Das Klassik-Prisma |
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Bernd Stremmel |
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Antonin
Dvorak
7. Sinfonie d-Moll op. 70
Allegro maestoso-Poco Adagio-Scherzo,Vivace-Allegro
Im Januar 1884
hörte der Komponist in Berlin zum ersten Mal die 3. Sinfonie F-Dur seines
Mentors und Förderers Johannes Brahms, welche einen tiefen Eindruck bei ihm
hinterließ. Im selben Jahr ernannte ihn die London Philharmonic Society zum
Ehrenmitglied und ermunterte ihn zur Komposition einer neuen Sinfonie. In einen
Brief an seinen Bonner Verleger Simrock zitiert er
eine Bemerkung von Brahms bezüglich der 6. Sinfonie, in der dieser sich eine
neue Sinfonie (Dvoraks) ganz anders vorstelle. Daran muss Dvorak bei der
Komposition seiner 7. Sinfonie immer gedacht haben. Heraus kam schließlich ein
sehr ernstes, seriöses Werk ohne einen Anflug von (böhmischer) Folklore.
Moll-Tonarten beherrschen alle Sätze und am Schluss muss er sich zum hellen
strahlenden D-Dur geradezu durchringen. Sogar im 3. Satz, dem traditionellen
Satz mit Tanzcharakter, vermeidet Dvorak die Nennung „Furiant“ in der
Überschrift und setzt nur Vivace darüber. Viele Musikfreunde, auch ich, halten
die 7. als die beste Sinfonie des böhmischen Meisters. Sie scheint gemeißelt zu
sein, während die beiden späteren Sinfonien mit dem Pinsel entworfen wurden.
Der Musikschriftsteller und Kritiker Karl Schumann nannte sie einmal Dvoraks „Pathetique“. Ohne Zweifel stand Brahms‘ 3. bei der
Komposition Pate, ein Hinweis ist die Entschiedenheit der Ecksätze mit ihren
lyrischen melancholischen Abschnitten. Im 1. Satz erinnert sich Dvorak des
letzten Satzes von Brahms‘ 3., der leise beginnt und leise wieder endet. Auch
im 2. Satz klingt Brahms durch: das 2.Thema in Klarinetten und Fagotten wird
taktweise von 2 Noten (Viertel, Halbe) der Streicher begleitet (T. 40 ff.). Bei
Dvorak fällt die Passage kürzer aus (T.18-23), ist aber ähnlich komponiert: die
Melodie der 1.Geigen und Celli wird taktweise von 2 Viertelnoten in Bläsern und
Kontrabässen kommentiert. Dvoraks starke kompositorische Erfindungs- und
Gestaltungskraft hinderte ihn jedoch davor, eine bloße Kopie der Brahmsschen Vorlage abzuliefern, trotz der genannten
Anklänge ist es reinster Dvorak.
Nur wenigen
Dirigenten gelingt es, die Themen und Motive des 1. Satzes streng aufeinander
zu beziehen und nicht als Episoden aneinander zu reihen (auch von Brahms
abgesehen?). Bei langsamen Tempi ist die Gefahr besonders groß (Giulini). Die Musik drängt nach vorn, das muss man hören
können!
Im 4. Satz
höre ich in den Takten 425-430 Anklänge an ein Lohengrin-Motiv, es meldet sich
bereits T. 251 in der Klarinette.
Am Schluss
dieses Satzes erlauben sich die meisten Dirigenten einen Eingriff in den
Notentext: um der unisono-Melodie von Oboen, Klarinetten und Fagotten, die sich
gegen das laute Blech und die Streicher durchzusetzen haben, Geltung zu
verschaffen, lassen sie ein Horn, oder anfangs auch eine Trompete mitspielen
(T. 425-429), ich denke, dass Dvorak dies im Sinne der Deutlichkeit hingenommen
hätte.
