Das Klassik-Prisma

 

 Bernd Stremmel

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Gustav Mahler

9. Sinfonie D-Dur

Andante comodo – Im Tempo eines gemächlichen Ländlers. Etwas täppisch und sehr derb – Rondo-Burleske. Allegro assai. Sehr trotzig – Adagio. Sehr langsam und noch zurückhaltend

Über Mahlers letzte vollendete Sinfonie ist vieles geschrieben, aber auch gemutmaßt worden, besonders im Hinblick auf den frühen Tod des Komponisten. Vier Schicksalsschläge sollen u. a. in die Musik eingeflossen sein: Der frühe Tod des ersten Kindes, die Demission von der Leitung der Wiener Hofoper, die Diagnose seiner schwerwiegenden Herzerkrankung sowie die tiefe Ehekrise mit seiner Frau Alma. Die genauen Ursachen lassen sich kaum genau benennen, es ist jedoch belegt, dass Mahler in seiner Musik bis zur Zeit der Komposition der Neunten neben literarischen Vorlagen immer auch Persönliches verarbeitete. Warum sollte es bei dieser Sinfonie anders sein? Roger Norrington weist im Booklet seiner Einspielung mit dem SWR-Orchester auf eine Parallele zu Tschaikowskys 6. Sinfonie hin, die Mahler oft dirigiert haben soll: „Mahler tut es Tschaikowsky gleich, der dem Tod mit starker Emotion, aber festem Blick ins Auge schaut“. Tschaikowsky wusste von seinem nahen Ende, Mahler ahnte es nur. Noch während der Arbeit an seiner 9. beschäftigt er sich bereits mit einer neuen Sinfonie, der 10., die er allerdings nicht mehr fertigstellen konnte.

Die 9. Sinfonie, hier besonders der erste Satz, erschließt sich dem Hörer nicht beim ersten Hören. Es bedarf vieler Begegnungen, damit sich die komplizierte Musik nach und nach einigermaßen erschließt. Hier drängt sich das Medium Schallplatte/CD geradezu auf, um in die Gedankenwelt einer der letzten Sinfoniker einzutreten und seine musikalischen „Wege“ zu verstehen.

Im ersten Satz macht uns Mahler nicht zugleich mit einem Thema bekannt, an seine Stelle treten einzelne Motive/Bausteine, die nacheinander vorgestellt werden: das Motiv a T. 1-3 in den Celli, um einen halben Takt verschoben im 4. Horn, jeweils eine punktierte Viertel mit nachfolgender Achtel, die staccato gespielt werden soll, jedoch sehr leise, alles auf dem tiefen a. Viel lauter spielt in den Takten 3 und 4 die Harfe das aus vier Vierteln bestehende Motiv b: fis-a-h-a, in der Mitte unterbrochen durch eine Viertelpause. Bereits auf dem letzten Viertel wiederholen die Celli und das 4. Horn ihr Motiv a und gleichzeitig stellt das zweite Horn (gestopft) das rhythmisch unregelmäßig gebaute Motiv c vor: a-d-cis-fis-h. Während der letzte Hornton noch nicht ganz verklungen ist, bringen die Bratschen, jetzt wieder im pp, ein Tremolo-Motiv in Sextolen d, das bei vielen Aufnahmen jedoch zu verhalten bleibt, pp bedeutet aber nicht unhörbar! Im Gegensatz zu den kurzen Motiven a, b und c begleitet das Tremolo Motiv d viele Takte lang die musikalische Entwicklung, so auch jetzt, wenn  am Ende von Takt 6 die zweiten Geigen ein liebliches Thema beginnen. Spezifisch daran ist sein Beginn mit einem Zweiton-Motiv aus einer absteigenden Ganzton (großen Sekunde), Motiv e. Das Thema ist jedoch zu kurzatmig konzipiert, um um sich zu entwickeln, auch wenn es vom zweiten Horn Unterstützung findet, es ist nur ein Versuch. Bereits am Ende von T. 17 wird in den ersten Geigen ein achttaktiges Thema daraus, das sich als musikalisch stärker erweist und von Glück spricht, dazu gesellt Mahler einen Kontrapunkt der Celli sowie das Tremolo-Motiv d. Nur aufmerksame Hörer werden bemerkt haben, das Klarinetten und das Englischhorn ab T. 15 mehrmals steigende bzw. fallende Ganztöne als Begleitung einbringen, sie werden sich später als bedeutsam erweisen. Das Thema endet übrigens auch mit einem fallenden Ganzton. Von einer musikalischen Entwicklung kann man hier nicht sprechen. Vier Takte später bricht sich jetzt laut in den Geigen ein zweites Thema in Moll Bahn, es besitzt genügend Energie, um sich schnell zu einem Höhepunkt im vollen Orchester aufzuschwingen. Dabei stellen die Hörner ein weiteres Motiv vor, das anschließend von den Trompeten, jedoch abgewandelt, übernommen werden. Es ist doppeldeutig, einmal als Motiv der Hoffnung andererseits als Motiv eines bevorstehenden Sieges. Es tritt immer dann in Erscheinung, wenn Mahlers Musik auf einen Höhepunkt zusteuert. Aber nach einigen Takten erweist sich auch dieses neue Motiv als eine hohle Angelegenheit und die Musik fällt T. 79 endgültig zusammen. In den letzten Takten tritt das erste Horn mit dem fallenden Ganzton-Motiv e hervor, es ist auftaktig mit einer hervorgehobenen ersten Note, meist einer Viertelnote und wird mehrmals wiederholt. Oft versieht der Komponist die Auftaktviertel noch mit einem sf. Ab dieser Stelle wird das Horn während des gesamten Satzes an Schaltstellen immer wieder mit diesem Motiv – auch als fallender Halbton -, quasi als Mahnung, in den kompositorischen Prozess eingreifen. Hier in T. 79 endet der erste Abschnitt dieses Satzes. Weitere sechs werden noch folgen. Mahler folgt nicht mehr der überkommenen Sonatensatzform – jetzt könnte die Durchführung beginnen – sondern schafft sich ein eigenes, nur hier gültiges, kompositorisches Gerüst.

Der zweite Abschnitt beginnt Takt 80: Wieder wagt sich das lebendige und energiegeladene zweite Thema hervor, ihm springen schnell Hörner und Trompeten mit den Hoffnungsthema bei, kurze Zeit später auch die anderen Instrumente. Beckenschläge unterstreichen die entstandene Euphorie, die sich wenige Takte später jedoch nur als Pyrusssieg entpuppt. Im unmittelbar folgenden dritten Abschnitt beginnt Mahler wieder mit den Motivbausteinen des Satzbeginns, allerdings in anderer Instrumentierung, aber auch mit Motiven aus erstem  Thema. Ein Versuch der Celli bleibt stecken, wenn die Hörner das mahnende fallende Ganzton-Motiv erklingen lassen. Auch in den folgenden Takten bei andauernden Tremoli der Bratschen und Celli kommt die Musik nicht recht in Gang. Voller Ironie zitiert Mahler kurz Johann  Straußens Walzer „Freut euch des Lebens“ und versöhnlich steuert das erste Horn eine warm klingende Melodie bei. Wie ein zartes Pflänzchen versuchen Geigen, Klarinette, Oboe und Horn einen neuen Anfang, diese Idylle wird jedoch jäh durch Trompetenfanfaren abgewürgt, Schlachtenlärm entwickelt sich. Der Höhepunkt mit dem Hoffnungs-/Siegesmotiv wird wieder durch einen Beckenschlag markiert, einige Takte später bricht die Entwicklung jedoch erneut zusammen.

