtheit sowohl bei Pianisten als auch Zuhörern fanden, bedeuteten auch eine Herausforderung an die Instrumentenbauer, ihre Instrumente weiterzuentwickeln.

 

Vermutlich hatte Chopin nie die Gelegenheit, seine Etüden als vollständigen Zyklus jemals in einem Konzert zu hören. Am ehesten wäre es Liszt gewesen, dem Widmungsträger der ersten 12 Etüden, sie öffentlich aufzuführen. Ein Nachweis fehlt jedoch bisher.

 

Auch heute werden bei Recitals, wenn Chopin auf dem Programmzettel steht, nur einzelne Etüden geboten, selten die komplette Serie von op. 10 oder op. 25. Ich kann mich auch nur an eine Darbietung der ersten Serie während eines Konzerts erinnern. Bei den Preludes op. 28 ist es genau umgekehrt. Manche namhaften Pianisten verweigern sich den Etüden, zumindest im Studio: Rubinstein, Gieseking, Horowitz, Richter, Gilels, Weissenberg, Argerich haben nur ausgewählte Etüden gespielt, sofern man das von Tonträgern beurteilen kann.

 

Der ungarisch/deutsche Pianist Julian von Karolyi äußerte sich bei einem Tischgespräch im Anschluss eines Konzerts, an dem ich auch teilnehmen durfte, so: um technisch fit zu bleiben, sollte ein Pianist jeden Tag vor Beginn seines Übungspensums eine Chopin-Etüde spielen.

 

Die heute oft gebräuchlichen Namenszusätze stammen nicht vom Komponisten, sie steigern lediglich ihren Wiedererkennungswert.

 

 

Werfen wir nun einige Blicke auf ausgewählte Etüden:

 

(1) Diese Etüde besitzt neben der fein polierten Oberfläche mit Bassunterstützung auch ein Innenleben, wenn einzelne Sechzehntel aus den Ornamenten heraus mit Akzenten versehen werden, also leicht angestoßen werden wollen, z. B. T. 15/16 der re. Hd. oder T. 17-20 der lk. Hd. Dabei können sie sich zu kurzen Melodien formen, sofern diese „Zutaten“ Beachtung finden.

 

(3) Chopin arbeitet hier mit unterschiedlichen rhythmischen Modellen, die sich klanglich kaum unterscheiden. Hier ist es Aufgabe der Interpreten, auf diese hinzuweisen, was jedoch nicht immer gelingt.

 

(5) Diese Etüde ähnelt in den Vivace-Eckteilen der dritten Etüde, sie werden umschlossen von einem beseelten Mittelteil in E-Dur. Die Hauptmelodie ist der linken Hand vorbehalten, während die rechte Ornamente in Achteltriolen und Sechzehntel beisteuert.

 

(7) Aus der Reihe der vorwiegend technisch ausgerichteten Etüden fällt das cis-Moll-Lento, ein Nocturne. Die Melodie ist überwiegend der linken Hand zugewiesen, währen die rechte in Achteln begleitet. Was sich Chopin bei der Komposition punktierter Achtel gleichzeitig in beiden Händen in teilweise unterschiedlicher Ausführung gedacht hat, bleibt sein Geheimnis. In den Takten 12, 30, 31, 33, 34, 44 und 64 notiert er (immer auf dem letzten Viertel) in der rechten Hand eine Doppelpunktierung, also nach der punktierten Achtel folgt keine Sechzehntel – wie in der linken Hand – sondern eine Zweiunddreißigstel. Die zeitliche Verschiebung in den beiden Händen ist zugegeben nur winzig kurz, sie sollte aber vom Interpreten hörbar gemacht werden, wenn dieser sie nicht als ein zu übergehender Spleen des Komponisten abtun möchte, da nach seiner Meinung die Ohren der Zuhörer diese Differenzierung kaum wahrnehmen werden. Arrau, Cortot, Novaes, Perlemuter, Anda-55/56, Leimer, Bingham, Freire, El Bacha, Fiorentino und Lugansky folgen dem Notentext. Diese Etüde hat einen Nachfolger in dem h-Moll-Stück Nr. 6 der bald folgenden Preludes op. 28, jedoch auf nur 26 Takte sublimiert.

