Das Klassik-Prisma

 

 Bernd Stremmel

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Sinfonie Nr. 94 G-Dur

Sinfonie „mit dem Paukenschlag"

Adagio cantabile, Vivace assai – Andante – Menuetto, Allegro molto – Allegro molto

Diese Sinfonie entstand im Jahr 1791 auf seiner ersten Londoner Reise und wurde im folgenden Jahr dort uraufgeführt. Sie gehört zur Gruppe der ersten sechs Londoner Sinfonien, denen auf seiner zweiten Londoner Reise sechs weitere folgten. Die Sinfonie G-Dur Nr. 94 ist wohl die bekannteste aus dieser Werkreihe. Haydn lässt den Dirigenten in Bezug auf ihre Interpretation viel weniger Spielraum als etwa Beethoven oder die Romantiker, insofern müsste es viel leichter sein, zum Kern der Musik vorzustoßen und diesen auch zu treffen. Die wenigsten Überraschungen bietet der Kopfsatz, der schulmäßig ausgearbeitet ist, in dem jedoch dem ersten Thema viel mehr Platz eingeräumt wird als dem zweiten. Beim vergleichenden Hören mit Partitur werden jedoch unterschiedliche Artikulationen bestimmter Motive evident: Unmittelbar vor dem langen f-Abschnitt ab T. 21 spielen die Geigen drei Achtelnoten, Haydn verlangt staccato, so wird es meist ausgeführt. Einige Dirigenten entscheiden sich jedoch für legato, so Karajan, Ferencsik, Solti, Dorati, Bernstein und Slatkin. Ein Bewegunggrund für diese Spielweise könnte sein, dass der Komponist bei ähnlichen Stellen auch legato vorsieht, so in T. 42 und T. 157 am Beginn der Reprise. Giulini wählt noch einen anderen Weg; er lässt diese drei Achtel wie die vorhergehenden artikulieren: die beiden ersten gebunden, das dritte abgesetzt. In derselben Weise lassen Furtwängler, van Beinum, Karajan, Giulini, Maazel und Tate die beiden Einwürfe der Oboe in den Takten 40/41 sowie 219/220 spielen, obwohl Haydn staccato verlangt.

Viele Musikfreunde meinen aufgrund des effekthaschenden Paukenschlags im zweiten Satz – der in Wirklichkeit ein ff-Tutti-Akkord des gesamten Orchesters ist –, dass sich der Komponist hier kompositorisch ein wenig ausgeruht habe, dies widerspricht aber der musikalischen Substanz des Satzes. Tatsache ist, dass gerade dieser Satz mit seinen sieben Variationen sehr kunstvoll und abwechslungsreich erfunden wurde. Das zugegeben simpel klingende Thema ist in zwei Abschnitte unterteilt – jeweils mit Wiederholung – und beschäftigt zunächst nur die Streicher. Nach dem sogenannten Paukenschlag folgt der zweite Abschnitt, auch mit Wiederholung. Während zunächst weiterhin die Streicher spielen, treten bei der Wiederholung Holzbläser und zwei Hörner hinzu. Die folgenden Variationen folgen nun keinesfalls dem im Thema vorgestellten Formschema: Während in der ersten beide Teile wiederholt werden, variieren die zweite, vierte und sechste jeweils nur die ersten acht Takte.