George Szell |
Cleveland Orchestra |
Sony |
1960 |
35‘32 |
5 |
|
Christoph von Dohnanyi |
Cleveland Orchestra |
Decca |
1985 |
36‘17 |
5 |
|
Ivan Fischer |
Budapest Festival Orchestra |
Channel Classics |
2009 |
38‘39 |
5 |
die Musik lustvoll und mit großer Hingabe nachgezeichnet, eher lyrisch als dramatisch verstanden, die Vielfältigkeit der musikalischen Gedanken ausgekostet, farbiges Klangbild mit wunderbaren Holzbläser-Episoden, mit böhmischem Kolorit |
Roger Norrington |
SWR Sinfonie-Orchester Stuttgart |
hänssler |
2010 |
37‘15 |
5 |
live, HIP, Dirigent achtet penibel auf genaue Ausführung von Motiven, Themen, diszipliniert, das Große und Ganze bleibt etwas unterbelichtet, überwiegend sachlich – sehr gute dynamische Gestaltung sowie Transparenz |
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||||||
Pierre Monteux |
London Symphony Orchestra |
RCA |
~1960 |
37‘03 |
4-5 |
|
Vaclav Neumann |
Tschechische Philharmonie |
Supraphon |
1981 |
36‘50 |
4-5 |
|
Hans Schmidt-Isserstedt |
NWDR Sinfonie-Orchester Hamburg |
Decca eloquenz |
1953 |
37‘17 |
4-5 |
▼ |
Hans Schmidt-Isserstedt |
NDR Sinfonie-Orchester Hamburg |
EMI |
1970 |
37‘00 |
4-5 |
▼ |
Colin Davis |
Concertgebouw Orchestra Amsterdam |
Philips |
1976 |
36‘08 |
4-5 |
prägnanter gezeichnet als die live-Aufnahme |
Wolfgang Sawallisch |
Philadelphia Orchestra |
EMI |
1991 |
37‘13 |
4-5 |
|
Istvan Kertesz |
London Symphony Orchestra |
Decca |
1964 |
37‘03 |
4-5 |
I praller Orchesterklang, Musizieren im Überdruck, II etwas deftig, trifft aber den Nerv der Musik, IV etwas schwerfälliger als Szell beim selben Tempo |
Constantin Silvestri |
Wiener Philharmoniker |
EMI |
1960 |
38‘43 |
4-5 |
I spannungsvoll, Melancholie aber auch viel Dramatik, II überzeugend gemeisterte Zuspitzungen wie Spannungslösungen, III Bläsertriller gehen manchmal unter, IV mit viel Brio, Sogwirkung – offenes Klangbildmit hoher Präsenz, Holzbläser hier und da benachteiligt |
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||||||
Jiri Belohlavec |
Tschechische Philharmonie Prag |
Supraphon |
1994 |
38‘14 |
4 |
|
Antal Dorati |
London Symphony Orchestra |
Mercury |
1963 |
37‘10 |
4 |
durchsichtiges Klangbild, jedoch etwas spitz, III im Tutti schneidend, IV in der Mitte geht die Puste aus |
Colin Davis |
London Symphony Orchestra |
LSO live |
2001 |
39‘43 |
4 |
live – I langsamer als 1976, nicht mehr so schlank, II Hörner mehr zurück, nicht so zwingend wie beim COA, IV in den Blechpartien etwas wuchtiger |
Rafael Kubelik |
Berliner Philharmoniker |
DGG |
1971 |
37‘40 |
4 |
▼ |
Rafael Kubelik |
Sinfonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks |
Orfeo |
1978 |
37‘41 |
4 |
▼ |
Rafael Kubelik |
Wiener Philharmoniker |
Decca |
1956 |
35‘59 |
4 |
▼ |
John Barbirolli |
Hallé Orchestra Manchester |
Nixa |
P 1959 |
35‘30 |
4 |
etwas belegter Klang |
Carlo Maria Giulini |
London Philharmonic Orchestra |
EMI |
1976 |
40‘38 |
4 |
verschlepptes Tempo im 1.Satz, ▼ |
Carlo Maria Giulini |
Berliner Philharmoniker |
Testament |
1973 |
40‘26 |
4 |
live, ▼ |
Carlo Maria Giulini |
New Philharmonia Orchestra |
BBCL |
1969 |
38‘21 |
4 |
live, ▼ |
Carlo Maria Giulini |
Concertgebouw Orchestra Amsterdam |
Sony |
1993 |
43‘37 |
4 |
verschlepptesTempo im 1.Satz, ▼ |
Neeme Järvi |
Scottish National Orchestra |
Chandos |
1986 |
36‘36 |
4 |
I Anfang etwas zu laut, deshalb nicht geheimnisvoll, kompakte Tutti, II insgesamt etwas nüchtern, plakativ, III überzeugender als zuvor, IV schlanker als Giulini, bester Satz |
Eliahu Inbal |
Philharmonia Orchestra |
Teldec |
1990 |
39‘08 |
4 |
II zu neutral, nur Höhepünktchen, IV könnte etwas schneller sein |
Nikolaus Harnoncourt |