 

(10) Wie bereits in der ersten Etüde hat Chopin sowohl in der rechten als auch der linken Hand zwischen die Oktav-Triolen Halbe und Viertel-Noten eingeflochten und sie dabei auch mit Akzentzeichen versehen. Nicht alle Interpreten erwecken sie zum Leben, vielleicht ist ihnen ein geschmeidiger Vortrag der Oktaven von größerer Wichtigkeit.

 

(11) Diese Etüde wird oft gedonnert, dabei wird übersehen, dass der Notentext überwiegend ein f hergibt, nur wenig ein ff oder gar ein fff, dieses nur in den Schlusstakten. Dasselbe gilt für die letzte Etüde. Die Etüden (11) und (12) müssen in der Lautstärke ausgewogen gespielt werden, Höhepunkt ist (12), nicht bereits (11).

 

Zuletzt soll noch darauf hingewiesen werden, dass viele Etüden mit einem zarten p beginnen und auch später wieder zu ihm zurückkehren. Leider wird dies oft übersehen.

 

 

5

Geza Anda

EMI    Testament

1956

31‘22

 

5

Geza Anda

aura

1965

29‘33

 

live,

5

Maurizio Pollini

EMI

1960

30‘45

 

5

Maurizio Pollini

DGG

1971

29‘00

 

5

Vladimir Ashkenazy

Decca

1972

33‘20

 

Ashkenazy schafft es die Etüden so zu spielen, als seien sie gar nicht so schwer, als sei die Bezeichnung „Etüde“ etwas übertrieben, Technik tritt immer zurück, Rubato überzeugend eingesetzt, der Pianist verfügt über das richtige Gefühl für dynamische Dossierungen

5

Grigory Sokolov

Opus 111      Melodya

1992

32‘02

 

live, Sokolov versucht bei jeder Etüde Chopins Angaben voll gerecht zu werden, ohne einen didaktischen Anstrich zu erwecken, Musik hat Vorrang vor technischer Demonstration, (1) belebt, Akzente! (2) Presto, große Bögen, (3) Dynamik entspricht nicht ganz den Erwartungen, (4) agitato, (5) poetischer Mittelteil. (7) von großer Dichte und Spannung, Atmosphäre, (12) Akzente schwimmen etwas

5

Frederic Chiu

HM-US

2001

32‘30

 

Chius Interpretation geht immer über das rein Technische hinaus, orientiert sich weitgehend an Chopins Dynamik, kein aufgesetztes Forcieren, (1) nicht nur die Oberstimme, lässt die Musik atmen, (2) locker, geschmeidig, (5) nicht eilend, so kommt das Verquere gut heraus, (7) ruhig, Atmosphäre, (12) in T. 30/31 Zurücknahme der Bewegung, wie ein Atmen

5

Zlata Chochieva

Piano Classics

2014

30‘51

 

ohne Hektik, Pianistin lässt immer wieder mit Details aufhorchen, (1) nicht nur die Oberstimme! (2) sehr geschmeidig und locker, (3) deutliche unterschiedliche rhythmische Modelle, (4) locker, Oberstimme immer deutlich, (5) bester Ausgleich zwischen den Händen, (6) aufmerksame lk. Hd., (7) trotz langsamen Tempos lebendig, (8) Bassmelodien herausgearbeitet, (11) immer deutliche lk. Hd., nicht nur Beiwerk

5

Anton Kuerti

Monitor

1971

32‘09

 

Kuerti wie gewohnt immer nahe am Notentext, Musik gestaltet, (1) ruhig, Höhepunkte genau dosiert, (4) Bögen, (6) geschmeidige Sexten, lk. und re. Hd. in ausgewogener Balance, (7) mit langem Atem, überzeugende Dynamik, (9) leggiero, (10) MT in einer ganz anderen Welt, lento, (11) eher relaxt gespielt, kein fuoco, so kann auch (12) zum abschließenden Höhepunkt werden

