Das Klassik-Prisma

 

Bernd Stremmel

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Frederic Chopin

 

3.  Klaviersonate h-Moll op. 58

 

Allegro maestoso – Scherzo, molto vivace – Largo – Presto, non tanto

 

Für Chopin war das Komponieren von Klaviersonaten kein Herzensbedürfnis und keineswegs eine Angelegenheit, sich mit Beethoven als Sonatenkomponist messen zu wollen. Ein Überblick über sein gesamtes Œvre zeigt deutlich, dass mehrteilige Werke wie Sonaten etc. in strenger Form nur eine Randerscheinung einnehmen. Längere Zyklen wie die der Etüden oder der Preludes sind Zusammenstellungen von knappen Sätzen, die jedoch kaum Bezüge untereinander aufweisen. Die Klaviersonaten bilden da eine Ausnahme. Nach seiner ersten Auseinandersetzung mit diesem Genre mit der frühen Sonate in c-Moll op. 4 aus dem Jahre 1828 dauerte es 11 Jahre, bis er ein zweites Werk dieses Genres der Öffentlichkeit übergab: die Sonate in b-Moll op. 35, bekannt auch unter dem Beinamen „mit dem Trauermarsch“ (1837/39).

Chopins dritte und letzte Sonate entstand im Sommer des Jahres 1844, also nochmals 5 Jahre später. Im Gegensatz zu dem unwirschen Vorgänger, aus der die Verzweiflung nicht zu überhören ist, gibt sich diese Sonate versöhnlicher. Formal bleibt sie der klassischen Form mit Kopfsatz in Sonatenform, Scherzo samt Trio, Largo und Finale verbunden, Chopin setzt aber eigene Akzente. So beginnt im Kopfsatz die Reprise nicht mit der Wiederholung des ersten Themas, das die Durchführung beherrschte, sondern nun mit dem zweiten, jetzt in der parallelen Dur-Tonart H-Dur, wie es seit der Klassik Usus geworden ist. Im Ganzen gibt sich der Komponist nicht mit nur zwei Themen zufrieden, zumindest ein drittes sei noch erwähnt, das jedoch nach seinem Auftritt nicht weiter durchgeführt wird. In der Exposition erscheint es T. 76 – 90, in der Reprise T. 186 – 197, in der Durchführung verzichtet der Komponist darauf.

An zweiter Stelle treffen wir auf das Scherzo. In Chopins erster Sonate ist es noch ein Menuett, diese Konstellation findet schon bei Beethoven in Sonaten und Quartetten Anwendung. Chopins Scherzo ist dreiteilig komponiert, die kurzen Außenabschnitte (A) – molto vivace – in Es-Dur, ein Trio in der Mitte (B), im selben Tempo, jedoch unter Verwendung längerer Noten, in H-Dur. Vermutlich aufgrund des geforderten schnellen Tempos gehen im A-Teil die kurzen Einwürfe der linken Hand bei vielen Interpreten fast unter. Im Trio  leidet darunter die synkopische Melodieführung in der Mittelstimme. Das Scherzo ist der bei weitem kürzeste Satz der Sonate, eigentlich nur eine Episode.

Im Gegensatz dazu gleicht der langsame Satz im Largo-Tempo einem ausgedehnten Nocturne, einer Form, die der Komponist zeit seines nur kurzen Lebens immer wieder gepflegt hat. Auch hier kann man im Groben drei Formteile – A-B-A – unterscheiden (H-Dur – E-Dur – H-Dur). Der Mittelteil fließt ruhig dahin, als wäre er mit einem Impromptu von Schubert verwandt.

Der letzte Satz ist wie ein Rondo angelegt, einem Perpetuum Mobile nicht unähnlich, mit zwei unterschiedlichen Themen, im schnellen Tempo zu spielen, wie ein Bravourstück, das man im 19. Jahrhundert am Ende eines mehrgliedrigen Werkes erwartete. Bemerkenswert ist die Begleitung der linken Hand beim ersten Thema (A): Beim ersten Auftreten folgt sie dem Thema in Achteln. Beim zweiten (T. 99 ff.) verwandeln sich drei Achtel in vier. Beim dritten und letzten (T. 207 ff.) wandelt Chopin die ursprünglich sechs Achtel in zwölf Sechzehntel um. So entsteht der Eindruck einer Temposteigerung, die auf das Ende hinzielt.