Auch der vierte Abschnitt bringt keinen Fortschritt. Nach nur wenigen Takten ist der Versuch  wieder gescheitert. Das Horn-Motiv T. 237/78 klingt verzagt, wie ein Momento mori, die wenige Takte später spielenden Posaunen verweigern dem Hörer jegliche Hoffnung. Im folgenden fünften Teil besinnt sich Mahler ab T. 254 noch einmal der Musik des dritten Abschnitts. Die fallende Sekunde, jetzt in Terzen, wandelt sich bei den Hörnern in eine wehmütige Melodie, umschmeichelt von Klängen der Holzbläser und der Solo-Geige. Ein plötzliches Aufbegehren bringt eine Wendung, das Hoffnungs-Motiv gewinnt Überhand und ein (erneuter) Beckenschlag unterstützt das kraftvolle Vorantreiben. Mit einem plötzlichen Stocken, Pesante, erklingt in T. 308 ein Doppelschlag (ff ) vor einem erneuten Höhepunkt, der jedoch nur von kurzer Dauer ist und sich letztlich als Katastrophe herausstellt. Mahler schreibt T. 314 in die Partitur mit höchster Gewalt, wenn Hörner, Posaunen und Tuba fff mit dem ersten Motiv (a) alles übertönen. Diese Stelle erinnert mich an den „Samiel-Ruf“ des Kasper in Webers Freischütz. Kein Samiel erscheint, stattdessen, wie hoffnungslos, erneut die Motivbausteine aus den ersten Takten. Besonders Motiv b, pizzicato in Celli und Bässen, später von den Pauken übernommen, verbreiten eine düstere aussichtslose Stimmung, „wie ein schwerer Konduktmöchte der Komponist diese Stelle verstanden wissen. Fanfaren der Trompeten (mit Dämpfer = aus der Entfernung) bringen auch keine Wendung. Alle Bemühungen im Blick auf eine tragbare Entwicklung sind zum Scheitern verurteilt, auch religiöse Unterstützung (Glocken) hilft nicht aus der Ausweglosigkeit.

In diese düstere Stimmung hinein versuchen erstes Horn und zweite Violinen T. 347 eine neue Entwicklung (Abschnitt 6). T. 356 übernehmen die ersten Geigen die Führerschaft unter Einbezug aller Instrumente, aber der Aufschwung besitzt keine Kraft, die für ein andauerndes Hochgefühl Sorge trägt. Auch die Kraft der Motive ist erlahmt, die Musik zieht sich in eine von Solo-Instrumenten (Flöten, Klarinette, Solo-Geige und Horn) geschaffene Idylle zurück. Ein letzter Versuch, der von Streichern (T. 391 ff.) angeführt wird, kann das Blatt nicht mehr wenden. Von Harfenklängen untermalt stimmen zwei Hörner einen verklärenden Abschiedsgesang an, am Ende zitiert die Oboe das Wort „ewig“ aus dem Schlusssatz seines „Das Lied von der Erde“.

Für den Dirigenten ergibt sich die Aufgabe während des ganzen langen Satzes die Doppelbödigkeit der Musik (plötzliche fulminante Klangentfaltung – dann wieder zurückgenommene, lyrische, Abschnitte) herauszustellen, erlebbar werden zu lassen. Davon sind auch die folgenden Sätze betroffen, die allerdings ohne die Komplexität des Kopfsatzes auskommen.

Den zweiten Satz überschreibt Mahler Im Tempo eines gemächlichen Ländlers mit dem Zusatz: etwas täppisch und sehr derb, also ohne alle eine erwartete Gemütlichkeit. Die Musik scheint wie in einem Kaleidoskop zusammengewürfelt. Ein einziger thematischer Gedanke (T. 58 ff.) der Celli wird bald wieder abgewürgt. Ab T. 90 beginnt ein zweiter Abschnitt mit einem schnelleren Tempo, gestisch bringt die Musik jedoch keine Wendung. Was für den kompletten ersten Satz gilt, trifft auch hier zu: das nicht fertig-Werdende und immer wieder neu Beginnende. In Takt 147 versuchen es die Posaunen mit einem Walzer, aber auch diese Entwicklung hat keinen Bestand. Ab T. 217 versucht Mahler einen neuen Ansatz (Trio I): in einem langsamen Ländler-Tempo stellt das erste Horn (!) ein lyrisches Thema vor, das zweimal hintereinander mit dem fallenden Ganzton (!) beginnt und für eine gelöste und beruhigende Stimmung, einen Ruhepol, sorgt, der jedoch nur von kurzer Dauer bleibt und bald von der wilden „Tanzmusik“ des Beginns abgelöst wird. Die Hörner geben sich jedoch noch nicht geschlagen und wagen ab T. 332 einen neuen Versuch (Trio II). Die Musik klingt nun etwas verbindlicher, dabei wird der fallende Ganzton in einen steigenden Halbton ausgetauscht. Nach kurzer Zeit jedoch ein jäher Stimmungswechsel hin zur „Musik“ des ersten Teils. Sie steigert sich zu plakativen, fratzenhaften Floskeln und suggeriert einen aus dem Ruder gelaufenen Hexensabbat, dem am Ende aber die Luft ausgeht. Unter dem Strich ist dieser Ländler kaum das, was man in einer Sinfonie als klassischen Tanzsatz versteht.

Auch der folgende Satz, Rondo-Burleske, in a-Moll, steht unter ständiger Unruhe. Es ist eine banale Musik, alles klingt sehr kurzatmig. Die eingebrachten Motive werden immer wieder von neuem gespielt, es findet jedoch auch hier keine Entwicklung zu einem Ganzen statt, die Musik verläuft ins Leere. Kaum hat ein kurzes Thema begonnen, wird es nach wenigen Takten von dem nächsten verdrängt. Mehrmals versucht Mahler durch Einsatz von Fugati etwas Ordnung in das musikalische Geschehen zu bringen, was jedoch erfolglos bleibt. Nach einem Beckenschlag und nachfolgenden flirrenden Tönen der Flöten und Geigen im höchsten Register entführt uns die Trompete mit einem Doppelschlag-Motiv, leise und ausdrucksvoll vorgetragen, in eine andere Welt. Dieses Motiv wird von anderen Instrumenten weitergereicht und in großen Bögen zu eindrucksvollen Klängen verarbeitet. T. 404 ff. kommt es quasi zu einer Verdichtung, wenn der Doppelschlag sowohl in Vierteln als auch in Halben gleichzeitig bei zunehmender Intensität mehrmals zitiert wird. Das klingt geradezu wie eine Beschwörung, wie der unbedingte Wille zur Umkehr, zu einer anderen, besseren Wirklichkeit. Bald jedoch reißen sich einzelne Instrumente von dieser Fata Morgana, von dieser Vision los und zwingen das gesamte Orchester in die reale a-Moll-Wirklichkeit, die Aussichtslosigkeit, zurück.

Die Kraft des Doppelschlags ist jedoch nicht vergessen und formt nun das Finale der 9. Sinfonie, für die Mahler die von D-Dur entfernteste Tonart Des-Dur wählt, in der Wagner das Finale seiner Götterdämmerung ausklingen lässt. Das erhabene Des-Dur wird zweimal von cis-Moll-Partien abgelöst, die das Gefühl von Unentschlossenheit, Ratlosigkeit verbreiten, aber den Grundgedanken des Satzes, Ergebenheit in das Schicksal, nicht mehr verdrängen können. Auch hier nimmt das Horn eine herausgehobene Stellung ein, in den Takten 17/18 (stark hervortretend) verbreitet es das Gefühl von Trost. Nochmals, als Bekräftigung,  unmittelbar nach dem ersten Moll-Abschnitt T. 49/50. Am Ende löst sich die Musik zunehmend auf, auch das Tempo wird immer langsamer, der Doppelschlag hält sich aber bis zum letzten Atemzug. Wird er vom Komponisten nur als Parameter verstanden, oder als das Leben insgesamt?