Die erste Variation beginnt mit einem f-Akkord des ganzen Orchesters. Goodman, Bernstein, Haenchen, Ferencsik und Slatkin bringen diesen Akkord so kräftig, als wäre es ein weiterer Paukenschlag. Auf der Zählzeit zwei sollen die Streicher leise weiterspielen, Giulini, der sich wohl intensiv mit Haydns dynamischen Absichten auseinandergesetzt hat, lässt in diesen ersten zwei Takten die zweiten Geigen, Bratschen und Bässe laut spielen. Motiviert für diese Lesart haben ihn wahrscheinlich die Takte fünf und sechs, in denen Haydn für diese Instrumente f verlangt. Er passt also diese Takte dynamisch aneinander an. Fast alle anderen Dirigenten ignorieren Haydns f in Takt 5 und spielen hier durchgehend p. Man könnte fragen, hat da der Komponist nicht aufgepasst, oder der Notenstecher geschludert? Nach Giulinis Auffassung kann man das glauben. Auch auf eine Ungleichheit in der Artikulation in Takt 2 und 6 im ersten Teil sowie T. 10 im zweiten muss hingewiesen werden. Nach Haydns Wille sollen dort die ersten drei Sechzehntel der ersten Geige (Takt 6 auch der Flöte) staccato gespielt werden. Viele Dirigenten haben sich jedoch für legato entschieden: u. a. Toscanini, Furtwängler, Monteux, Szell, Beecham, Lehmann, Ludwig, Krips, Knappertsbusch, van Beinum, Celibidache, Richter, C. Kleiber, Sawallisch und Maazel. Eine ähnliche Abweichung findet man auch in der vierten Variation. Dort verlangt der Komponist nach dreimal vier Sechzehnteln der Oboe eine Viertel, er vermerkt extra ten. (tenuto=gehalten), entsprechend auch in Takt 6 auf der zweiten Zählzeit. Eine Anzahl von Dirigenten negieren die Viertel und lassen die Oboe einfach mit vier Sechzehnteln weiterspielen: so Monteux, Furtwängler, Scherchen, Schmidt-Isserstedt, van Beinum, Knappertsbusch, Krips, Steinberg, Celibidache, Richter, C. Kleiber, Sawallisch und Maazel. Spätestens hier stellt sich die Frage nach einer authentischen Partiturausgabe. Das Kölner Haydn-Institut, das eine kritische Gesamtausgabe herausgegeben hat (ab 1958), berichtet, dass nur von einem Drittel von Haydns Werken Autographe vorliegen, bei den restlichen Werken musste vorwiegend aus Stimmenmaterial das Werk rekonstruiert werden. Die bereinigte Ausgabe der Sinfonie Nr. 94 erschien erst im Jahre 1997, also zu einer Zeit, als die meisten der hier versammelten Aufnahmen längst aufgenommen waren. Außerdem ist nicht davon auszugehen, dass sich die Dirigenten sogleich diese ziemlich authentische Ausgabe zu Eigen gemacht haben. Dafür sprechen auch unterschiedliche Artikulationen der zweiten Geigen im Trio des dritten Satzes: Haydn bindet im zweiten Teil ab T. 71 bei ihrer Begleitstimme immer zwei Achtel zusammen – mit dieser Spielweise gehen erste Geigen und Fagott bereits im ersten Teil voran –, viele Dirigenten negieren jedoch die Zweiergruppen der Sekundgeiger und lassen alle Achtelnoten mehrere Takte lang staccato ausführen, das klingt zwar reizvoll, wir wissen jedoch nicht, ob es Haydns Absicht entspricht. Man könnte noch einige weitere Stellen mit abweichender Artikulation nennen, das führt dann doch zu weit.

Kehren wir noch einmal zum zweiten Satz zurück: Wie zu Zeiten der Klassik üblich, ist eine der Variationen in Moll zu führen (minore). Haydn beugt sich in Variation 2 dieser Konvention, allerdings nur für vier Takte, dann verlässt er c-Moll und sofort geht es in As-Dur weiter. In der vierten Variation verlässt er die strenge Form, bei der das Thema unverändert gegenwärtig ist, verarbeitet nur den Themenkopf und gesellt ihm schnelle absteigende Läufe sowie weitere Figuren zu. Das Ruhige und Überschaubare des Themas ist hier vorbei, dafür sorgt auch der ständige Tonartenwechsel. In der fünften Variation wiederholen die beiden Geigen notengetreu und unisono das Thema. Darüber erfindet der Komponist ein wundervolles Zwiegespräch von Flöte und Oboe. Das Besondere daran ist noch, dass sich letztere nicht an das vorgegebene Vierertaktschema des Themas anpassen, sondern in fünf bzw. sieben Takten phrasieren; das setzt sich im wiederholten zweiten Variationsteil fort, jetzt treten noch zwei Hörner hinzu. Sehr poetisch schließt dieser Satz: nach einem lauten verminderten Akkord des gesamten Orchesters kehrt die Musik zur Grundtonart C-Dur zurück. Oboe und Fagott bringen noch einmal das Thema, es klingt jedoch wie eine leise Verabschiedung desselben.