Für den Kopfsatz sieht Chopin eine Wiederholung der Exposition vor, sie wird jedoch nur von sehr wenigen Interpreten wie Arrau beachtet, meistens aber von Künstlern der jüngeren Generation gespielt: Pollini, Andsnes, Argerich-67, Pires, Duchable, Katsaris, Pommier, Lucchesini, Pletnjew, Ousset, Demidenko, Moog, Tchetujew und Lang Lang.

Leider hat Krystian Zimerman bis jetzt keine Aufnahme der h-Moll-Sonate eingespielt. Vor einem Jahrzehnt habe ich den polnischen Pianisten mit ihr in einem Konzert gehört.

 

  5

Leif Ove Andsnes

Virgin

1990/91

30‘32

 

I spürbare Vitalität, jedoch auch Sinn für die lyrischen und verspielten Abschnitte, II geschmeidig, immer locker, linke Hand immer als Stütze der rechten, III mit großer Ruhe, A fast andächtig, B empfindsam, IV souverän, Andsnes behält immer den Überblick

5

Abdel Rahman El Bacha

Forlane

2000

26‘49

 

I Temperament und Präzision auf gemeinsamen Nenner, eher Kammermusik als im Konzertsaal, II A re. und lk. Hd. aufeinander abgestimmt, B Mittelstimme genau eingepasst, III mit spürbarer Hingabe, überzeugend, IV schwelgerisch – angenehmer Flügelklang, sehr lockerer Anschlag

5

Maria João Pires

DGG

2008

32‘28

 

I die unterschiedlichen Aggregatzustände der Musik gut getroffen, Pires zeigt Sinn für die Proportionen innerhalb des Satzes, II B Außen- und Mittelstimmen gut aufeinander abgestimmt, III geschmackvoll, mit intuitiver Einfühlsamkeit, stellenweise auch verträumt, IV Musik akribisch ausformuliert, sprechende Artikulation

5

Garrick Ohlsson

Arabesque

1990

27‘27

 

I profiliert, ausdrucksstark, II spontan wirkender musikalischer Fluss, trotz des schnellen Tempos gelöst, III erhabene Ruhe, mit viel Klangsinn, IV mit Hingabe

5

Nikolai Demidenko

hyperion        helios

1993

32‘54

 

I mit spürbarer Hingabe, sich Zeit lassend, nuancenreich, überlegte Dynamik, II A lk. Hd. nicht immer präsent, B fast wie scheu, III Largo, Atmosphäre, IV vital

5

Yundi Li

DGG

2001

26‘43

 

I auf längst bekannten Wegen unterwegs, jedoch mit klarer Artikulation und viel Klangsinn, gute Dynamik, T. 23-28 deutliche Zweistimmigkeit, II feinfühlige Gestaltung, III nuanciertes Spiel, IV nicht nur auf das handwerkliche reduziert

5

Marc-André Hamelin

hyperion

2008

30‘02

 

Hamelin mit großer Übersicht über das Werk, I temperamentvoll, rhythmischer Schwung, überzeugende Dynamik, II ganz nahe an der Partitur, III den Nerv der Musik getroffen, IV vehementer Zugriff, die beiden Themen bestens gegenübergestellt, Spannung bis zum letzten Akkord

 

 

 

4-5

Maurizio Pollini

DGG

1984

28‘18

 

I ausdrucksstark, jedoch immer wieder auch gezügelt, Sensibilität für Chopins Vorlage, II straff, für die lk. Hand wünschte man sich etwas mehr Gewicht, III A lk. Hd. hier besser, B überwiegend lebendig, IV souverän, agitato immer im Blick

4-5

Dinu Lipatti

EMI

1947

25‘11

 

I immer wieder zupackende Momente, andererseits auch retardierende; bedrohliche chromatische Tonleiter T. 23-28, II zügig, aber unaufgeregt, III mit innerer Ruhe, con spirito, delikat, IV agitato, große Bögen – Flügel klingt ein wenig stumpf

4-5

Martha Argerich

DGG

1967

26‘16

 

4-5

William Kapell

RCA          Philips

1951/52

24‘39

 

einerseits stürmisch drängend, andererseits feinsinnig bei leichter Rücknahme des Tempos, II A Bass könnte etwas mehr hervortreten, III fließendes Musizieren, elastisch, klar, ausdrucksstark, IV ausgelassen, stürmisch, überlegen