In vier Sätzen malt Mahler sein großes Lied vom Abschied seines Lebens. Er hat es nicht mehr hören können. Ein Jahr nach seiner Vollendung hat es sein jüngerer Freund Bruno Walter posthum in Wien uraufgeführt. Seitdem galt Walter im Hinblick auf die 9. Sinfonie jahrzehntelang als Vollstrecker von Mahlers letztem Willen. Erst in den 1950er Jahren begann mit dem Wirken von Dimitri Mitropoulos eine weniger harmonische Sicht auf die Sinfonie. Das setzte sich bei seinem Schüler und Assistenten Leonard Bernstein fort. Eine junge Generation von Dirigenten wird bald mutiger und versteckt nicht das Grelle, Laute, Fratzenhafte, Übersteigerte der Mahlerschen Partituren. Die vielen spieltechnischen Schwierigkeiten sind für die heutige Musikergeneration kein Problem mehr. Inzwischen gehört es fast zum Pflichtprogramm eines aufstrebenden Dirigenten, aber auch der Orchester, Mahler-Sinfonien, besonders die 9., aufzuführen. Dirigenten wird es schwerfallen, diesem Werk einen persönlichen Stempel aufzudrücken, er wird eher damit beschäftigt sein, Mahlers immer vielfältiges musikalisches Angebot zu ordnen/koordinieren in höchstmöglicher technischer Qualität, soweit es das betreffende Orchester ermöglicht.

Anders als Komponisten vor seiner Zeit werden die beiden Gruppen der Violinen von Mahler etwa gleichwertig eingesetzt, die Entlohnung der Spieler der 2. Violinen müssten folgerichtig auch den 1. angepasst werden.

 

5

Bruno Walter

Wiener Philharmoniker

EMI   Dutton

1938

70‘01

 

live, erste Aufnahme der 9. Sinfonie – I geschmeidiges Musizieren, Wissen um die Gelenkstellen der Partitur, Mahlers Dynamik weitgehend übernommen, jedoch keine fff-Exzesse, Brüche im musikalischen Ablauf nicht übertrieben signalisiert, II Ländler etwas tapsig, scharfer Gegensatz zum folgenden Abschnitt, der sehr grell genommen wird, III unheimlich schnell, rasend, davon fliehend, IV fließendes Musizieren, dabei nach vorn schauend – Balance und Transparenz trotz kompaktem Klang noch erstaunlich, relativ gute Präsenz

5

Bruno Walter

Columbia Symphony Orchestra

CBS   Sony

1961

82‘09

 

altersbedingt etwas langsamere Tempi, in Satz 1 etwa viereinhalb Minuten mehr, damit verändert sich auch der Gestus: Musik jetzt deutlicher, aber auch milder; Walter hebt ein Thema für mehrere Takte hervor und stellt andere zurück, das schafft mehr Übersichtlichkeit – insgesamt bessere klangliche Darbietung

5

John Barbirolli

Berliner Philharmoniker

EMI

1963

77‘23

 

live, I Barbirolli verfügt einerseits über den Blick auf das Wesentliche, andererseits aber auch für die jeweils einzelnen „Stationen“, arbeitet sie deutlich heraus, II sehr bewegt, mit viel Spannung, wie ein Jahrmarktstreiben, deftig, schmissig, köstlich das molto rit. T. 229, Barbirolli schafft immer einen saftigen Klang, nie verbissen, III Glockenspiel bei seiner ersten Stelle zu leise, IV zu Beginn ungeheure Spannung, Musik tritt nicht auf der Stelle, bleibt auch für den Hörer fassbar

5

Bruno Maderna

BBC Symphony Orchestra

BBCL

1971

79‘20

 

I lässt sich viel Zeit, um die Musik auszubreiten; klingt anfangs, der Partitur gemäß, nur wie ein Versuch; überwiegend schlankes, aber plastisches Musizieren; sehr gute Transparenz, die Spannung in den ruhigen Abschnitten, z. B. T.254 ff. immer gehalten, II Ländler ohne alle Gemütlichkeit, farbiges Klangbild, gute Gliederung, unterschiedliche Aggregatzustände der Musik ins Licht gerückt, III A-Teile, überdreht, IV fließendes Musizieren, das erst gegen Satzende in ein Adagio mündet

5

Otto Klemperer

New Philharmonia Orchestra London

EMI

1967

86‘18

 

5

Otto Klemperer

Wiener Philharmoniker

Testament

1968

83‘52

 

live, ▼

5

Michael Gielen

SWF-Sinfonie-Orchester Baden-Baden

SWR music

2003

84‘09

 

live, ▼

5

Simon Rattle

Berliner Philharmoniker

EMI

2007

83‘15

 

live, ▼

5

Claudio Abbado

Berliner Philharmoniker

DGG

2002

79‘00

 

live, ▼

5

Claudio Abbado

Wiener Philharmoniker

DGG

1987

79‘41

 

live, ▼

5

Kyrill Kondraschin

Moskauer Philharmoniker

Melodya

1964

74‘06

 

mit Engagement und Leidenschaft bei der Sache, von großem Ernst getragen, jedoch eher bewegte Tempi, das Grelle der Musik herausstellend, dafür sorgen auch herausstechende Trompeten; bei komplexen Abschnitten, an denen das gesamte Orchester mit entsprechender Lautstärke beteiligt ist, konzentriert sich Kondraschin mehr auf die Hauptlinien und stellt scheinbar Nebensächliches zurück, d. h. er stellt hier mehr das Gerüst als die Totale heraus; eine solche Interpretation kann eine Hilfe für Ersthörer dieser Sinfonie sein, da sich durch diese Vorgehensweise die Musik besser einprägen lässt, II bäuerlich derb, auftaktige Sechzehntel der Fagotte und Bratschen T. 28 ff. etwas undeutlich, III mit großer Vehemenz, das Plakative unterstreichend, IV molto espressivo, letzte Partiturseite wie vorgesehen im Metrum – erstaunliche Transparenz, Streicher in Tutti-Abschnitten eher als Block abgebildet, oft führen da die Geigen

 

   

4-5

Dimitri Mitropoulos

Wiener Philharmoniker

Andante

1960

79‘47

 

live, ▼

4-5

Herbert Blomstedt

Bamberger Symphoniker

BR    Accentus

2018

83‘00

 

live, I klare Diktion, deutliche Stimmführungen, überwiegend schreitend, hier und da auch stockend, gute Transparenz, Hörner könnten mehr hervortreten, mehr abgeklärt, weniger kämpferisch, II sorgfältige Umsetzung von Mahlers Tempowünschen, d. h. an manchen Stellen weniger hektisch, III schnelles Tempo, jedoch mit weniger Drive, der kommt erst später, MT im Tempo, Glockenspiel zu leise, IV starker Abgesang, feinfühlend musiziert

4-5

Riccardo Chailly

Concertgebouw Orchester Amsterdam

Decca

2004

89‘35

 