Der Tanzsatz dieser Sinfonie entspricht nicht ganz Haydns gepflegtem Schema, nicht Allegro ist in der Partitur vermerkt, sondern Allegro molto. Bei diesem ungewöhnlich schnellen Tempo denkt man unverzüglich an Beethovens 1. Sinfonie, bei der der dritte Satz, Menuetto, auch den Zusatz Allegro molto trägt. Die meisten Dirigenten misstrauen bei Haydn dem Zusatz molto und lassen in mäßigerem Tempo aufspielen.

Auch der Finalsatz dieser 94. Sinfonie fällt aus dem Rahmen. Er beginnt schulmäßig mit dem ersten Thema in der Grundtonart G-Dur, darauf folgt das zweite Thema in der Dominanttonart D-Dur. Nach 99 Takten beginnt die Durchführung, zunächst suchend in C-Dur, nach vier Takten geht es jedoch in der Grundtonart weiter. Auffallend ist, dass hier nur das erste Thema durchgeführt wird und Haydn auch nach T. 140 den musikalischen Faden zu verlieren scheint. Nach wenigen Takten greift er noch einmal das Hauptthema auf und führt es erneut durch, diesmal jedoch mit mehr motivischer Arbeit und viel Dramatik . In Takt 181 ist endlich die Reprise erreicht. Brauchte Haydn beim Beginn für das erste Thema noch 72 Takte, so reichen ihm jetzt nur 27. Auch das zweite Thema muss sich nun mit 16 Takten begnügen. Dann folgt die knappe Coda, die in Takt 233 auch noch mit einem plötzlichen Paukenwirbel aufwartet, den viele Dirigenten aber übersehen. Wahrhaft – eine ungewöhnliche Sinfonie!

Die Wiederholung im Kopfsatz wird meistens gespielt, ausgenommen bei Beecham, Monteux, Furtwängler, Knappertsbusch, Scherchen, Krips, Schmidt-Isserstedt, Ludwig, Celibidache und C. Kleiber. Lediglich Monteux verzichtet auch auf die Wiederholung der 2. Variation (minore) in Satz zwei.

5

Thomas Beecham

Royal Philharmonic Orchestra London

EMI

1957 I/II Paris                               

1958 III/IV London                                               

22‘32

 

I viel Drive, lustbetontes Musizieren, dynamische Differenzierung im p-Bereich nicht immer top, II in Richtung Adagio, Paukenschlag breit, aber im Metrum, Atmosphäre, III kraftvolles Menuett, fast schon ein Scherzo, mit viel Charme, IV nicht überhitzt

5

Carlos Kleiber

Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester

WDR unveröffentlicht

1972

20‘22

 

live – genaues und doch entspanntes und harmonisches Musizieren, keine extremen Tempi, Verzicht auf große philharmonische Besetzung – gute Transparenz und Balance

5

George Szell

Cleveland Orchestra

CBS Sony

1967

24‘01

 

I nicht übertrieben schnell, stattdessen vorbildhafte Artikulation, II Andante, Paukenschlag sehr präzise, ohne Überrumpeln-wollen, ohne Humor, straff und klar musiziert, III frisch, fast wie ein schneller Walzer, IV virtuoses Spiel, Streicher etwas bevorzugt

5

Jeffrey Tate

English Chamber Orchestra

EMI

P 1992

24‘09

 

frisch musiziert, ansprechend, hervorragende dynamische Differenzierung, ausgeglichene Tempowahl, sehr gute Transparenz und Balance, farbiges Klangbild

5

Pierre Monteux

Wiener Philharmoniker

Decca

1959

20‘09

 

s. u.

5

Antal Dorati

Philharmonia Hungarica

Decca

1972

22‘16

 

aufmerksames Dirigat in allen Sätzen, lebendiges Musizieren, farbiges Klangbild, sehr gute Transparenz und Balance, IV überschäumende Musizierlaune

 

4-5

Colin Davis

Concertgebouw Orchester Amsterdam

Philips

1981

23‘34

 

I sorgfältiges und lebendiges Musizieren, Blech und Pauke beleben das Klangbild, II schnelles Andante, „Paukenschlag" sehr knapp, Hörner T. 104/05 wenig deutlich, III munter, farbiger Bläserklang, IV nur Allegro – ausgeglichenes Klangbild

4-5

Josef Krips

Wiener Philharmoniker

Decca

1957

22‘32

 