4-5

Jewgenij Kissin

RCA

1993

27‘46

 

live, I variable Tempi, Fugati der re. Hd. T. 23-28 deutlich herausgestellt, II A artistische Leichtigkeit, III Bass immer präsent, stabilisiert die Musik, IV souverän bewältigt, überzeugendes leggiero

4-5

Daniil Trifonov

Decca

2010

26‘52

 

live, I Trifonov verliert sich in der Musik, überlegter Umgang mit Chopins Dynamik, II A lk. Hd. nur wie eine Beigabe, B Spannung nicht immer gehalten, III B auf der Suche nach einer trefflichen Gestaltung, IV mit Verve, aufgewühlt – Fazioli-Flügel

4-5

Emil Gilels

Fondamenta

1978

28‘02

 

live, ▼

4-5

Julius Katchen

Decca

1954

24‘49

 

I erstes Thema wild, mit scharfer Klanglichkeit, zweites und drittes ausdrucksvoll, II B Außen- und Mittelstimmen aufeinander abgestimmt, III Dynamik dem Notentext angepasst, Katchen atmet mit der Musik, IV nuanciertes Spiel

4-5

Andrea Lucchesini

EMI

1984

34‘14

 

I kraftvoll, vehementer Zugriff, Abschnitte deutlich gegenübergestellt, II A lk. Hd. könnte deutlicher sein, B Außen- und Mittelstimmen aufeinander abgestimmt, III innig, mit spürbarer Hingabe, nuancenreich, IV wie entfesselt

4-5

Bruno Leonardo Gelber

EMI

1979

26‘19

 

I erstes und zweites Thema gut gegenübergestellt, II Außen- und Mittelstimmen trotz schnellen Tempos deutlich getrennt zu vernehmen, III innig, con spirito, dolce, mit langem Atem, IV kraftvoll, drängend

4-5

Artur Rubinstein

RCA

1961

25‘41

 

I mäßiges Tempo, nicht eilend, Rubinstein behält fast immer die Übersicht, Balance innerhalb der drei- und vierstimmigen Abschnitte nicht immer bestens austariert, II A Bass etwas unterbelichtet, B zu laut, III Pianist hält die Musik etwas auf Distanz, IV agitato, ab T. 9 zu laut, Anschlag stellenweise weniger locker – einzige Schallplatten-Aufnahme des Pianisten von op. 58

4-5

Claudio Arrau

EMI

1960

33‘22

 

I ernsthaft, mit Nachdruck, Arrau atmet mit der Musik, intensives Ausloten der Partitur, farbiger Klang, III A innig, teilweise auch betroffen machend, B wie eine Barcarolle, re. Hd. könnte etwas leiser sein, IV straff, ausgelassen, fast wie atemlos

4-5

Rudolf Firkusny

Orfeo

1957

25‘29

 

live, I natürlich musikalischer Fluss, schwelgerisch, ausdrucksstark, II A Bass nicht immer deutlich, B zu zurückhaltend, III vielschichtig, nicht weihevoll zelebriert, IV ansteckende Spielfreude, rhythmischer Schwung

4-5

Wilhelm Kempff

Decca

1958

25‘19

 

I mit guter Übersicht, Musik wird nicht überfahren, Verzicht auf alles Grelle, II klar, teilweise filigran, III wie mit Pastellfarben gemalt, ebenmäßig, IV leicht und locker, ohne die Musik zu dramatisieren

4-5

Nelson Freire

Decca

2001

23‘32

 

4-5

Nelson Freire

CBS        Sony       Philips

1969

24‘18

 

4-5

Joseph Moog

Onyx

2016

28‘23

 

I elastisches Klavierspiel, rhythmischer Schwung, jedoch immer wieder Wechsel der Tempi, nicht nur beim 2. Thema, II deutliches Absetzen von A- und B-Abschnitten, III farbiges Spiel, empfindsam, IV nuanciert, schwelgerisch

4-5

Nikolai Demidenko

Onyx

2008

34‘32

 

I ähnlich wie 1993, ▲, allerdings noch etwas langsamer und weniger Spannung, II A hier deutlicher, III wie ▲, jedoch in B etwas gekünstelt, IV auch hier etwas langsamer, macht sich in B bemerkbar – Fazioli-Flügel