 

 

4-5

Beatrice Rana

Warner

2020

32‘29

 

Rubati bewusst als Gestaltungsmittel eingesetzt, könnte jedoch als manieriert verstanden werden, keineswegs eine Interpretation von der Stange, beste nachschöpferische Leistung, (1) Nocturne, nicht nur die Oberstimme, (2) lange Bögen, (5) lk. Hd. gestaltet, (7) Nocturne, (9) ganz locker, (12) in T. 30/31 Zurücknahme der Bewegung, wie ein Atmen

4-5

Jan Lisiecki

DGG

2013

31‘32

 

blitzblank, aber keineswegs geglättet, sorgfältiger Umgang mit der Dynamik, (1) p!, “Zutaten“, ruhig fließend, (2) spannungsvoll, Basslinien durchgehend hervorgehoben, (3) verschiedene rhythmische Modelle, (6) immer wieder die Basslinie, (7) nachdenklich, (12) con fuoco nicht ab dem ersten Takt, Bass!

4-5

Nikolai Lugansky

Erato

1999

30‘55

 

Lugansky wartet nicht nur mit blitzblanker Technik auf, sondern öffnet auch einen Blick auf musikalische Zusammenhänge, der Umgang mit der Dynamik ist hier besser als bei vielen anderen, (1) relaxt, sehr gleichmäßig, „Zutaten“, (2) gefällig, (6) etwas geglättet, (7) dynamische Abstufungen zwischen re. und lk. Hd. nicht übersehen, emotional jedoch etwas zurückhaltend, (10) MT wie ein zartes Pflänzchen inmitten stürmischer See

4-5

Garrick Ohlsson

hyperion

1996

31‘33

 

immer geschmackvoll, kaum forcierend, (1) Nocturne, (2) sehr geschmeidig, auch (6), (11) nicht immer mit höchster Spannung

4-5

Wilhelm Backhaus

EMI

1928

26‘32

 

Backhaus als überragender Chopin-Interpret am Anfang seiner Karriere, (1) passionato, (2) Presto, (6) geschmeidig, (7) bewegt, (9) locker, aber nicht elegant, (11) lk. Hd. etwas zurückhaltend, (12) man spürt Backhausens großes technisches Potential

4-5

Geza Anda

Ariola-Eurodisc

1955

30‘11

 

live,

4-5

Geza Anda

audite

1955

29‘46

 

4-5

Geza Anda

Orfeo

1965

30‘44

 

live,

4-5

Nelson Freire

Decca

2002

29‘26

 

Freire als gereifter Interpret, der nicht sein Klavierhandwerk vorführen will, (2) leicht und locker, geschmeidig, (4) dynamisch gut dosiert, (5) Mittelstimme T. 15-24 weniger deutlich, (6) Terzen T. 4 und 8 nicht ganz rund, (7) geschmackvoll, (9) gutes Tempo, geschmeidig, (11) ohne Gewalt, eigene Dynamik-Ideen einbezogen

4-5

Adbel Rahman El Bacha

Forlane

1999

31‘00

 

Chopin pur, wenige persönliche Zutaten, aber keinesfalls nur objektiv, den Etüden ganz nahe auf der Spur, (4) die Hektik herausgearbeitet, (5) leggiero, (10) eingeschlossene Melodiefetzen quasi Mittelstimme kaum beachtet, MT etwas nüchtern

4-5

Guimar Novaes

Vox

~ 1954

30‘47

 

weitgehend didaktische Darbietung, sympathisch, immer sehr deutlich, keine andere Aufnahme bringt so viele Nebenstimmen ans Licht, Dynamik nicht immer nach Partitur, etwas stumpfer Klang, (1) in großen Bögen, auch in (2), rhythmische Modelle herausgearbeitet, (5) deutliche Oberstimme (6) Nebenstimmen genau artikuliert, (10) MT mit Poesie