I E gefühlvolle Bläser, HT schwungvoll, einige Portamenti, II prägnant, Streicher in f-Passagen etwas rau, T. 145-152 ahnungsvoll gespielte Streicherbegleitung, III nur Allegro, Menuett mit einem Anflug von Behäbigkeit, Trio mit viel Klangsinn, IV lebendig

4-5

Georg Solti

London Philharmonic Orchestra

Decca

1983

23‘20

 

I bedeutungsvolle E, stürmischer HT, elastisches Musizieren, sportlich, II bewegtes Andante, geradlinig, genau, jedoch etwas distanziert, III kein Allegro molto, etwas behäbig, IV spürbare Vitalität, pointiert artikuliert – sehr gute Transparenz und Balance

4-5

Pierre Monteux

Boston Symphony Orchestra

WHRA

1956

20‘15

 

s. u.

4-5

Dennis Russell Davies

Stuttgarter Kammerorchester

Sony

1999

23‘59

 

I mit spürbarer Hingabe, schwungvoll, II inspiriert, nuancenreich, deutliches Fagott, III kein Allegro molto, stattdessen gewichtig, IV konzentriert – insgesamt unspektakulär, ein wenig nüchtern

4-5

Eugen Jochum

London Philharmonic Orchestra

DGG

1972

24‘44

 

s. u.

4-5

Mariss Jansons

Symphonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks

BR Klassik

1997

24‘28

 

live – I E fast schon ein Andante, HT kraftvolles, farbenreiches Musizieren, II kantabel, fantasiereich, abgesehen von f-Partien immer locker, III kraftvolles Menuett, kein Allegro molto, liebevoll gestaltetes Trio, IV ausgelassen, jenseits von Routine

4-5

Adam Fischer

Österreich-Ungarisches Haydn-Orchester

Nimbus         Brilliant

1988

23‘35

 

I/IV von musikalischer Energie sprühendes Musizieren, farbiges Klangbild, III gemächlich, könnte akzentuierter gespielt werden – Bläser treten (zu sehr) zurück

4-5

Jesús Lopez-Cobos

Kammerorchester Lausanne

Denon

1992

23‘48

 

aufmerksames Dirigat, elastisches Orchesterspiel, farbiger Klang, gute Transparenz und Balance sowie dynamische Differenzierung, ausgeglichene Tempowahl – II Pauke am Schluss (T. 149 ff) zu leise

4-5

Günther Herbig

Dresdner Philharmonie

Eterna                Berlin Classics

1975

23‘53

 

I prickelndes Allegro, straff musiziert, II breiter „Paukenschlag", Haydns Notentext sensibel nachgezogen, III wie selbstverständlich, IV vital, Musik im Kern getroffen

4-5

Wilhelm Furtwängler

Wiener Philharmoniker

EMI

1951

22‘39

 

s. u.

 

4

Eduard van Beinum

Concertgebouw Orchester Amsterdam

Decca                Retrospective

1951

21‘57

 

I E Bläser anfangs mit zu viel Druck, auf hohem Niveau, II mit viel Klangsinn, T. 145 Oboe verdeckt Fagott, III markant akzentuiert, Tanzcharakter betont, jedoch kein Allegro molto, IV vital – Pauke vernachlässigt, durchsichtiges Klangbild, Lautstärke im p-Bereich großzügig ausgelegt

4

Hans Schmidt-Isserstedt

NDR Sinfonie-Orchester Hamburg

Capitol            Tahra

1955

22‘30

 

I großbesetztes Orchester, Dirigent verfügt über Stilgefühl für diese Musik, mäßiges Tempo, II mit einer erhabenen Ruhe gespielt, Pauke T. 149-153 genau in den musikalischen Kontext eingepasst, III gemächlich, IV kein Allegro molto, ausgeglichen, gefällig – Sätze 1 und 2 überzeugen mehr

4

Fritz Lehmann

Berliner Philharmoniker

DGG                 forgotten records

1950

25‘55

 

I natürlich ungezwungen, ein Hauch akademisch, 2. Violinen beim Doppelschlag T. 195 etwas gequetscht, II Adagio, exakt, jedoch etwas starr, Hörner T. 104/05 zu leise, III zu behäbig, großbesetztes Orchester wirkt aufgeplustert, IV nur Allegro, sorgfältig – insgesamt für die Aufnahmezeit gute Transparenz, gute dynamische Differenzierung