I anfangs sehr langsam, guter Spannungsaufbau T. 43-45, längere ff-Stellen z. B. T. 171-202 ohne dynamische Gliederung, wache Aufmerksamkeit, II Beziehungen zwischen Stimmen freigelegt, immer wieder sehr grell, Horn T. 332 zu leise, III klingt wie Maschinenmusik, fratzenhaft, Blech zu sehr vorn, IV sehr langsam – sehr gute Transparenz, breites opulentes Klangbild, meisterhaftes Musizieren; immer bestehende Spannung, kaum eine kurze Rücknahme, orchestral allerhöchstes Niveau, bis auf die Spitze getrieben

4-5

Christoph von Dohnanyi

Cleveland Orchestra

Decca

1997

84‘20

 

I Streicher vorgezogen; Hörner nicht immer präsent, wo man es erwartet; stattdessen jedoch Trompeten, II Tempo 2 T. 90 ff. etwas zu gewichtig, auch Tempo 4, das Bizarre jedoch gut getroffen, III atemlos in den Eckpartien, auch im MT bewegt, im Finale gerät das Orchester aus dem Häuschen, IV Hornsoli 1 und 2 zu kühl, insgesamt fehlt es oft an Wärme, zu technisch kühl – sehr gutes Klangbild mit meistens bester Transparenz, Orchester auf höchstem Niveau

4-5

Karel Ancerl

Tschechische Philharmonie Prag

Supraphon

1966

78‘47

 

I Musik sofort im Fluss, keine bemerkenswerten Temposchwankungen, Gegensätze zwischen ruhigen und dramatischen Abschnitten nicht extrem, gute Balance innerhalb der Instrumentalgruppen, II das Musikantische herausstellend, Abschnitt II T. 90 ff. sehr rhythmisch, bodenständig im Vergleich zu HvK, III fast atemlos, IV gehend, schreitend, kaum verharrend, kein Erstarren, Fortgang der Musik ist Ancerl wichtiger als das Zurschaustellen von Klangfarbenblöcken, insgesamt viel Spannung – gute Transparenz

4-5

Leonard Bernstein

Berliner Philharmoniker

DGG

1979

81‘45

 

live, ▼

4-5

Georg Solti

London Symphony Orchestra

Decca

1966

79‘59

 

4-5

Georg Solti

Chicago Symphony Orchestra

Decca

1982

85‘07

 

4-5

Jonathan Nott

Bamberger Symphoniker

Tudor

2008

83‘13

 

I sehr mäßiges Tempo erlaubt deutliches Musizieren, gezügelte Dramatik, breite Klangpalette, gute Staffelung; wie ein schwerer Kondukt schreibt Mahler über die Takte 127 ff.; das überträgt Nott fast auf den ganzen Satz, Spannung nicht auf höchstem Niveau, II Mahlers Tempovorstellungen umgesetzt, III MT nicht losgelöst von den umgebenden A-Abschnitten, A’ ausgelassen, IV überzeugende Darstellung ohne aufgesetztes Pathos, breite dynamische Palette, klingt an den ruhigen Stellen fast wie entrückt – lesenswerter Bookletbeitrag

4-5

Bernard Haitink

Berliner Philharmoniker

BPh media

2017

89‘43

 

live, ▼

4-5

Bernard Haitink

Symphonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks

BR Klassik

2011

79‘42

 

live, ▼

4-5

Kurt Sanderling

BBC Symphony Orchestra

BBCL

1982

79‘20

 

4-5

Kurt Sanderling

Berliner Sinfonie-Orchester

Eterna    Berlin Classics

1979

80‘26

 

4-5

Jewgenij Svetlanov

Staatliches Sinfonie-Orchester der UdSSR

Warner

1992

76‘06

 

live, I keine hinreichende Balance, da Streicher klanglich bevorzugt werden und Holzbläser zurückstehen, II ab jetzt viel bessere Balance, Abschnitt 1 wie unbeteiligt, scharfe Abgrenzung der Abschnitte untereinander, das Skurrile und Übertriebene herausgestellt, III sehr kurz angebunden, extrem überspannt, Svetlanov hält das Tempo an der Doppelschlagstelle, IV molto espressivo bei bewegtem Tempo, keine Adagio-Orgie am Satzende

4-5

Vaclav Neumann

Tschechische Philharmonie Prag

Supraphon

1982

77‘22

 

I sehr aufmerksames Dirigat, deutliche Stimmführungen, man wünschte sich noch etwas mehr Präsenz, Neumann lässt sich auf Mahlers Tempo-Vorstellungen ein, gezügelter emotionaler Überschwang, II Musik bleibt immer im Fluss, Abschnitt 1 weniger gemächlich, III gute Tempogegensätze zwischen den Mittelsätzen, Musik weniger agressiv, Glockenspiel T. 262 ff. zu leise, IV gelöster, weniger schwergewichtig, gelöster, mit Optimismus, keine Adagio-Orgie – sehr gute Balance und Transparenz, überwiegend helles Klangbild

4-5

Herbert von Karajan

Berliner Philharmoniker

DGG

1982

84‘31

 

live, ▼

4-5

Hans Rosbaud

SWF-Sinfonie-Orchester Baden-Baden

SWR Music Andromeda

1954

74‘41

 

geschmeidiges Spiel, schlanker Orchesterklang, überwiegend bewegt, sachlicher Stil, aber immer mit Spannung, II Auftakte der Hörner T. 168-178 klingen wie von Trompeten ausgeführt, III akkurat, man muss über die Virtuosität der Musiker staunen, wenn man bedenkt, dass sie diese Musik vermutlich zum ersten Mal spielen, Erfahrungen beim häufigen Spielen Neuer Musik kommen ihnen jedoch zugute, IV am Schluss keine Orgie von Langsamkeit – kompakter Klang, geringere Transparenz

4-5

Lorin Maazel

Wiener Philharmoniker

Sony

1984

84‘02

 

I genaue Umsetzung der Partitur, detailreich, in ruhiger Bewegung, Tremoli (d) werden kaum thematisch eingebracht, Trompeten T. 232 f. zu leise, weich geblasene Hörner an den vorgesehenen Stellen, II immer deutlich, Stimmführungen freigelegt, das Derbe wird etwas unterschlagen, III gut getroffen, IV Horn T. 28 zu sachlich – an einigen Stellen vermisst man das Espressivo, die Wärme, Maazel bleibt da objektiv

4-5

Leif Segerstam

Dänisches Radio-Sinfonie-Orchester

Chandos

1991

90‘48

 

prägnantes und scharf konturiertes Musizieren, sehr klares Klangbild, gute Transparenz und Balance, Blech jedoch präsenter als Streicher, I Tremoli der Bratschen werden nicht deutlich eingebracht, insgesamt eher episch als zugespitzt, Musik kann schon mal auf der Stelle treten, prägnant formulierte Höhepunkte, sehr weiche Trompete, immer deutliche Basstuba, II das Derbe und Fratzenhafte unterstreichend, III wild, höchste Präzision, IV molto espresivo

4-5

Esa-Pekka Salonen

Philharmonia Orchestra London

Signum Classics

2009

76‘59

 

live, I bereits in den ersten Takten Musik im Fluss, Mahlers Tempoangaben nicht immer eins zu eins übernommen, z. B: allmählich schneller hier sofort schneller und umgekehrt, II ausgelassen, wenn Ländler-Abschnitt verlassen wird, lässt Salonen viel Energie frei, III ausgelassen, wild, trotzig, famose Steigerung zum Satzende hin, IV Mahlers Tempoangabe zu Beginn ignoriert – Klangbild wünschte man sich manchmal durchsichtiger

4-5

Valery Gergiev

London Symphony Orchestra

LSO live

2011

78‘35

 

