Das Klassik-Prisma

 

 Bernd Stremmel

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Die Hebriden" Konzertouvertüre op. 26

 

Mendelssohns Hebriden-Ouvertüre wurde nicht nur von Johannes Brahms geliebt, sie ist bis heute  eine der meist geschätzten und bewunderten Schöpfungen des Komponisten geblieben. In der Musik spiegelt sich das Erlebnis einer Schifffahrt bei stürmischer See zur schottischen Insel Staffa mit ihrer Fingals-Höhle wieder (1829). Mendelssohn begann mit der Komposition noch im selben Jahr und beendete sie in Rom im Dezember 1930, er gab ihr den Titel „Die Hebriden“. Auf einer Abschrift des Autographs taucht jedoch der Titel „Die einsame Insel“ auf. Der Komponist war jedoch noch nicht zufrieden mit dem Werk und arbeitete weiter an ihm. Erst im Juni 1832 wurde die Partitur endgültig abgeschlossen (= 2. Fassung), so wird sie bis heute immer wieder gespielt. Die Erstfassung wurde nach meiner Erkenntnis vor einigen Jahren nur von Riccardo Chailly eingespielt.

 

Die Ouvertüre ist oft aufgenommen worden, meist als Füller zur 3. Sinfonie.

Nach dem Vergleichen von mehr als dreißig Aufnahmen ergibt sich mir folgendes Bild:

-        viele Dirigenten stellen die Musik betont dramatisch dar (stürmisch, aufgewühlte See): van Kempen, Schuricht, Bernstein, Furtwängler

-        andere möchten die Musik erzählen lassen, sie reihen Bild an Bild und betrachten das Werk quasi von außen: Celibidache, Karajan, Haenchen, Dohnanyi.

 

Die meisten Interpreten entscheiden sich für einen hier überzeugenden Mittelweg mit epischen und dramatischen Abschnitten.

 

5

Paul van Kempen

Berliner Philharmoniker

Philips

1951

8‘50

 

von Beginn an stürmisch, dramatisch, detailbewusst; für die damalige Zeit sehr durchsichtig aufgenommen

5

Otto Klemperer

Philharmonia Orchestra London

EMI

1960

10‘10

 

sehr klar, differenziert, Beachtung aller Details, sehr schlank musiziert

5

Wilhelm Furtwängler

Berliner Philharmoniker

Polydor          DGG

1930

9‘41

 

dramatisch, aufgewühlt, beinahe eruptive Tempozuspitzungen - ▼

5

Claudio Abbado

London Symphony Orchestra

DGG

1985

10‘19

 

durchsichtig, viele Details, gute dynamische Staffelung

5

Rudolf Kempe

Wiener Philharmoniker

EMI

1958

10‘24

 

klangfarbenreich, offenes Klangbild, im animato-Abschnitt spieltechnische Schwächen der Streicher

5

Carl Schuricht

Wiener Philharmoniker

Decca           EMI

1954

9‘46

 

 

4-5

Carl Schuricht

Radio-Sinfonie-Orchester Lugano

Ermitage

1961

9‘47

 

live – ▼

4-5

Carl Schuricht

SDR Sinfonie-Orchester Stuttgart

hänssler

1955

10‘03

 

4-5

Carl Schuricht

SDR Sinfonie-Orchester Stuttgart

Scribendum 

1962

10‘12

 

4-5

Fritz Reiner

Chicago Symphony Orchestra

RCA

1956

9‘29

 

gute Abstimmung zwischen epischen und dramatischen Abschnitten, furioser Schluss

4-5

Wilhelm Furtwängler

Wiener Philharmoniker

Orfeo

1951

10‘24

 

live – molto espressivo, dramatisch, stellenweise tragisch, Orchester kompakt, wenig aufgefächert - ▼

4-5

Wilhelm Furtwängler

Wiener Philharmoniker

EMI

1949

9‘59

 

dramatisch, molto espressivo - ▼

4-5

Dimitri Mitropoulos

New York Philharmonic Orchestra

CBS          UA

1953

9‘03

 

unterschwellige Unruhe, Temposchwankungen, insgesamt sehr lebendige Darstellung mit Drive, Klang nicht immer hinreichend transparent

4-5

Joseph Keilberth

Berliner Philharmoniker

Teldec         Warner

1962

9‘55

selbstverständliche Perfektion paart sich mit romantischer Vortragsweise

4-5

Kurt Masur

Gewandhausorchester Leipzig

Eterna          BMG

1976

9‘41

 

Musik sensibel nachgezogen, spürbare Vitalität, T. 234-237 Holzbläser verdeckt

4-5

Pierre Monteux

Boston Symphony Orchestra

WHRA

1957

9‘29

 

live – exakte Wiedergabe, detailbewusst, sehr gute dynamische Differenzierung – etwas belegter pauschaler Klang