Concertgebouw Orchestra |
Teldec |
1997 |
38‘43 |
4 |
live – I Temposchwankungen, schöner Schluss, IV stellenweise etwas schwerfällig |
|
||||||
André Previn |
Los Angeles Philharmonic Orchestra |
Telarc |
1988 |
37‘47 |
3-4 |
I Klang wird durch einen Schleier zugedeckt, nichts duftet, II besserer Klang, engagiert musiziert, III klingt sehr nach Pflicht, IV bester Satz |
Heinz Bongartz |
Dresdner Philharmonie |
Berlin Classics |
1962 |
37‘26 |
3-4 |
|
Myung-Whun Chung |
Gothenburg Symphony Orchestra |
BIS |
1987 |
37‘46 |
3-4 |
I an der Partitur entlang, erzählend, wenig Spannung, II nach der Hälfte des Satzes mehr Spannung, III/IV jetzt näher an der Musik – insgesamt eher sachlich als emotional interpretiert, Klangbild weniger schlank |
Witold Rowicki |
London Symphony Orchestra |
Philips |
1971 |
37‘56 |
3-4 |
|
Rafael Kubelik |
Concertgebouw Orchestra Amsterdam |
RNM |
1950 |
36‘32 |
3-4 |
live |
Lorin Maazel |
Wiener Philharmoniker |
DGG |
1983 |
39‘13 |
3-4 |
I steril, von außen betrachtet, IV lustlos |
Mariss Jansons |
Oslo Philharmonic Orchestra |
EMI |
1992 |
36‘47 |
3-4 |
Klangbild etwas stumpf, I Themen werden nicht entschieden genug formuliert, kein Biss, II Einzelstimmen werden nicht zu einer Einheit verschmolzen, III fesselt nicht, eher Pflicht, IV Musik bleibt an der Oberfläche |
|
||||||
Andrew Davis |
London Symphony Orchestra |
Sony |
1979 |
38‘48 |
3 |
II Themen werden nicht bis zum Ende verfolgt, sondern von anderen verdrängt, IV Holzbläser im Klang nicht gut aufgefächert |
Neville Marriner |
Academy of St.Martin-in-the-Fields |
Capriccio |
1990 |
38‘11 |
3 |
I nüchtern, neutral, II Holzbläser oft unterbelichtet, Blech T. 90f nicht zu hören, III Stimmverläufe nicht immer bis zum Ende zu verfolgen, IV ohne Geheimnis |
James Levine |
Chicago Symphony Orchestra |
RCA |
1984 |
38‘43 |
3 |
I kaum Lautstärkedifferenzierung, nicht vorgesehene Ritardandi, II kompakt, Einzelheiten gehen unter, III viel Fett, IV zu undifferenziert, meist nur Oberstimme |
Leonard Bernstein |
New York Philharmonic Orchestra |
Sony |
1963 |
40‘17 |
3 |
I plakativ, dynamische Differenzierung im p-Bereich zu großzügig, Temposchwankungen, an Tutti-Stellen auftrumpfend, Sinfonische Dichtung?, II molto Adagio, Musik zieht sich hin, stellenweise dick aufgetragen, III etwas schwerfällig, Mittelteil wenig gestaltet, IV Bernstein klebt an den Noten |
Mstislaw Rostropovich |
London Philharmonic Orchestra |
EMI |
1980 |
40‘08 |
3 |
mehr buchstabiert als musiziert, klingt stellenweise wie prima vista |
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||||||
Myung-Whun Chung |
Wiener Philharmoniker |
DGG |
1995 |
37‘00 |
2-3 |
vieles bleibt unterbelichtet, Melodieverläufe werden nicht konsequent nachgezeichnet, alles klingt irgendwie verwaschen oder grob |
Hinweise zu Dirigenten und
Interpretationen
Hans Schmidt-Isserstedt
Vom
langjährigen Leiter des Hamburger Rundfunk-Sinfonie-Orchesters, Hans Schmidt-Isserstedt erreichten zwei Aufnahmen den Plattenmarkt. Die
erste wurde 1953 auf einer Tournee durch England in der Londoner Kingsway Hall produziert. Das Orchester nannte sich damals
noch NWDR-Sinfonie-Orchester, weil nach dem Krieg NDR und WDR eine Fusion
eingegangen waren unter dem Namen NWDR, das WDR-Sinfonie-Orchester trug den
Namen Kölner-Rundfunk-Sinfonie-Orchester. Soviel zur Historie. Die
Decca-Aufnahme überzeugt bei prägnantem Musizieren durch eine sehr deutliche
Stimmführung, einhergehend mit einer entsprechenden Balance und guter
Transparenz, trockenes Klangbild. Schmidt-Isserstedt
ist mit seinen Musikern immer nahe an der Partitur, für leise Stellen erlaubt
sich der Dirigent einen Spielraum.