I überwiegend lebendiges Musizieren, große dynamische Gegensätze; die Hauptlinien nachgezeichnet, weniger Blick auf Nebenstimmen, daher etwas eindimensional; Beginn kommt aus dem Nichts, II lustbetontes Musizieren, Blech nimmt gebührenden Raum ein, Abschnitte gut voneinander abgesetzt, III lebendig, leicht und überwiegend locker, auch hier starke dynamische Gegensätze, MT nur eine Episode, IV Andante, Musik immer im Fluss; man gewinnt keinesfalls den Eindruck, dass sich die Musik zum Ende hinschleppt – gute Transparenz, breite Klangpalette, Schlagwerk nimmt vergleichbar eine große Rolle ein

4-5

Carlo Maria Giulini

Chicago Symphony Orchestra

DGG

1976

88‘09

 

I mit langem Atem, eher schleppend als ein Andante, mehr zurückhaltend als dramatisch, Partitur durchleuchtet, allerdings eindringlich gestaltet, keine starken Tempogegensätze, sehr sorgfältig, jedoch keine durchgehende Spannung, II schwergewichtig, mit Bauernstiefeln getanzt?, III auch hier gewichtig, zugespitztes Finale, IV molto espressivo, Soli der Bratsche und Violine mit Vibrato, dieser Satz gefällt mit hier am besten

4-5

Roger Norrington

SWR Sinfonie-Orchester Stuttgart und Freiburg

hänssler

2009

72‘01

 

live, I Norrington als Anwalt der Partitur, immer deutliches Musizieren, ziemlich ohne Vibrato, gestopfte Hornklänge immer herausgestellt, sachliches Musizieren, II frisches und gleichsam farbiges Musizieren, sehr gute Transparenz, III das Fratzenhafte betonend, Musik hier etwas konturlos, IV bewegtes Tempo, weitgehend ohne Pathos, zu nüchtern, Doppelschlagfiguren können ihre Ausdruckskraft kaum entfalten

4-5

Mariss Jansons

Symphonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks

BR Klassik

2007

80‘09

 

live, Jansons achtet auf deutliche Stimmführungen und durchsichtigen Klang, an den Höhepunkten immer maßvoll, abwägend, Holzbläser nicht immer deutlich abgebildet, IV starke Kontrabässe, Solo-Violine T. 34 f. nicht sofort da

4-5

Simon Rattle

Wiener Philharmoniker

EMI

1993

80‘22

 

live, ▼

   

 

4

Dimitri Mitropoulos

New York Philharmonic Orchestra

Archipel

1960

73‘17

 

live, ▼

4

George Szell

Cleveland Orchestra

Musical Arts Association Stradivarius

1968

74‘47

 

live, präzises Musizieren, Interpretation auf sehr hohem Niveau, leider nur mäßiger, kompakter Klang, so werden auch wichtige Stimmen überspielt, z. B. I Trp. T. 232/33, weniger ausladend, eher holzschnittartig, blasses Klangbild, Pegelsprung bei T. 39, III Satzschluss mit virtuoser Leichtigkeit, IV Szell lässt entgegen der Partitur im Andante-Tempo spielen, locker musiziert, Spannung bleibt erhalten – vermutlich Kopie einer LP, aufgrund der klanglichen Mängel erfolgt die Herabstufung

4

Kurt Sanderling

Philharmonia Orchestra London

Teldec

1992

82‘19

 

live, ▼

4

David Zinman

Tonhalle Orchester Zürich

RCA

2009

88‘22

 

I freundlicher Beginn, erster Horneinsatz zu leise; Zinman scheinen alle Instrumente gleich wichtig zu sein, da kann der Hörer schnell den Überblick verlieren; Harfe T. 136 ff. p statt f, kaum markierend, Hoffnungsmotiv T. 237/243 ohne Hoffnung, Transparenz kaum top, II Klang an lauten Stellen aufgeplustert, etwas schwerfällig, Glockenspiel zu leise, III Horn und Trompete ohne Signalwirkung, MT ohne spürbare Empathie, etwas kühl, III sparsamer Vibrato-Einsatz, abgesehen Solo-Violine; eher sachlicher, nüchterner Vortrag

4

Pierre Boulez

Chicago Symphony Orchestra

DGG

1995

79‘29

 

I sehr leiser Beginn, wie aus dem Nichts, sehr schlanker Klang, völlig entfettet, nahezu steril, Verzicht auf Vibrato, an den Höhepunkten kaltes Feuer, II Partitur unter Röntgenaugen, III schnelles Tempo, jedoch unaufgeregt, IV fließendes Musizieren, erst am Ende Adagio – bei aller künstlerischer und künstlerischer Bravour vermisst man die emotionale Hingabe

4

Leonard Bernstein

Concertgebouw Orchester Amsterdam

DGG

1985

88‘39

 

live, ▼

4

Maurice Abravanel

Utah Symphony Orchestra

Vanguard     EMI

P 1970

82‘17

 

I im langsamen Marsch-Tempo, keine Extreme, Trompete weniger exponiert als in anderen Interpretationen, Höhepunkte werden weniger forciert angegangen, insgesamt eher resignierend, II das Grelle domestiziert, III es fehlt eine Klammer, mehr Abschnitte als ein Ganzes, IV ermattet, ohne Inbrunst, als müsse man das Werk nun abschließen, zu sachlich, Solo-Geige mit Vibrato – gute Transparenz

4

Adam Fischer

Düsseldorfer Symphoniker

CAvi

2019

78‘46

 

live, im Vergleich ein eher kammermusikalischer Ansatz, an den Höhepunkten nicht die Extreme suchend, sorgfältig erarbeitet; Klangbild weniger saftig, jedoch transparent; Blech nicht nach vorn gezogen, eher integriert

4

Ivan Fischer

Budapest Festival Orchestra

Channel Classics

2013

75‘23

 

Ivan Fischer wendet sich mehr den Sonnenseiten als den Schattenseiten der Sinfonie zu, hervorragende Orchesterkultur; gepflegte, aber auch geglättete Oberfläche; überwiegend heller Klang, I keine optimale Balance, Streicher-beherrscht, Hörner zu zurückhaltend, laute Tutti-Passagen ohne Holz, Stimmführungen nicht immer zu verfolgen, Abgründe teilweise übergangen,

4

Gustavo Dudamel

Los Angeles Philharmonic Orchestra

DGG

2012

85‘55

 

live, das offene Klangbild der Aufnahme erleichtert es dem Hörer, sich bei den vielen Motiven, Themen oder Themenansätzen besser zurecht zu finden; das Bizzarre wird unterstrichen, bei aller Brillanz der Darstellung entfacht Dudamel jedoch mehr ein kaltes Feuer, das in den Sätzen 2 und 3 den Hörer überrumpelt und in Staunen versetzt – insgesamt vermisst man eine deutliche dynamische Abstufung, gewiss noch nicht Dudamels letztes Wort zur 9.