4

Hermann Scherchen

Orchester der Wiener Staatsoper

Westminster         DGG

1951

24‘58

 

I E Adagio molto, HT sehr gewichtig, Partitur durchleuchtet, II fast schon Adagio, Scherchen übernimmt nicht alle von Haydns Artikulationszeichen, strahlende Tutti-Stellen, zum Ende hin etwas langsamer, III kräftiges Menuett, zartes Trio – großbesetztes Orchester, Haydn als bedeutender Komponist herausgestellt

4

Eugen Jochum

Staatskapelle Dresden

Eterna            Berlin Classics

1967

25‘12

 

s. u.

4

William Steinberg

Pittsburgh Symphony Orchestra

Capitol EMI

1958

24‘20

 

Steinberg stellt sich hinter das Werk, dynamische Differenzierung noch nicht ausgeschöpft – I die große Linie nachgezeichnet, entschiedener Zugriff, II mehr im Mainstream, III gebremstes Tempo

4

Leonard Bernstein

Wiener Philharmoniker

DGG

1985

24‘47

 

live – s. u.

4

Herbert von Karajan

Berliner Philharmoniker

DGG

1982

23‘22

 

I mäßiges Tempo, ohne Überschwang musiziert, II im Vergleich zu Satz 1 zu schnell, interpretatorischer Gleichlauf, Pauke T. 149 ff viel zu leise, III Menuett mit Schwung, Trio wie durchgespielt, IV lebendig, klanglich nicht so durchgearbeitet wie z. B. bei Solti – in allen Sätzen Streicher-beherrschte Tuttiabschnitte

4

Hans Knappertsbusch

Berliner Philharmoniker

audite

1950

24‘25

 

live – I E spannungsvoller Aufbau, HT mit gebremsten Tempo, trotzdem Haydn auf der Spur, II Adagio, straffer und präziser Paukenschlag, T. 149 ff kein pp, III behäbig, auch etwas grob, T. 38-40 und T. 48-51 plötzlich langsamer, IV jeweils beim 2. Thema deutlich langsamer – individuell geprägter Interpretationsstil, großbesetztes Orchester, an den Tutti-Stellen dicke Bässe, Publikumsstörungen

4

Karl Richter

Berliner Philharmoniker

DGG

1961

25‘38

 

I natürliches Musizieren, konzentriert, II mäßiges Tempo, etwas routiniert, mehr Mainstream, T. 145 Oboe verdeckt Fagott, Pauke T. 149 ff zu leise, III breit genommenes Menuett, ohne Charme, wenig Spannung, IV kein Allegro molto, wie „auf-Nummer- sicher" gespielt

4

Wolfgang Sawallisch

Wiener Symphoniker

Philips Decca

1961

23‘21

 

I , schneller, ausgelassener HT, jedoch etwas einförmig, II aufmerksam, III kein Allegro molto, etwas nüchtern, IV lebendig – Klangbild nicht so farbig wie bei späteren Philips-Aufnahmen

4

Lorin Maazel

Radio-Sinfonie-Orchester Berlin

audite

1975

22‘32

 

live – I entspanntes Musizieren, aber immer aufmerksam, II bewegtes Tempo, zu stromlinienförmig, Pauke T. 149 ff zu leise, III ansprechend, IV vital, ausgewogen

4

Leonard Slatkin

Philharmonia Orchestra London

RCA

1993

22‘46

 

I schwungvoll, neigt bei Tutti-Stellen zum Auftrumpfen, II-IV „moderner" Zugriff: durchgezogen, sachlich, mehr vorgeführte Orchesterqualität – insgesamt etwas hektisch, wenig Charme

4

Leopold Ludwig

NDR Sinfonie-Orchester Hamburg

Vox MPCS

~ 1958

21‘57

 

I frisches Tempo, unbekümmert, II im Thema ganz kurze Achtel, Streicher an lauten Stellen teilweise scharf klingend, Pauke T. 149 ff zu leise, III behäbiges Menuett, erdverbunden, Phrasierung im Trio nicht einheitlich. IV fröhlich, lustbetont – dynamische Differenzierung insgesamt wenig ausgeprägt, Unterschiede zwischen p und pp gering

4

Carlo Maria Giulini

Symphonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks

hänssler

1979

24‘52

 

live , s. u.