4-5

Murray Perahia

Sony

2001

29‘13

 

persönlichkeitsstarke Interpretation, elastisches Klavierspiel, (1) mit allen „Zutaten“, Perahia verlässt jedoch anfängliches p, (2) sehr geschmeidig, (4) p-Bereich vernachlässigt, auch im MT von (5), (6) lk. Hd. wie nur nebenbei, (7) erfülltes Zusammenspiel zwischen beiden Händen, (12) Spannungsbögen, Bassnoten immer als ruhender Pol

 

 

4

Vlado Perlemuter

Nimbus

1982

31‘57

 

vornehmes Klavierspiel, Pianist will nichts beweisen, überwiegend locker, (1) mit „Zugaben“, sonore Bassmarkierungen, (2) p-Kultur, (4) hier ruckelt es etwas, (7) ohne aufgesetztes Espressivo, (8) klar und transparent, (11) anfangs f statt p, ohne den Drive anderer Interpretationen

4

Claudio Arrau

EMI

1956

32‘31

 

immer sehr sorgfältig, zurückhaltende Tempi; Arrau verzichtet darauf, die Etüden interessant zu machen; legt großen Wert auf p, Klangbild etwas mulmig und stumpf, weniger klar, führte zur Herabstufung!

4

Shura Cherkassky

EMI          Philips

1955

29‘22

 

Cherkassky immer locker, zuverlässige Technik, Dynamik nicht immer nach Notentext, (1) Rubati, (2) Presto, (4) deutliche Oberstimmen, (6) ganz locker, (7) bewegt, atmosphärisch dicht, (10) belegter MT, (12) Bassnoten immer betont

4

Boris Berezowsky

Teldec

1991

31‘41

 

Berezowsky auf der Suche nach der jeweiligen Stimmungslage hinter der vordergründigen Brillanz der re. Hd, (1) schwache Bass-Akzente, (4) Diskant immer hervor, (5) Chopins Dynamik nicht immer übernommen, (6) Dynamik bleibt im p-Bereich, (7) empfindsam und ausdrucksvoll, (9) geschmeidig, (10) Binnenstimmen beachtet, (12) dynamische Wellen mittels cresc. und dim.

4

Earl Wild

Chesky

1992

28‘00

 

Wild bemüht sich um einen schlanken Vortragsstil, elastisch, locker (in 11 und 12) jedoch weniger, (1) dezente „Zutaten“, ruhig, (3) ohne p, ähnlich bei (4), (5) abwechslungsreich, (6) es wird nicht deutlich, dass nicht nur die Terzen die Hauptsache sind, (7) mit Feinsinn, (10) warum nicht leiser? Eckteile etwas drauflos gespielt

4

Adam Harasiewicz

Philips

P 1961

32‘41

 

keine Extreme ansteuernd, Chopin auf einem ausgeglichenen Mittelweg, (1) deutliche Nebenstimmen der lk. Hd., (3) zu laut, Unterschied von p zu f gering, (5) im abgesicherten Modus, (8) etwas vorsichtig, (10) im MT klingen in den Achtelketten jeweils die 5. und 6. Note wie abgekoppelt, (11) und (12) nur Etüden

4

Augustin Anievas

EMI

1966

28‘46

 

Anievas forciert nicht mehr als nötig, will nichts beweisen, lässt keine technischen Schwierigkeiten erahnen, verbindet mehrmals cresc. mit accel., bleibt insgesamt aber etwas monoton, (1) kaum Bass-Akzente, (4) legato-Oberstimme kaum herausgestellt, (6) geschmeidig, (7) bewegt, (9) elegant, (11) souverän

4

Lang Lang

Sony

2012

32‘55

 

keine einheitliche Darstellung, fragwürdige Lösungen wechseln sich mit Darbietungen im Sinne des Notentextes ab, (1) wie ein Auf- und Abstieg, (2) lk. Hd. tritt ganz zurück, (3) ein Kraftakt, (5) gut, (5) aufgeweichte Tempi, die letzten 9 Takte vom Vorherigen losgelöst, (6) in den ersten vier Takten treten die oberen Noten hervor, Etüde in Abschnitte parzelliert, (7) überwiegend zart bei guter dynamischer Differenzierung, (9) leicht und locker, (10) con fuoco, aber auch gedonnert, MT gelassen