4

Michael Tilson Thomas

San Francisco Symphony Orchestra

SFS (Eigenlabel)

2004

88‘27

 

live, I Musik kommt anfangs aus dem Nichts, Streicher vom Blech oft zugedeckt (T. 83 ff. oder T 179 ff.), hier wird rund und schön musiziert, kaum raue Klänge, erstes Horn müsste mehr hervortreten, II Triangel versteckt sich T. 330-340, ab T. 453 vermisst man das Wilde, III hier der Partitur mehr angepasst; das Grelle darf hervortreten, jedoch bewundernswürdig geschliffen – Orchester spieltechnisch auf allerhöchstem Level, insgesamt gut klingend, jedoch kompakt und leicht entfernt, hervorragende Klangkultur

4

James Levine

Münchner Philharmoniker

Oehms

1999

91‘45

 

live, ▼

4

James Levine

Chicago Symphony Orchestra

RCA

P 1979

91‘38

 

4

Herbert von Karajan

Berliner Philharmoniker

DGG

1979/80

85‘49

 

4

Jascha Horenstein

London Symphony Orchestra

BBCL

1966

86‘31

 

Holzbläser verschwinden in lauten Tutti-Stellen, kompakter Klang, Orchesterleistung im Einzelnen nicht immer auf dem Stand von heute, unruhiges Publikum, II Dirigent lässt nach Satzüberschrift musizieren, mit Übertreibungen, glühende Herangehensweise in den beiden letzten Sätzen, auf mich hinterlässt die Interpretation einen uneinheitlichen Eindruck – etwas mehr als 30‘‘ Beifall und Nachstimmen zwischen den beiden ersten Sätzen

4

Bernard Haitink

Concertgebuw Orchester Amsterdam

Philips    Decca

1969

80‘27

 

4

Rafael Kubelik

Symphonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks

audite

1975

78‘57

 

live, ▼

4

Rafael Kubelik

Symphonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks

DGG

1967

77‘12

 

4

Leonard Bernstein

New York Philharmonic Orchestra

CBS      Sony

1965

79‘57

 

4

Gary Bertini

Kölner Rundfunk-Sinfonieorchester (WDR)

EMI

1991

86‘23

 

live, I ruhiges Tempo mit hoher Tempokonstanz, erzählender Tonfall, Leidenschaft auf mittlerem Niveau, Transparenz nicht optimal, II mäßiges Tempo, bei Ländler-Abschnitten, wie desorientiert umherirrend, Walzer-Abschnitte eher geformt, III überzeugendster Satz: ausmodulierter MT, wildes Finale, IV jetzt zeigt Bertini Leidenschaft, viel Espressivo, Solo-Violine T. 40-45 etwas bemüht, Orchester T. 112-117 nicht ganz im Einklang

4

Markus Stenz

Gürzenichorchester Köln

Oehms

2014

77‘48

 

I nahe an der Partitur, eher eine objektive Sicht, II sorgfältiges Musizieren, Abschnitte gut gegenübergestellt, insgesamt aber etwas einförmig, das gilt insgesamt auch für den folgenden Satz, IV sehr bewegt, Streicher bei hohem Bogendruck rau klingend, hier auch weniger Balance und Transparenz, weniger geschlossen, zu unruhig – das Klangbild wünschte man sich etwas farbiger

4

Zdeněk Mácal

Tschechische Philharmonie Prag

Exton

2007

82‘31

 

I gepflegtes Musizieren, mehr ausgeglichen als exaltiert, zufriedenstellende Balance, Gegensatz zwischen langsamen und dramatischeren Partien könnte schärfer sein, etwas zahm, II zu harmonisch, auf der Linie von Satz 1, Triangel stiefmütterlich behandelt, III ohne rechten Biss, der Eintritt des Doppelschlagmotivs überrascht nicht, IV anfangs fehlt das Herbe, insgesamt jedoch am besten gelungen – sehr gute Orchesterleistung

   

 

3-4

Eliahu Inbal

Radio-Sinfonie-Orchester Frankfurt

Denon

1986

81‘04

 

I epische Darstellung, commodo, Horn T. 226/27 zu leise, II insgesamt etwas schwerfällig, Triangel und Glockenspiel gehen unter, III sachlich, jetzt im schnelleren Tempo, IV Inbal strahlt keine Betroffenheit aus, etwas zu leichtgewichtig – eine mehr referierende Darstellung, gute Balance und Transparenz

3-4

Kurt Masur

New York Philharmonic Orchestra

Teldec

1994

78‘29

 

live, Masur mehr als Koordinator denn als Gestalter, man vermisst den großen Atem, Transparenz nicht auf höchstem Niveau, Stimmführungen nicht immer hörend nachzuvollziehend, II 1. Klarinette T. 18 ff. etwas stiefmütterlich behandelt, II/III Masur bleibt immer verbindlich, den Sätzen fehlt ihre spezifische Pysiognomie, IV überwiegend sachlicher Vortragsstil, Flöte/Oboe T. 92-94 mit Vibrato, Balance nicht immer überzeugend

3-4

Seiji Ozawa

Boston Symphony Orchestra

Philips

1989

82‘07

 

live, insgesamt weniger artifiziell als Dohnanyi und Chailly, Musik in Verlaufsform, Zusammenhänge werden kaum vermittelt, Spannungseinbrüche, I Hornmotiv T. 4/5 zu leise, auch gestopft kann es f klingen, II Glockenspiel zu leise

3-4

Paul Kletzki

Israel Philharmonic Orchestra

Columbia   Doremi

1954

71‘07

 

I überwiegend bewegtes Musizieren, pointierte Dramatik, II mit spürbarer Vitalität, prägnant, teilweise auch Spannungseinbrüche, Kletzki streicht die Takte 218-332, III Eckteile atemlos durchgezogen, ab T. 354 etwas gehalten, Orchester stößt jedoch an seine Grenzen, IV mit spürbarer Hingabe, T. 56 ff. jedoch ohne Nachdruck – Transkription von LPs, teilweise kompaktes Klangbild, Holzbläser oft zurückgestellt, Hörner immer etwas bedeckt (großer Nachteil dieser CD), ohne Glanz

3-4

Giuseppe Sinopoli

Philharmonia Orchestra London

DGG

1993

82‘27

 

3-4

Alan Gilbert

Royal Stockholm Philharmonic Orchestra

BIS

2008

81‘47

 

I an lauten Stellen (Höhepunkten) Stimmführungen nicht immer klar, teilweise für einige Sekunden verwaschen, manchmal etwas schwerfälliges Musizieren, Klangbild im Tutti leider etwas eng, T. 32-35 alles gleichermaßen wichtig; Tremolomotiv (d) immer präsent, wenn vorgesehen, II von Mahler beabsichtigte Tempogegensätze nur halbherzig umgesetzt, z. B. T 359/60, Abschnitte werden zu sehr aneinander gereiht, mir fehlt ein roter Faden, III das Fratzenhafte gut getroffen; Hörner, teilweise auch Trompeten, bei Attacken zu weich, IV es fehlt der große Ton, den Mahler verlangt, die Darstellung von Betroffenheit will sich nicht einstellen, Horn T. 138/39 nicht mit höchster Expression – Gilbert scheint mehr Einzelabschnitte als das Ganze im Blick zu haben

3-4

Daniel Barenboim

Staatskapelle Berlin

Warner

2006

72‘42

 

live, I herabgesetzte Balance bei den lauten und leidenschaftlichen Tutti-Abschnitten, hier klingt die Musik oft plakativ oder wie gewuselt, auch in den folgenden Sätzen; die ruhigen Abschnitte besitzen viel mehr Profil, Idylle T. 376 ff. ohne Empfindung, II Abschnitte im Tempo gut voneinander abgesetzt, Solo der 1. Geige T. 290 ff. zugedeckt, Musik klingt stellenweise in Richtung Gassenhauer, III äußerlich und grob, wie „hau drauf!“, IV deutliche Horn-Soli, Barenboim schafft jedoch keine Atmosphäre für den Hornauftritt, insgesamt nüchtern

3-4

Emil Tabakov

Sofia Philharmonic Orchestra

Capriccio

1991

90‘47

 