 

3-4

Wilhelm Furtwängler

Wiener Philharmoniker

WFHC

1950

23‘01

 

live, s. u.

3-4

Janos Ferencsik

Ungarische Staatsphilharmonie Budapest

Hungaroton            Delta

P 1972

23‘35

 

I temperamentvoller Vortrag, stürmisch, jedoch wenig delikat, eher robust, II gediegen, wenig Spannung, III geradlinig, wenig Feinschliff, IV vital zupackend – Haydns Musik wurde in seiner Generation im Vergleich zu Beethoven, Brahms u. a. noch nicht mit demselben Ernst gespielt

3-4

Sergiu Celibidache

Berliner Philharmoniker

audite

1946

24‘04

 

live – I E sehr langsam, erster „Paukenschlag" bereits T. 15, HT konzentriert, an leisen Abschnitten Tempo etwas zurückgenommen, groß besetztes Orchester, II Adagio, sämig, wenig Spannung, III Tempovorschriften unbeachtet, zäh und derb, Rubati, IV endlich im Tempo, durchgepeitscht – Aufnahme insgesamt zu disperat

3-4

Carlo Maria Giulini

Berliner Philharmoniker

Testament

1976

25‘54

 

live, s. u.

3-4

Leonard Bernstein

New York Philharmonic Orchestra

CBS             Sony

1971

26‘21

 

s. u.

 

3

Arturo Toscanini

NBC Symphony Orchestra

RCA

1953

19‘13

 

I Presto, wie ein Parforce-Ritt, II schnelles Andante, Var. 1 tiefe Streicher etwas derb, Var. 3 am Schluss Instrumente nicht immer genau zusammen, im f und ff lärmend, III gehetzt, durchgepeitscht, mechanisch, IV lärmende Tuttis – überwiegend Streicher-beherrschtes Klangbild, Haydn-Affinität?

 

Interpretationen nach informierter Aufführungspraxis sowie mit Originalinstrumenten

5

Christopher Hogwood

The Academy of Ancient Music

Decca

1984

24‘09

 

I spürbare Vitalität, elastisches Musizieren, II kräftiger Paukenschlag, vergleichbar mit einem Blitz, pointiert artikuliert, III nur Allegro, IV leicht und locker – Artikulation der Streicher nicht immer nach Vorlage

5

Sigiswald Kuijken

Le Petite Bande

DHM

1992

23‘20

 

I entschieden voran, fantasiereich, II ganz leiser Beginn, „Paukenschlag" etwas breiter, farbenreich, pulsierende Tutti-Abschnitte, III fantasiereich, IV spannungsintensive Beredtheit, lustbetontes Musizieren – Pauke könnte insgesamt etwas mehr hervortreten

5

Roy Goodman

The Hanover Band

hyperion

1992

23‘20

 

I pointiert artikuliert, mit Verve, jedoch auch ein wenig starr, II „Paukenschlag" wie bei Hogwood, mit Hingabe, IV kraftvoll, Musik läuft wie am Schnürchen – Pauke immer präsent, jedoch nicht aufdringlich

 

Interpretationen nach informierter Aufführungspraxis mit modernen Instrumenten

5

Thomas Fey

Heidelberger Symphoniker

hänsler

1998

23‘49

 

I aufmerksames Dirigat, temperamentvoll, farbiges Klangbild, II Fey schaltet blitzschnell in T. 33 von f auf p um, bemerkenswerte Coda bei reduziertem Tempo, III wollte Haydn das Menuett so schnell?, Trio deutlich langsamer, nuancenreich, IV con spirito – angerauter Klang, bei den Tuttistellen darf das Perkussive stärker hervortreten, sehr gute dynamische Differenzierung

5

Frans Brüggen

Orchester des 18. Jahrhunderts

Philips

1992

23‘00

 

I orchestrale Vehemenz, II Potential der Musik ausgeschöpft, III ausgelassenes Menuett, Trio etwas zurückhaltender, IV überschäumende Musizierlaune – etwas geglättender Klang

 

4-5

Roger Norrington

SWR Sinfonie-Orchester Stuttgart

hänssler

2009

21‘42

 

puristische Strenge, Stilbewusstsein, sehr gute Differenzierung und Balance, jedoch sparsamer Umgang mit Klangfarben, wenig Charme