4

Kurt Leimer

DGG       Colosseum

1953

28‘42

 

etwas sachlicher Vortragsstil, p-Bereich nicht nach Notentext, leicht belegtes Klangbild, (3) rhythmische Modelle herausgearbeitet, (4) pauschale Dynamik, (7) Andante con moto, ohne Duft, (10) weitgehend ohne legato, am Ende von T. 28 ohne Fermate

4

Gregory Ginzburg

Melodya        monopole

~ 1952

31‘55

 

uneinheitlich, die letzten Etüden hinterlassen den stärksten Eindruck, technische Unzulänglichkeiten, (1) Poesie, (2) Presto, (3) Anfang undeutlich, ohne p, (4) pointiert, (5) MT sehr deutliche lk. Hd., (7) stark!

4

François-René Duchable

Erato

1980

30‘52

 

(1) Duchable konzentriert sich auf die Oberstimme, Ornamente eher Nebensache, weniger ausgezirkelt, (3) dynamische Unterschiede fehlen, (4) kein agitato, wenig Dynamik, (6) Eleganz, locker, (7) etwas nüchtern, T. 26/27 fehlende Übersicht, (10) ohne Magie in den Eckteilen, wenig Poesie im MT – CD klingt wenig farbig, etwas steril

4

Andreij Gawrilow

EMI

1987

29‘35

 

in Gawrilows Aufnahme tritt die Demonstration technischer Bewältigung vor einen poetischen Ansatz, die Musik bleibt eher an der Oberfläche, der p-Bereich bleibt auf Sparflamme, das mechanische Gelingen steht im Vordergrund, erreicht aber nicht immer allerhöchstes Niveau, vgl. z. B. die Terzen in (7) mit Pollini, (12) großer Auftritt – insgesamt uneinheitlich

4

John Bingham

Meridian

P 1993

34‘24

 

insgesamt etwas uneinheitlich, (1) „Zutaten“ T. 14-18 nicht übersehen, (3) verschiedene rhythmische Modelle werden gezeigt, (4) abwechslungsreich, (6) leuchtender Diskant, mulmiger Bass, unbefriedigend, (7) T. 26/27 nicht mit höchster Spannung, (8) etwas mulmiger Klang beim Treten des Haltpedals, (10) MT ohne Spannung, (12) nicht immer deutliche Akzente in der Mittelstimme in den T. 16, 18, 20 und später – Yamaha-Flügel mit sehr hellem Diskant

 

   

3-4

Alfredo Cortot

EMI

1934

27‘51

 

überwiegend schwungvoll, immer leicht und locker, einige Fehlgriffe im, p-Bereich sehr großzügig, (1) Oberstimme herausgestellt, einige „Zutaten“, (2) Presto: 1:23, (5) das schnelle Tempo der Eckteile überfordert Cortots technische Möglichkeiten, (7) bewegt, trotzdem eindringlich, nachschlagende Hände, (10) MT Sprung von T. 68 zu T. 89, (11) anfangs zu laut, etwas holprig, (12) bemüht

3-4

Samson François

EMI

1959

31`45

 

François geht weniger zielstrebig voran, Chopins Dynamik nicht konsequent übernommen, (1) re. Hd. hat Vorrang, nur eine Etüde, (3) zu laut, (4) kaum agitato, (5) viel Rubato, (6) weniger locker, (7) Stimmführungen nicht immer klar, (9) ohne assai, (11) Beginn im f, lk. Hd. nicht immer als führend verstanden

3-4

Yu Kosuge

Sony

1999

30‘20

 