4-5

Arturo Toscanini

NBC Symphony Orchestra

Testament

1945

9‘37

 

live – eher dramatisch, aber nicht aufgewühlt, Schlussteil sehr schnell

4-5

Otto Klemperer

Symphonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks

BR Aufnahme

1969

11‘22

 

live – Interpretation wie schon von der Studio-Aufnahme bekannt, jedoch langsamer, etwas zu monumental, klingt in Richtung Schumann

4-5

Charles Dutoit

Orchestre symphonique de Montreal

Decca

1986

10‘03

 

schöne Bläserstellen, sehr schöner Klang

4-5

Christian Thielemann

Wiener Philharmoniker

DGG

2002

10‘10

 

Anfang etwas zu laut, nicht geheimnisvoll

4-5

Fritz Lehmann

Berliner Philharmoniker

DGG

1951

10‘03

 

mit Feingefühl, gute Balance, etwas herb, nicht immer hinreichend transparent

4-5

Claus Peter Flor

Bamberger Symphoniker

RCA

1988

10‘07

 

lebendige Darstellung, farbiges Klangbild, eine der wenigen Aufnahmen, die den Triller der Flöte T. 15 beachten

4-5

Rafael Kubelik

Kölner Rundfunk- Sinfonie-Orchester

Orfeo

1962

10‘09

 

live - moderato, nicht erhitzt

4-5

Bernard Haitink

Symphonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks

BR Klassik

P 1990

9‘24

 

live, ▼

 

4

George Szell

Cleveland Orchestra

CBS          Sony

1963

10‘51

 

alles sehr deutlich, etwas nüchtern, weniger romantisch

4

Peter Maag

London Symphony Orchestra

Decca

1960

10‘00

 

überwiegend dramatisch, sehr helles Klangbild, kratzige Streicher um T. 160

4

Antal Dorati

London Symphony Orchestra

Mercury

1956

10‘15

 

Bläser gegenüber Streichern oft benachteiligt, eher forsch als feinfühlend

4

Adrian Boult

New Symphony Orchestra of London

Chesky

1960

9‘34

 

emotionale Beteiligung zugunsten einer objektiven Darstellung zurückgestellt

4

Bruno Walter

Berliner Philharmoniker

Polydor          DGG

1923

9‘23

 

Mendelssohn-Nähe, kommt jedoch aufgrund der Trichteraufnahme wenig zum Tragen

4

Pablo Casals

Marlboro Festival Orchestra

CBS       Sony

1972

10‘35

 

nicht immer mit höchster Präzision, stellenweise etwas holzschnittartig

4

Herbert von Karajan

Berliner Philharmoniker

EMI

1960

10‘06

 

episch - hier deutet sich schon Karajans Hang zum kompakten, breiten und flächigen Klangbild an

4

Herbert von Karajan

Berliner Philharmoniker

DGG

1971

10‘40

 

episch – mehr Demonstration des fabelhaften Orchesters als Mendelssohn

4

Colin Davis

Sinfonia of London

EMI

1960

9‘29

 

Werk in zwei Abschnitte geteilt: I zweites Thema mit viel Espressivo, an lauten Tuttistellen übersteuert, II aufrührerische Motorik, viel Spannung

4

Hartmut Haenchen

Staatskapelle Berlin

Eterna         Berlin Classics

1981

10‘28

 

episch - durchsichtiges offenes Klangbild, zweites Thema immer langsamer

4

Bernard Haitink

London Philharmonic Orchestra

Philips

P 1979

10‘04

 

4

André Previn

London Symphony Orchestra

EMI

P 1979

9‘18

 

gut executiert, jedoch ein wenig glatt

 

3-4

Leonard Bernstein

New York Philharmonic Orchestra

CBS      Sony

1966

8‘58

 

dramatisch, stürmisch, Anfang etwas dick, in lauten Tutti-Stellen Orchester wenig durchgeformt

3-4

Christoph von Dohnanyi

Wiener Philharmoniker

Decca

1978

10‘03

 

episch, etwas distanziert; schöner Mendelssohn, weniger Hebriden

3-4

Sergiu Celibidache

Münchner Philharmoniker

EMI

1993

12‘04

 

live - die technische Seite des Musizierens hervorragend vorgeführt, aber das ist nur die eine Seite

3-4

Mosche Atzmon

New Philharmonia Orchestra London

EMI

1975

9‘56

 

Hauptstimme tritt meist deutlich hervor, die anderen Instrumente müssen dann zurücktreten, nicht immer wünschenswert transparent, etwas holzschnittartig, Beschleunigung ab T. 149, etwas unstet

3-4

Gaetano Delogu

Tschechische Philharmonie

Supraphon

1979

9‘31

 

Orchester ein wenig hemdsärmelich, nicht immer durchgeformt

 

Interpretationen nach historisch-informierter Aufführungspraxis sowie Instrumenten aus der Lebenszeit des Komponisten

 

 