I sorgfältiges Musizieren, Satz zerfällt in Abschnitte, da zu langsam und zu schwerfällig, Balance nicht immer optimal, II Ländler-Abschnitte zu Beginn und nach T. 218 (quasi Trio) zu gezogen, III adäquates Tempo, gefällt am besten, IV dichtes Musizieren, auf höherem Niveau als die Sätze 1 und 2 – insgesamt zwiespältiger Eindruck

   

 

3

Donald Runnicles

BBC Scottish Symphony Orchestra

BBC

2014

76‘42

 

I überwiegend bewegt, Klangbild zu sehr Streicher-beherrscht (vor allem 1. Vl.), Holz oft benachteiligt, Trompete dagegen oft zu leise, wie unterbeschäftigt, keine zufriedenstellende Transparenz, bei Höhepunkten etwas hektisch, II in der Tendenz ähnlich wie I, Stimmführungen nun etwas deutlicher, etwas burschikos, III etwas hemdsärmelig, wie abgespult, MT nur Episode, IV stellenweise zu Streicher-beherrscht, ohne Atempause durchgezogen – in allen Sätzen nicht mit höchster Spielkultur

3

Giseppe Sinopoli

Sächsische Staatskapelle Dresden

hännsler

1997

92‘16

 

live, ▼

3

Klaus Tennstedt

London Philharmonic Orchestra

EMI

1979

85‘32

 

I den kompletten Satz durchzieht eine bleierne Atmosphäre, kaum Hoffnung, an lauten Stellen Transparenz nicht immer optimal, Pauken-Solo T. 172 f. geht im Klangbrei unter, II Abschnitt A zu harmlos, schlaff, setzt sich dann fort, kaum Tempo-Kontrast, das gilt auch für die Dynamik, III und IV fehlende Klangregie während des jeweiligen Satzes – Tennstedt bietet kaum eine Interpretation an, nur ein Durchspielen des Werkes

3

Hermann Scherchen

Wiener Symphoniker

Orfeo

1950

69‘12

 

live, I sofort im Andante-Tempo, ab T. 29 schneller, ab T. 80 Allegro-Tempo, Geigen führen deutlich, Blech zu sehr im Hintergrund, kompakter Klang, an lauten Stellen oft Klangbrei, es geht viel zu viel verloren, II Hörner technisch nicht auf dem von Mahler gedachten Level, klanglich jetzt etwas besser, deutlicher, Pegel wurde bei leisen Stellen etwas angehoben, III derbe Vortragsweise, extrem schnelles, wildes Tempo ab T. 522, klanglich wie Satz 1, IV für ein Adagio-Tempo zu bewegt, Streicher oft mit Portamenti, nicht immer deutliche Stimmführungen, Intonationsmängel, Musik klingt etwas aufgesetzt – diese Interpretation hätte man gern unter Verwendung einer besseren Aufnahmetechnik gehört

 

Hinweise zu Interpreten und Interpretationen

Otto Klemperer

Nach Bruno Walter ist Klemperer der zweite Zeitzeuge, der Mahler noch erlebt hat und mit ihm in Kontakt stand. Sowohl seine Studio-Aufnahme als auch der Wiener Konzertmitschnitt entstanden mehr als 50 Jahre nach Mahlers Tod, Erinnerungen an seine Begegnungen mit dem Komponisten und seine Musikauffassung im Allgemeinen aber auch die Interpretation seiner Werke waren Klemperer noch gegenwärtig, allerdings nicht im Falle der 9. Sinfonie. Klemperers Stil, immer deutliches Musizieren, zeigt sich auch in den beiden Aufnahmen. Im Vergleich zu Walter lässt er mehr in die Partitur schauen und hebt mehr Nebenstimmen ans Licht. Klemperer scheut nicht davor zurück, Mahlers Musiksprache, das Grelle, Herbe und auch Verzerrte, deutlich herauszustellen. Die Tempi in den Mittelsätzen nimmt er im Vergleich zu anderen Dirigenten etwas langsamer, besonders in der Studio-Aufnahme. Im 3. Satz übersieht Klemperer das assai, damit verliert der Satz auch ein wenig an Spannung. Auch der plötzliche Umschwung von T. 346 zu T. 347 verliert seinen Überrumplungscharakter. Im 1. Satz könnte die Harfe T. 130 ff. lauter herauskommen, beim Wiener Mitschnitt ist im 3. Satz der Triangel zu leise. Das sind jedoch geringe Einwände, in beiden Aufnahmen hat die Aufnahmetechnik gute Arbeit geleistet und in Wien noch die besondere Atmosphäre des Wiener Musikvereins mit eingefangen. In der angegebenen Zeit sind auch die Pausen samt Nachstimmen einzelner Instrumente einbegriffen.

 

Dimitri Mitropoulos

Mitropoulos’ letztes Lebensjahr war für ihn ein Mahler-Jahr, die bekannten Konzert-Mitschnitte zeugen davon: Am 2. Januar die 5. Sinfonie, am 23. Januar die 9., beide in der Carnegie-Hall, am 28. August die 8. in Salzburg, am 2. Oktober die 9. in Wien sowie am 31. Oktober die 3. in Köln. Nach dem Konzert bestieg er den Nachtzug nach Mailand, um dort ein weiteres Mal die 3. Sinfonie aufzuführen. Bei der Probe ereilte ihn ein Herzschlag und beendete sein Leben, in dem Mahlers Musik einen besonderen Stellenwert innehatte. Das sind nur die von mir belegbaren Daten, weitere Aufführungen können stattgefunden haben. Es drängt sich der Eindruck auf, dass diese Mahlermanie im Zusammenhang mit dem 100. Geburtstag des Komponisten im Jahre 1960 steht.

Wenden wir uns nun den beiden Konzertmitschnitten der 9. Sinfonie zu. Vom New Yorker Konzert steht ein akustisch mageres Dokument zur Verfügung (Archipel), in dem nur die Hauptlinien zu erkennen sind. Die Klang-manipulierte Musik klingt dumpf, stumpf und kompakt, wie aus einem Sack kommend. Als Hörer zieht man nur dann Gewinn daraus, wenn man die Sinfonie schon kennt oder oft gehört hat. Musikalisch jedoch schafft der Dirigent eine aufregende und spannende Deutung, immer lebendig, keine Starre, dabei wählt er im Vergleich zügige Tempi wie Walter-38, Barbirolli, Kondraschin und Szell. Auch der letzte Satz wird im Ganzen fließend musiziert, auch wenn langsam gespielt wird.

Auch das Klangbild des Rundfunk-Mitschnitts aus dem Wiener Musikvereins-Saal (Andante) kann keineswegs befriedigen, da zu entfernt, gibt jedoch mehr Details frei. Auch hier erlebt man dies Sinfonie voller Leidenschaft gespielt. Im ersten Satz steht die Musik immer unter großer Spannung, auch in den langsamen unschlüssig wirkenden Abschnitten. In den Takten 266 ff. hört man das Horn zu leise. Die Musik ist im zweiten Satz nicht nur lebendig, auch die Interaktionen zwischen den Instrumenten sowie parallele Verläufe verschiedener Motive werden plastisch hervorgehoben. Die Unruhe und die Gewalt der Rondo-Burleske werden bestens getroffen, auch wenn Mitropoulos hier etwas weniger schnell als in NY musizieren lässt. Der langsamere Doppelschlag-Abschnitt steckt immer noch voller Unruhe. Molto espressivo, herzzerreißend schafft der Dirigent hier Mahlers große Abschiedsmusik, der auch als Abschiedslied auf die KuK-Zeit zu verstehen ist. Nicht das Tempo, hier noch 22‘01‘‘, ist entscheidend, sondern der Ausdruck, der hier seine Stärke unter Beweis stellt. Beide Interpretationen gehören in die oberste Kategorie meiner Skala, sind aber aufgrund der klanglichen Mängel tiefer eingestuft.