Mit 16 Jahren aufgenommen – insgesamt wenig p-Spiel, Dynamik bleibt im mittleren Bereich stecken, Etüde nur als technische Herausforderung, die poetische Seite hat sich der Pianistin noch nicht erschlossen, (1) ohne Chopins Zutaten unterhalb der Oberstimme, (9) kein richtiges Leggiero, (10) MT ziemlich leer, (12) heruntergedroschen

3-4

Rafael Orozco

Erato      Warner

1971

30‘53

 

Oroscos Klavierspiel nicht so geschliffen wie das von Tastenvirtuosen seines Alters, eher robust; hier scheint es eher um Etüden, weniger um Poesie zu gehen, der p-Bereich bleibt sehr oft ausgespart, (6) etwas hektisch, Terzen ohne Duft, (7) T. 26/27 fast brutal, (10) zu viel Power, Innennoten übersehen, wenig Poesie im MT, (11) f = ff, (12) grandioso

 

   

3

Sergio Fiorentino

Piano Classics

1959

29‘38

 

Klavierhandwerk hier nicht auf allerhöchstem Niveau, (3) rhythmische Modelle herausgearbeitet, (4) Oberstimme nicht durchgehend dargestellt, (5) wenig geschmeidig, auch (6) Terzen, (7) T.22-27 ohne Übersicht, T. 36 sehr lange Fermate, (10) am Ende von T. 28 keine Fermate, auch T. 66 und T. 86, (12) p nicht erst ab T. 31 sondern bereits ab T. 1

3

Alexander Uninsky

Philips        forgotten records

1954

30‘27

 

Erinnerung an einen einst bekannten Solisten, der noch nicht über die Klaviertechnik der Pianisten aus jüngster Zeit verfügte, (1) und (2) etwas weniger geschmeidig, (3) kaum Spannung, (4) etwas spröde, (7) etwas hölzern, die letzten drei Etüden hinterlassen den stärksten Eindruck – teilweise etwas belegter Klang

 

Hinweise zu Interpreten und Interpretationen

 

Geza Anda

 

Geza Anda erweist sich bei Chopins Etüden als ebenso technisch überragenden wie auch feinsinnig agierenden Pianisten, der den Notentext gründlich studiert und mit spürbarer Hingabe überzeugend umsetzt. Perfektion verbindet sich bei ihm mit Poesie, Gesanglichkeit und Eleganz. Bevor er die Etüden op. 25 1956 in London für EMI einspielte, hat er sie mehrmals im Konzertsaal erprobt: Ein Jahr zuvor standen sie auf dem Programm seines Konzertes bei den Schwetzinger Festspielen, die der Südwestfunk aufzeichnete und später als LP von Ariola auf den Markt kam, heute sind sie als CD bei SWR music erhältlich. Nur zwei Monate später spielte sie Anda für der WDR ein, sie wurden später von audite auf den Markt gebracht. Auch etliche Jahre später, als sich der Pianist Mozarts Klavierkonzerten zuwandte, kehrt er wieder zu den Etüden zurück: 1965 stehen sie bei den Salzburger Festspielen auf dem Programm, sechs Wochen später bei einem Recital in Ascona. Auch diese Mitschnitte sind als CD bei Orfeo bzw. aura greifbar. In der Studio-Aufnahme gliedert er die erste Etüde in große Bögen, wie ein Lied mit mehreren Strophen, dabei fungieren die letzten sechs Takte wie das Klaviernachspiel. Die kurzen Nebenstimmen werden von ihm allerdings kaum beachtet, vermutlich lenken sie vom Fluss der Musik ab. Funkelnd, auch in Bögen, absolviert er die zweite Etüde. In der dritten und fünften arbeitet er die unterschiedlichen rhythmischen Modelle wie kaum ein anderer so deutlich heraus. Bei etlichen Pianistinnen und Pianisten hört sich die Musik hier ziemlich gleich an. Die hier aus der Reihe fallende siebte Etüde wird erzählend in romantischem Geist dargeboten, das klingt nahezu vollkommen. In der folgenden fallen die sinnstiftenden Rubati auf, die durch entsprechende Vortragszeichen nicht so ohne weiteres dem Notentext entnommen werden können. In Etüde 10 zeigt sich erneut Andas gründliche Lektüre des Notentextes: für ihn sind die Oktaven nicht nur eine Fortsetzung der Oktavbewegung, wie ein Anhängsel, sondern sie müssen separat gestaltet werden, als etwas Eigenes, bevor der Mittelteil einsetzt. Bei der vorletzten Etüde kann man wieder die Gliederung des musikalischen Ablaufs bewundern. In der zwölften wird die Musik nicht durchgezogen, sondern mit pointierter Dramatik aufgeladen. Andas Studio-Einspielung ist in meinen Augen eine vollkommene Verwirklichung von Chopins Absichten, die auch Pollini nicht ganz so überzeugend gelingt. Im Vergleich mit der im selben Jahr erfolgten Aufnahme der Etüden mit Claudio Arrau beim selben Label erfreut hier der viel bessere Klang. Die restlichen vier hier aufgeführten Aufnahmen/Mitschnitte kommen ihr von der musikalischen Gestaltung ganz nahe, in den beiden späteren hat man den Eindruck, dass Anda den Notentext noch mehr zu einer etwas freieren Ausgestaltung nutzt, die einen überzeugenden Eindruck hinterlässt. Klanglich müssen jedoch einige wenige Abstriche hingenommen werden, so auch etliche Huster in Salzburg.  