5

Philippe Herreweghe

Orchestre des Champs Elysées

HMF

1994

9‘58

 

schöne Bläserstellen, Bläser und Streicher bestens austariert, filigrane Sechszehntel von Geigen, Bratschen und Celli

5

John Eliot Gardiner

London Symphony Orchestra

LSO live

2014

9‘50

 

spürbare Vitalität, markant akzentuiert, elastisch, zweites Thema molto espressivo

 

 

 

4-5

Roy Goodman

The Hanover Band

Nimbus

1990

8‘53

 

schlankes und akurates Musizieren, Blick immer auch auf Details gerichtet, Trompeten auch im p noch deutlich, eher sachlich als emotional vorgetragen, transparenter Klang

4-5

Nikolaus Harnoncourt

Chamber Orchestra of Europe

Teldec

1995

10‘13

 

Vitalität und Agilität stehen nicht im Vordergrund, stattdessen eine sehr gutes Bemühen um Details, z. B. Gleichberechtigung von Cello und Fagott beim zweiten Thema

4-5

Frans Brüggen

Orchester des 18.Jahrhunderts

Philips

~1994

9‘34

 

sehr schöner Klangteppich aus Sechzehnteln, wie im Streichquartett

 

 

 

4

Alexander Gibson

Scottish National Orchestra

Chandos

1982

10‘11

 

gestalterischer Ernst, objektiv, ausgewogen, keine Romantisierung, Klarinetten T. 202 ff. mit wenig Ausdruck

4

Roger Norrington

London Classical Players

EMI

1988

9‘43

 

leider in Einzelabschnitten zerstückelt, T. 163 etwas unterbelichtet

 

 

-   - - Erstfassung Rom 1830

 

 

4-5

Riccardo Chailly

Gewandhausorchester Leipzig

Decca

2006

11‘17

 

live – scharfe Klanglichkeit, etwas aufgeblasen, man vermisst das Filigrane der Mendelssohnschen Tonsprache

 

 

Hinweise zu Interpreten und Interpretationen

 

Carl Schuricht

 

Den vier überlieferten Aufnahmen nach zu urteilen, hat Schuricht die Hebriden-Ouvertüre immer wieder gern aufgeführt. Am Anfang steht eine Studio-Produktion der Decca mit den Wiener Philharmonikern von 1954, sie bietet all das, was das Werk fordert: eine gut abgestimmte Mischung von dramatischen und lyrischen Abschnitten (zweites Thema), eine klare Diktion, wobei immer wieder auch Details nach vorn geholt werden, sowie eine gute Transparenz des Klangbildes, die nicht allein von der Aufnahmetechnik herrührt. Daneben stellt sich eine fast allgegenwärtige unterschwellige Unruhe. So dirigiert Schuricht Mendelssohns Ouvertüre auch in den beiden Rundfunkproduktionen aus Stuttgart, an Spieltechnik und klanglicher Realisation kommt das SDR-Orchester jedoch nicht ganz an ihre Wiener Kollegen heran, 1962 klingen die Violinen bei lautem Spiel in hoher Lage etwas scharf. Die dramatischte, feurigste und lebendigste Aufnahme wurde 1961 in Lugano mitgeschnitten, leider müssen bei der orchestralen Ausführung Mängel in Kauf genommen werden, wie z. B. die wenig pointiert spielenden Bläser in den Takten 112 ff., auch in der Reprise.

 

 

Wilhelm Furtwängler

 

Furtwänglers Sicht der Hebriden-Ouvertüre ist ein Sonderfall. Er interpretiert das Stück so, als sei es ein Vorläufer von Wagners Holländer-Ouvertüre, am besten zu beobachten auf der frühen Aufnahme von 1930. Übrigens hat Wagner Mendelssohns Werk gekannt und sogar aufgeführt. Trotz dieser zugegebenermaßen etwas einseitigen Darstellung von Furtwängler finde ich alle drei Produktionen sehr überzeugend. In den beiden Nachkriegsaufnahmen nimmt er das 2. Achtel des Hauptthemas seltsam unbetont, undeutlich, vermutlich mit Absicht. Das Thema verliert seine Konstanz und wird etwas unruhig. 

 

Bernard Haitink

 

Haitinks Aufnahmen sind wie gewohnt sorgfältig erarbeitet und bringen auch Details zum Vorschein, die bei den meisten Kollegen nicht zu hören sind, so z. B. der Triller der Flöten in Takt 15, oder dass das zweite Thema ab Takt 47 nicht nur von den Celli vorgetragen wird, sondern auch den Fagotten gleichberechtigt zugeteilt ist. Bei allem philologischen Bemühen bleibt Haitinks Musizieren doch zu sachlich kontrolliert und Mendelssohns unterschwellige Unruhe bleibt etwas unterbelichtet, am wenigsten noch in dem Konzertmitschnitt aus München, in dem Haitink ein schnelleres Tempo anschlägt.

 

 

eingestellt am 24.06.07

 

überarbeitet und ergänzt am 07.07.19

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