4-5

Nikolaus Harnoncourt

Concertgebouw Orchester Amsterdam

Teldec

1990

23‘04

 

I E Musik beginnt ungewöhnlich düster, HT Oboe T. 40/41 sowie T. 55/56 legato statt staccato, so gehen die Motive fast unter, II etwas starr musiziert, ohne Charme, III schwungvolles Menuett, Trio etwas langsamer, IV etwas hektisch – helles Klangbild, gute Transparenz und Balance, bei Tutti-Abschnitten blechgepanzert

4-5

Hartmut Haenchen

Kammerorchester „Carl Philipp Emanuel Bach" Berlin

Eterna          Berlin Classics

P 1991

2321

 

sorgfältiges, jedoch etwas zu sachliches Musizieren, weniger Charme, sehr gute Transparenz und Balance, Haenchen übernimmt nicht immer Haydns Phrasierungen und Artikulationen, aus Staccato wird Legato und umgekehrt, es gibt jedoch auch so Sinn – II Pauke am Satzende zu leise, IV kein Allegro molto

 

Transkription für Flöte, Streichquartett und Cembalo von Johann Peter Salomon:

 

 

Florilegium

Channel

2002

21‘50

 

ansprechende Interpretation, für neugierige Haydn-Fans

 

Hinweise zu Interpreten und Interpretationen

Pierre Monteux

Der französische Dirigent hatte bei Haydn ein gutes Händchen. Sehr lebendig und facettenreich spielen die Wiener Philharmoniker auf, der Schlusssatz zieht wie ein Wirbelwind vorüber. Der Live-Mitschnitt aus Boston ist in den ersten drei Sätzen noch geringfügig schneller, kann jedoch klanglich nicht ganz mithalten, so bleiben z. B. die Hörner in den Takten 103/104 zu leise und der Tuttiklang ist zu stumpf. Im Finalsatz verzögert Monteux beim Eintritt des zweiten Themas etwas das Tempo.

Wilhelm Furtwängler

Furtwänglers Haydn-Repertoire war recht schmal, John Hunt verzeichnet in seiner Furtwängler-Diskographie nur die Sinfonien Nr. 88, 94 und 104. In früheren Jahren standen in Konzertsälen außer den drei genannten zumindest noch die Sinfonie Nr. 100 sowie das D-Dur-Cellokonzert auf dem Programm. Die Paukenschlag-Sinfonie zählt zu den relativ wenigen Studio-Produktionen des Dirigenten, sie entstand im Januar 1951 bereits im Magnettonverfahren, wurde aber im Vereinigten Königreich wie üblich noch auf drei Schellackplatten veröffentlicht, kam in den anderen Staaten jedoch als LP in den Handel. Das Klangbild ist für die Aufnahmezeit präsent und erfreulich transparent. Gleich in der kurzen Einleitung kann man den Meister der Spannung und Entspannung erleben, danach folgt ein heiterer Haydn, keine Beethoven-Imitation. Das gilt in gleicher Weise auch für das Menuett sowie den Finalsatz. Für den Variationssatz wählt Furtwängler ein recht langsames Tempo, die Musik klingt so etwas betulich. Bei der Artikulation und Phrasierung präsentiert er oft eigene Vorstellungen. Die Var. 7 samt anschließender Coda werden romantisch aufgeladen. Ein Jahr zuvor stand die Sinfonie bei einer Tournee mit den Wiener Philharmonikern in nordische Hauptstädte, sowie Den Haag, Münster und Bern auf dem Programm. Die japanische Furtwängler-Gesellschaft hat den Stockholmer Rundfunkmitschnitt auf CD veröffentlicht. Gegenüber der Studio-Platte werden hier die Ecksätze schneller, die Binnensätze jedoch langsamer gespielt, insgesamt ist die Interpretation ähnlich. Wie meist in damaliger Zeit wurde das Konzert auf Acetatplatten gespeichert, was ein ständiges Rauschen und Knacken zur Folge hat. Der Klang ist zudem entfernt und kompakt eingefangen. Wer die EMI-Platte besitzt, kann auf diese Veröffentlichung verzichten.