4-5

Gerrit Zitterbart

Tacet

1992

24‘45

 

I insgesamt lebhaftes Spiel, nicht immer mit festem Tempo, manchmal etwas grob, gute Dynamik, II A re. und lk. Hd. aufeinander abgestimmt, B Mittelstimme passt sich ein, III konzentriert, facettenreich, durchgehend bewegt, IV entschieden voran, bravourös

4-5

Nikita Magaloff

Decca

1954

25‘08

 

I teils wie entfesselt, teils auch schwelgerisch, kein festes Tempo, II A die lk. Hd. wünschte man sich prägnanter, III facettenreich, jedoch eher sachlich als emotional, IV ausdrucksstark, ausgelassen – für die Zeit der Aufnahme guter Klavierklang

4-5

Nikita Magaloff

Philips

1976

25‘00

 

die spätere Aufnahme bietet keinen Neuansatz, der Kopfsatz wird etwas schneller gespielt, die restlichen ein wenig langsamer

4-5

Jorge Bolet

Marston

1985

28‘39

 

live, I Bolet nähert sich feinfühlend der Musik, nicht eilend oder auftrumpfend, gelassen, er will nichts vorführen, Zweistimmigkeit der re. Hd. T. 23-28 deutlich herausgestellt, II A lk. Hd. nicht immer deutlich, B beide Hände fügen sich gut zusammen, III Bolet zeigt Sinn für Proportionen, insgesamt jedoch etwas zurückhaltend, weniger Spannung, IV markant akzentuiert

 

 

 

4

Emil Gilels

Melodya        Brilliant

1977

27‘22

 

live, ▼

4

Emil Gilels

DGG

1978

29‘32

 

4

Martha Argerich

DGG

1967

26‘25

 

live, ▼

4

Martha Argerich

EMI

1965

24‘46

 

4

François-René Duchable

Erato

1984

28‘12

 

I mehr energico als maestoso, kein „verweile doch …“, ziemlich festes Tempo, II etwas nüchtern, III geradlinig, B etwas zu laut, wenig Espressivo, IV energisch voran

4

Guiomar Novaes

Vox          forgotten records

1952

24‘15

 

I im Balladenton, kämpferisch, pointierte Dramatik, II nur eine kurze Episode, im Trio Bass deutlicher als üblich, III natürlich musikalischer Fluss, könnte jedoch leiser sein, IV wie atemlos, immer auf dem Sprung, man sich die Ausführung etwas geschmeidiger

4

Emanuel Ax

Sony      newton

1975

26‘20

 

I sprechende Artikulation, einige Rubati, II A lk. Hd. etwas unterbelichtet, B keine durchgehende Spannung, III ruhig und gelassen, breite dynamische Skala, IV tadellos – insgesamt gediegen

4

Vlado Perlemuter

BBCL

1961

24‘45

 

I eher entspannt, ausgewogen, Beginn der Durchführung etwas unübersichtlich, II B Mittelstimme findet wenig Beachtung, III wie ein Nocturne, feinsinnig und geschmackvoll, IV zielstrebig dem Ende entgegen, unspektakulär

4

Vlado Perlemuter

Nimbus

1974

25‘26

 

von Satz zu Satz ein wenig langsamer, Darstellung ähnlich wie zuvor, IV Agitato-Beginn etwas zu laut, zupackend, jedoch ohne Hetze – etwas belegter Klang

4

Stefan Askenase

DGG

1951

26‘27

 

I mit großer Übersicht, jedoch fast schon etwas schleppend, das Lyrische überwiegt, II A kleinteilige Phrasierung, Mittelstimmen immer klar, III warmherzig, IV ohne cresc. in den 8 Einleitungstakten, A Achtel wenig geschmeidig – stumpfer Klang

4

Witold Malcuzynski

EMI         Warner

1961

25‘07

 

I ohne innere Glut, Pianist geht den Verästelungen der Stimmführungen nach, mehr kontrolliert als emotional aufgeladen, II A Achtel-Ketten wenig geschmeidig, B im selben Tempo, III B etwas schneller, klingt routiniert, warum nicht leiser? A- und B-Abschnitte werden kaum voneinander abgesetzt

4

Alfred Cortot

EMI       Andromeda

1931

23‘16

 