Die spätere
Aufnahme aus der Hamburger Musikhalle bringt einen vollen, saftigen,
Oberstimmen-betonten Klang, allerdings wird so der Detailreichtum der früheren
Aufnahme nicht erreicht, so klingen hier die Fagotte unterbelichtet. Wie auch
früher trifft der Dirigent den Dvorak-Klang sehr gut.
Carlo Maria
Giulini
Für Giulini ist Dvorak nicht der böhmische Musikant, sondern
scheint, nach seinen Platten zu urteilen, vornehmlich ein großartiger
Klangarchitekt zu sein mit vor allem in den Ecksätzen dämonischen Zügen.
Seine Aufnahmen sind vorzüglich gelungen, auch die spätere langsamere mit dem
Concertgebouw Orchester. Ich würde sie sofort höher platzieren, wenn da nicht
die zu langsamen, teilweise verschleppten, Tempi im ersten Satz wären, trotz
schöner Holzbläserdetails. Auch die frühere Aufnahme aus der Berliner
Philharmonie ist mir zu phlegmatisch, darunter leidet die Spannung. Der
Rundfunkt-Mitschnitt klingt etwas breiiig und nicht
optimal transparent.
Rafael
Kubelik
Kubelik
hat die 7.Sinfonie dreimal im Studio produziert, die hier vorliegenden aus Wien
und Berlin, sowie eine ältere mit dem Londoner Philharmonia
Orchestra, die ich jedoch nicht kenne. Dazu kommen die beiden Mitschnitte aus
Amsterdam und München. Kubeliks Auffassung der 7. hat sich im Laufe der Jahre
kaum gewandelt, so dass ich beim Kauf nur raten kann, die klanglich besten ins
Kalkül zu ziehen, also die Studio-Aufnahme aus der Berliner
Jesus-Christus-Kirche oder den Münchner Mitschnitt aus dem Herkulessaal. In der
DG-Aufnahme ist die Pauke etwas zu leise. Beim 2. Satz hört sich die Berliner
Aufnahme etwas strenger an als die aus München, die wiederum rhapsodischer
klingt, in beiden ist die schöne Hornstelle T. 25/26 gut zu verfolgen. Das
Klangbild der Wiener Aufnahme ist leicht flächig, geringes Bandrauschen
überhört man jedoch schnell. Im 2. Satz lässt die kontrastierende Begleitung
der Solo-Bratschen zu den Holzbläsern aufhorchen, von vielen Dirigenten
übersehen! Der 3. Satz kommt recht urwüchsig daher, die Klangkultur der
Streicher aus Berlin und München gefällt mir jedoch besser. Der Mitschnitt aus
Amsterdam von 1950 wurde statt auf Tonband auf Acetat-Platten festgehalten, so
dass Störungen unvermeidlich sind. Das Klangbild ist verschleiert, die
Orchester-Tutti fallen recht kompakt und klobig aus, die Aufnahme ist etwas für
Kubelik-Sammler. In allen Aufnahmen nimmt Kubelik den Anfang des 1. Satzes
etwas langsamer, zieht danach aber das Tempo fast unmerklich an. Auch das 2.
Thema lässt er in allen Aufnahmen deutlich langsamer spielen.
eingestellt 2004
letzte Ergänzung:
05.12.20