Eugen Jochum

Jochums musikalische Wurzeln und Interpretationshaltung reichen noch ins 19. Jahrhundert zurück, das ist noch bei seinen beiden Studioaufnahmen, die nur fünf Jahre auseinander liegen, zu hören. Er wusste noch nichts von historisch-informierter Aufführungspraxis samt reduzierter Orchesterbesetzung, vor allem bei den Streichern. Entsprechend großformatig klingt die Aufnahme mit der Dresdner Staatskapelle. Der Dirigent achtet jedoch bei sorgfältigem Spiel auf eine gute Balance beim Zusammenspiel mit den Holzbläsern sowie auf immer transparenten Klang. Für den Kopfsatz und das Menuett wünschte ich mir allerdings ein etwas schnelleres Tempo. Die lauten Tutti-Passagen des Andantes klingen etwas schwerfällig. Einzig das Finale gefällt mit schwungvollem, allerdings nicht immer delikatem, Spiel. Die folgende Aufnahme aus London klingt ein wenig lebendiger, im Kopfsatz begegnet uns auch ein etwas schnelleres Tempo. Grund dafür mag der weniger stark besetzte Streicherapparat zu sein. Insgesamt nimmt auch diese Aufnahme mit dem ein wenig hellern Klangbild für sich ein. Im dritten Satz wird jedoch etwas zu breit musiziert, auch ist die Artikulation im Trio nicht so deutlich wie in Dresden. Im Finale dagegen klingt das oft überspielte Pizzicato der beiden Violinen T. 227-232 dezent, in London jedoch deutlicher. Am Ende des zweiten Satzes in den Takten 149-153 ist die Pauke in der frühen Aufnahme genau in den Gesamtklang eingepasst, später hört man sie leiser.

Carlo Maria Giulini

Der italienische Dirigent hatte von Haydn lediglich die Sinfonie Nr. 94 im Repertoire. In den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts führte er sie mit den Berliner Philharmonikern sowie dem Symphonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks auf, die Mitschnitte der beiden Konzerte erreichten den Schallplattenmarkt. Längst vom Markt verschwunden ist jedoch seine Studioproduktion mit dem Londoner Philharmonia Orchester.

Von den Konzertmitschnitten stelle ich den aus München vor den aus Berlin. Letzterer beginnt schon in der Einleitung sehr ernsthaft, danach wird kraftvoll, sorgfältig aber auch sehr gewichtig musiziert, vom heiteren Haydn keine Spur. Im zweiten Satz herrscht große Ruhe, nur der bedrohliche „Paukenschlag" schafft Abwechslung. Kurz vor Schluss ist die Pauke nicht zu hören. Das Menuett besitzt einen Anflug von Behäbigkeit – „Papa Haydn"? – auch das Finale ist meiner Meinung nach ohne Schwung gespielt. Die Münchner Aufnahme gefällt etwas besser, da hier insgesamt lebendiger gespielt wird, auch hört man die schon erwähnte Pauke gegen Ende des zweiten Satzes.

Leonard Bernstein

Mit dem amerikanischen Dirigenten stehen zwei Aufnahmen zum Vergleich an. Im Jahre 1971 entstand eine Studio-Einspielung mit den New Yorker Philharmonikern, die wenig Haydn-Nähe besitzt. Abgesehen vom Finalsatz pflegt Bernstein langsame Tempi, so klingt der Kopfsatz sehr gewichtig, streng und ernst. Der Variationssatz klingt als Adagio schon phlegmatisch, hatte der Dirigent schon an den „Papa Haydn" gedacht? Behäbig geht es im Menuett weiter, die Vorschläge werden hier als Achtel gespielt, auch in der folgenden Aufnahme. Erst im Finalsatz geht es richtig zu Sache, jedoch etwas hemdsärmelig. Insgesamt lässt Bernstein Streicher-betont spielen; die dynamische Differenzierung im p-Bereich ist recht pauschal. Besser gefällt da der Konzertmitschnitt mit den Wiener Philharmonikern, auch wenn nicht wesentlich schneller gespielt wird. Der Klang hat hier mehr Farbe, auch weil die Bläser viel mehr hervortreten dürfen. Im zweiten Satz erschreckt ein kräftiger Paukenschlag, vergleichbar mit einem nahen Blitz. Trotz des gleich schnellen Tempos hat das Menuett die frühere Behäbigkeit verloren. Im Finale verpassen die zweiten Geigen dem Seitenthema einen tänzerischen Anstrich.

eingestellt am 10.05.18

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