I elegantes Spiel, einige Stellen nicht ganz deutlich, man bekommt den Eindruck, dass sich die Musik in re. und lk. Hd. verselbständigen würden, II B Bass nicht immer deutlich, III eher im Andante-Tempo, lk. und re. Hd. nicht immer im Gleichklang, IV gefällt am besten

4

Cyprien Katsaris

Sony

1990/91

31‘52

 

I vehementer Zugriff, zur Dramatik und Unruhe neigend, beim 2. Th. Tempodrosselung, II A wie so oft lk. Hd. unterbelichtet, B wenig p, III B etwas leiernd, Spannung? IV zielstrebig nach vorn, jedoch nur kaltes Feuer

4

Louis Lortie

Chandos

2013

26‘18

 

I Musik in Abschnitte aufgeteilt, II A Bass könnte etwas mehr hervortreten, B Mittelstimmen deutlicher als Eckstimmen, III A zurückhaltend, B bewegt, jedoch etwas leiernd, IV agitato anfangs zu laut, geschmeidig, jedoch auch gewichtig – Klang von hoher Dichte

4

Igor Tchetujew

Orfeo

2002

29‘49

 

I etwas unstet, sowohl im Tempo als auch in der Dynamik, II kapriziös, III Pianist geht feinfühlig zur Sache, IV in den B-Abschnitten läuft der Bass nur mit

4

Anna Gourari

ECM

2013

28‘32

 

I T. 23-28 deutliche Zweistimmigkeit in der re. Hd., zielstrebig voran, bleibt dabei dennoch gelassen, II B weniger bewegt, nüchtern, III B etwas zu laut und zu äußerlich, kühl, IV mit Hingabe, jedoch nur kaltes Feuer

4

Shura Cherkassky

Philips        Decca

1985

23‘50

 

live, alle Sätze etwas schneller als 1964, besonders der dritte, der mit viel mehr Poesie aufwartet, IV etwas lockerer

4

Jean-Bernard Pommier

Erato

1992

26‘19

 

I klar, gute Transparenz, farbiges Spiel, allerdings auch Rubati, II B Außen- und Mittelstimmen aufeinander abgestimmt, III B etwas spröde, IV mit ansteckender Spielfreude

4

Adam Harasiewicz

Philips

P 1961

24‘56

 

I die große Linie nachgezeichnet, konzentriert, gediegen, II A: lk. Hd. nicht immer deutlich, III überwiegend sachlicher Vortrag, IV neutrale Aussage

4

Michail Pletnew

DGG

1996

32‘57

 

Pletnev hinterfragt den Notentext, insgesamt zwiespältig – I immer wieder Rubati, teilweise bis zum Stillstand, teilweise verzärtelt, II A lk. und re. Hd. aufeinander bezogen, auch bei B, leider auch Rubati, III Eintauchen in die Welt der Poesie, überzeugend, IV ähnlich wie Satz 1

4

John Ogdon

IMP

P 1987

30‘30

 

I Ogdon sieht sich dem Moderato verpflichtet, zieht aber das Tempo im Verlauf des Satzes an, beim 2. Th. bleibt die lk. Hd. etwas blass, in der Reprise jedoch nicht mehr, II A wie etwas darüber hinweg, III Nocturne, jedoch sehr gezogen, wie zerbrechlich, wie ein Fremdkörper in dieser Sonate, mit 13’24 zweitlängster 3. Satz, IV mit Druck, nicht immer elastisch – Ogdons Klavierspiel wünschte man sich etwas geschmeidiger

4

Jean-Marc Luisada

RCA

2004

28‘12

 

I T. 23-28 deutliche Zweistimmigkeit in der re. Hd., 2. Th. innig, mit viel Klangsinn, insgesamt in Abschnitten musiziert, dabei kommt die Musik etwas ins Stocken, II A nach Notenvorlage, B kein festes Tempo, III B bewegt, fließend, locker, gegen Satzende etwas gestelzt, IV kraftvoll nach vorn, insgesamt aber moderates Tempo

4

Sergio Fiorentino

MCPS

1994

27‘35

 

Fiorentino zergliedert den Satz in Abschnitte, kein festes Tempo, etwas diffus, II B Außen- und Mittelstimmen zu einer Einheit verschmolzen, III ein Nocturne, zurückhaltende Romantisierung, A etwas grob, fallende Skalen im B-Abschnitt etwas harmlos, das bessert sich jedoch im Laufe des Satzes