 

Maurizio Pollini

 

Nachdem der 18jährige Pollini 1960 den renommierten Chopin-Wettbewerb von Warschau gewonnen hatte, wurde er sofort von His Masters Voice zur Aufnahme von Chopins 1. Klavierkonzert verpflichtet. Die Aufnahme fand bereits einen Monat später mit dem Philharmonia Orchester unter Leitung von Paul Kletzki in London statt, die LP wurde ein großer Erfolg. Eine weitere Einspielung erfolgte noch im September 1960 im Abbey Road Studio Nr. 1 in London: Chopins Etüden op. 10 und op. 25. Der Produzent Peter Andry erinnerte sich Jahre später in seinem Buch Inside the Recording Studio (London 2008) an Pollinis Spiel während der Aufnahme-Sitzungen: „Das war eine Pianistik der allerbesten Art. Selten hatte ich etwas derart Vollkommenes gehört. Er schien diese schwierigen Werke ohne Mühen zu spielen.“ Tief verwundert und enttäuscht waren allerdings die HMV-Manager über Pollinis Weigerung, die Bänder zur Veröffentlichung freizugeben. Der jugendliche Pollini fühlte sich noch nicht reif für das bevorstehende Konzertleben, sagte alle bereits vereinbarten Konzerttermine ab, zog sich zum Studium zurück, um sich ein größeres Repertoire aufzubauen. Die Aufnahmen der Chopin-Etüden blieben im Archiv liegen und wurden vergessen. Erst 2011, 51 Jahre nach der Aufnahme, wurden sie vom englischen Label Testament aus der Schublade geholt und als CD der Musikwelt übergeben. Sie trafen dabei auf die Aufnahme der Etüden des Labels DGG, die der gereifte Pollini – 11 Jahre später – 1971 eingespielt hatte. Beide Interpretationen sind von höchstem Rang. Bereits 1960 kniete sich der junge Künstler in die einzelnen Stücke, erforschte ihr Innenleben und brachte die versteckten Melodien unterhalb der Oberstimmen ohne mit einem pädagogischen Zeigefinger hervor. Mit höchster Brillanz bewältigte er Stück für Stück. Eine klare Aufnahmetechnik ermöglichte auch einen analytischen Klang. Im Hörvergleich mit der DGG-Aufnahme zeigt diese eine Vertiefung des früheren Ansatzes: Pollini feilt an der Dynamik, spielt hier und da lockerer, mit noch mehr Übersicht, und auch Schwung in einigen Stücken. Die DGG-Aufnahme bietet einen abgerundeten Klang, mit etwas Hallanteil gegenüber der Erstaufnahme.   

 

eingestellt am 25. 02. 22

Chopin   home