4

Cécile Ousset

EMI

P 1987

29‘08

 

I straffes Tempo, variabel, wenig maestoso spürbar, ziemlich unruhig, unausgewogen, T. 23-28 re. Hd. nur einstimmig, II A zielstrebig nach vorn, B Außen- und Mittelstimmen im ausgewogenen Verhältnis, das überzeugt, III B leider gestalterische Blässe, insgesamt großzügige Dynamik, IV hier trifft die Pianistin den Nerv der Musik, wie ein Rausch

4

Alexandre Uninsky

Philips      forgotten records

1951

23‘19

 

I diesen Satz wünschte man sich geschmeidiger, mit mehr artikulatorischer Feinarbeit, II sehr schnell, nur eine Episode, III gelöstes Musizieren, viel Espressivo, warmherzig, IV nur die große Linie, etwas grob

 

 

 

3-4

Vladimir Ashkenazy

Decca

P 1993

26‘18

 

I spontan wirkendes Musizieren, kein festes Tempo, eigene Vorstellungen schieben sich vor Chopins Notentext, mehr Ashkenazy als Chopin, II Musik gespielt, aber auch entdeckt? III hier lässt sich der Pianist mehr auf das Potential der Musik ein, IV etwas robust

3-4

Robert Casadesus

CBS        Sony

1964

25‘01

 

I routiniert, etwas flüchtig, Musik zerfällt in Abschnitte, lk. und re. Hd. nicht immer aufeinander bezogen, II B Bassfiguren undeutlich, III klare Artikulation, ausgewogen, mit Empathie, gefällt am besten, IV ohne Charme, Musik klingt irgendwie mechanisch

3-4

Alexander Brailowsky

CBS       Sony

1963

23‘17

 

I robuster Ansatz, die große Linie nachgezogen, II im Trio geschmeidige Binnenstimmen, insgesamt jedoch zu viel Leerlauf, III überwiegend sachlicher Vortrag, IV neutral in der Aussage – Aufnahme hinterlässt keinen bleibenden Eindruck

3-4

Shura Cherkassky

BBCL

1964

26‘25

 

I Satz zerfällt in einzelne Abschnitte, II A lk. Hd. nur wie nebenbei, B wenig prägnant, III balladesk, kein festes Tempo, die Musik schwimmt, IV zu gewichtig

3-4

Samson François

EMI

1964

25‘56

 

I pointierte Dramatik, Temposchwankungen, Pianist neigt zum Auftrumpfen, Satz zerfällt in einzelne Abschnitte, II A gut, B beide Hände nicht im Gleichgewicht, III kein Largo, B wie abgespult, IV aufgekratzt, grob – Interpretation hinterlässt keinen bleibenden Eindruck

3-4

Ingolf Wunder

DGG

2011

27‘14

 

I insgesamt schwerfälliges Spiel, Wunder bremst das Tempo T. 13 ff., auch später immer wieder, Pianist scheint maestoso mit lento zu verwechseln, ihm gelingt es nicht, die Musik auf den Punkt zu bringen; insgesamt wenig Spannung, die Interpretation hinterlässt keinen bleibenden Eindruck

3-4

Alex Slobodyanik

EMI

1998

26‘51

 

I unterschiedliche Tempi bei dramatischen oder lyrischen Abschnitten, Rubati, Musik am Rande des Zerfallens, II A korrekt, B zögernd, kein festes Tempo, III A ab T. 3 durchgehend leise gehalten, das setzt sich in B fort, Pianist verzichtet auf dynamische Gestaltung, IV Ansatz des 3. Satzes setzt sich hier fort, Slobodyanik bleibt hinter seinen pianistischen Möglichkeiten zurück

3-4

Lang Lang

DGG

2005

38‘07

 

I ständige Tempowechsel, beim 2. Th. deutlich langsamer, gekünstelt, stellenweise Stillstand, Pianist schiebt sich vor die Partitur, II B langsamer, jedoch kaum Spannung, A‘ rasend, III A langsam, B wie buchstabiert, langatmig, mit 14’10 längster Satz der besprochenen Aufnahmen IV pianistisch perfekt, jedoch weniger geschmeidig, ab T. 263 Stretta

  

Hinweise zu Interpreten und Interpretationen

 

Emil Gilels

 

Gilels Aufnahmen von Chopins h-Moll-Sonate verteilen sich auf die kurze Zeitspanne von 1977 bis 1980 und sind bis auf eine Ausnahme Konzertmitschnitte aus Moskau, Amsterdam, Rochester sowie Salzburg. Die einzige Studio-Produktion wurde von der DGG in Berlin vorgenommen. Die Interpretationsmuster liegen in den mir bekannten drei Aufnahmen nicht weit auseinander. Bereits in der ersten aus Moskau fällt eine reduzierte Dramatik auf, die Musik klingt episch, mir reduzierter Spannung und bewegt sich am Rande des Auseinanderfallens. Diese Haltung kann man auch bei der Aufnahme ein Jahr später aus dem Amsterdamer Concertgebouw beobachten. Sechs Monate danach im Berliner Studio klingt die Musik von Chopins maestoso-Kopfsatz so, als spiele der Pianist nicht für ein Publikum, sondern für sich selbst. Gilels nimmt dabei auch das Tempo mehr und mehr zurück. Das Scherzo zieht schnell an den Ohren vorbei, hier klingt die Studio-Produktion am klarsten. Beim langsamen dritten Satz reduziert der Pianist wie zu Beginn nach und nach das Tempo, weicht aber nicht wesentlich vom Durchschnitt anderer Interpreten ab. Hier gefällt mir der Amsterdamer Mitschnitt mit seiner durchgehenden Spannung, die kaum abreißt, am besten. Die Berliner Aufnahme gefällt durch einen weichen Anschlag, klingt letztlich jedoch ein bisschen spröde oder distanziert. Die großbogige Gestaltung im Finalsatz ist Ziel und Abschluss der drei vorangegangenen Sätze. Etwas mehr sagt mir jedoch die holländische Version zu, ohne Hektik, eher mit Besonnenheit und Feinsinn, das ist letztlich jedoch Geschmacksache. Die Moskauer Version hat insgesamt mehr Ecken und Kanten als die beiden späteren Aufnahmen.

 

Nelson Freire

 

32 Jahre liegen zwischen den beiden Aufnahmen von Nelson Freire, ohne dass nennenswerte interpretatorische Unterschiede auffallen, sieht man von den etwas schnelleren Tempi im ersten Satz in 2001 ab. Mit jugendlichem Schwung, wie entfesselt nähert sich Freire dem Kopfsatz, hält jedoch das Tempo nicht durch. Beim 2. Thema wird es regelmäßig zurückgenommen. In der zweiten Aufnahme jedoch weniger, so klingt die Musik hier ausgeglichener. Für den langsamen Satz wählt der Pianist kein Largo, eher ein Andante, die Musik klingt dann (2001 – bei 11 Sekunden mehr) mit mehr Anteilnahme. Souverän wird in beiden Interpretationen das Finale bewältigt.

   

Martha Argerich

 

Zu Beginn von Argerichs Karriere nahmen Klavierwerke von Chopin einen großen Raum ein. Innerhalb von drei Jahren entstanden zwei Solorecitals sowie ein Konzertmitschnitt aus Berlin. Klaviertechnisch ist da nichts auszusetzen und trotzdem bin ich nicht restlos glücklich mit dem Ergebnis. Der Kopfsatz wird stürmisch angegangen, rastlos, fiebrig, stellenweise sogar etwas hektisch (Berlin). Die lyrischen Momente müssen da zurücktreten. In der EMI-Produktion gerät das 2. Th. (T. 151 ff.) zu laut. Im Scherzo wünschte man sich (in allen Interpretationen) im Abschnitt A die Figuren der linken Hand konturenschärfer und nicht wie nur hingetupft. Am dritten Satz scheint die Pianistin mehr gearbeitet haben, davon zeugt die Behandlung der Sextolen in der rechten Hand, die von Aufnahme zu Aufnahme mehr Kontur aufzeigt. Auch nimmt sich Argerich mehr Zeit für die Musik. Im Berliner Mitschnitt kann man die feinen klanglichen Abstufungen bewundern, allerdings bei zögerlichem Tempo. Zielstrebig, entfesselt und mit überlegener Artikulation führt die Pianistin den Finalsatz und damit die Sonate zu Ende. Diese Art der Gestaltung ist ganz im Sinne vieler Argerich-Fans. Für mich kommt die Studio-Aufnahme vom Januar 1967 Chopins Partitur am nächsten.

 

eingestellt am 02. 04. 24

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