 

Herbert von Karajan

Es dauerte nicht lange, dass Karajan nach der erfolgreichen Aufführung von Mahlers 9. mit Leonard Bernstein und seinem Orchester in Berlin sich selbst an diese Sinfonie wagte, um die er bislang einen großen Bogen geschlagen hatte, zumindest öffentlich. Er ließ sich Zeit mit der Aufnahme, sie entstand im November 1979 und Februar des folgenden Jahres. Karajan nimmt Mahlers Musik unter die Lupe und kümmert sich um Details, das schlägt sich auch in der Laufzeit nieder. Die Streicher spielen bei ihm die Hauptrolle, gefolgt vom Blech, die Holzbläser müssen oft zurücktreten, es sei denn bei Solo-Stellen. Insgesamt hinterlässt die Aufnahme den Eindruck technischer Vollendung, gepaart mit Wohlklang. Die klanglichen Zuspitzungen vor allem der Hörner und Trompeten kommen hier nicht so deutlich heraus, vermutlich mit Absicht. Die Aufnahme klingt sehr klar und transparent. Der erste Satz beginnt aus dem Nichts. Als Hörer muss man schon die Lautstärke anheben, um die ersten Motive zu vernehmen. Der zweite Satz kommt weniger locker, weniger spritzig an bestimmten Stellen. Immer penibel genau lässt der Maestro auch den dritten Satz spielen, meistens klanglich geschärft, er hinterlässt bei mir jedoch den Eindruck des (zu) Sterilen. Das klingt alles etwas wie überperfekt. Die Vielschichtigkeit der Mahlerschen Musik wird hier nicht getroffen. Im Finale schiebt sich Karajans Schönheitsideal vor Mahlers Partitur: Die Streicher klingen breit und pastos, wobei die Geigen noch herausgestellt werden und die Solo-Geige stößt mit ihrem Vibrato schon nahe an Kitsch. Straussens „Tod und Verklärung“ lässt grüßen.

Der Konzertmitschnitt aus dem Jahre 1982 gefällt mir etwas besser, da Karajan hier lockerer musizieren lässt, Spontanes bleibt nicht außen vor, wie in seiner Studio-Aufnahme zu beobachten ist. Der Beginn des Kopfsatzes kommt nun nicht aus dem Nichts, sondern besitzt bereits Kontur. Die Hörner wünschte ich mir an bestimmten Stellen noch deutlicher, das gestopfte Horn ist T. 79 kaum zu hören. Der dritte Satz wird ein wenig schneller gespielt, das abschließende Adagio jedoch im gleichen Tempo. Es besitzt nun mehr Wärme, man spürt, dass Karajan jetzt nicht ein Mainstream-Programm zum x-ten Male abliefert, sondern dass Mahlers ergreifende Musik auch ihn angeht.

 

Georg Solti

In den 1960er Jahren erarbeitete Solti einige Mahler-Sinfonien mit dem Londoner Sinfonie-Orchester, u. a. auch die 9. (1966). Die Aufnahme ist ein Klangerlebnis, was soll man alles Rühmen? Die wunderbare Orchester-Präzenz, ein offenes Klangbild, Soltis Klangregie, die auch das Hässliche und Fratzenhafte einiger Stellen nicht abwürgt. Balance und Transparenz sind vorbildlich. Die Musik klingt urwüchsig aber auch empfindsam, wenn es die Partitur verlangt. Im Ländler-Satz setzt er die einzelnen Abschnitte durch deutliche Tempogegensätze voneinander ab und verleiht so der Musik eine entsprechende Physiognomie. Die beiden letzten Sätze erreichen das interpretatorische Niveau der beiden ersten jedoch nicht. Im Rondo gerät der Übergang zur Doppelschlag-Stelle im MT zu zahm. Sie klingt unentschlossen und ohne rechte Spannung. Im bewegt gespielten Finale wird eher das Große und Ganze gezeigt als auf Details eingegangen, die erste Solo-Horn-Partie T. 17/18 klingt wie gewöhnlich, wie selbstverständlich, aber nicht als Trost. Insgesamt klingt dieser Satz zu kalkuliert.

16 Jahre später bringt der ungarische Maestro eine zweite Aufnahme von Mahlers 9. heraus, jetzt mit dem Chicago Symphony Orchestra im Rahmen einer Gesamtaufnahme. Diese zeichnet sich durch durch ein zusätzlich erweitertes Klangvolumen aus. Die Musik klingt aber abgeklärter, weniger plastisch als früher. Im interpretatorischen Bereich kann sie in den ersten beiden Sätzen weniger überzeugen. So spielt das Englischhorn im ersten Satz in den Takten 16/17 nicht so differenziert wie das Londoner Pendant, oder die Pauken als Fortsetzung der Trompeten T. 172/73 klingen kaum bedrohlich, auch nicht der von mir so bezeichnete „Samiel-Ruf“ T. 308 ff. Überzeugend jedoch der Wirbel auf der Großen Trommel T. 110, der früher etwas domestiziert klang. Der Ländler-Satz ist hier nicht durch die Gegensätzlichkeit der Themen gezeichnet. Bei den Sätzen 3 und 4 wendet sich jedoch das Blatt. Die Rondo-Burleske besitzt nun mehr Kraft, allerdings dringt der Triangel kaum durch. Im letzten Satz lässt Solti mehr Empfindung walten, es wird detailreicher musiziert und das 1. Horn darf deutliche Zeichen setzen. Wer Mahlers 9. Sinfonie unter Leitung von Georg Solti hören will, sollte beide Aufnahmen besitzen und sich eine Synthese aus 1966 (Satz 1 und 2) und 1982 (Satz 3 und 4) zusammenstellen.

 

Kurt Sanderling

Im Jahre 1912 wurde Mahlers 9. Sinfonie von Bruno Walter zur Uraufführung gebracht. Im selben Jahr blickten zwei nachmalige Mahler-Dirigenten das Licht der Welt: Georg Solti und Kurt Sanderling. Aus der Rückschau betrachtet könnte man meinen, hier habe die Vorsehung ihre Hand im Spiel gehabt. Von Sanderling stehen mir drei Aufnahmen zur Verfügung, die alle nicht mit optimaler Klangtechnik punkten können. Die älteste wurde 1979 in Berlin mit dem (Ost-)Berliner Sinfonie-Orchester aufgezeichnet, dessen Streicher-Gruppe nicht ganz mit der Klangfülle der englischen Orchester mithalten kann. Sanderling legt zwar die Strukturen der Partitur offen, bevorzugt jedoch, zumindest im wichtigen Kopfsatz, einen Mischklang. Für den zweiten Satz nimmt sich Sanderling mehr Zeit als seine Kollegen, besonders in seiner letzten Aufnahme mit dem POL, da fehlt einfach der Schwung in den Tanzpartien. Beim 3. Satz ziehe ich die Berliner Aufnahme den späteren vor, da sie mehr Spannung vermitteln kann. Der Mittelteil mit der ausgedehnten Doppelschlag-Diskussion bleibt weitgehend im Tempo und verselbständigt sich hier nicht. Beim Finale trifft der Dirigent sowohl beim BBC- als auch beim Philharmonia Orchestra die Absichten der Partitur mehr als in Berlin. Mahlers  Anweisung für die Geigen stets großer Ton wird nicht sofort, sondern erst später umgesetzt, einhergehend mit der großen Steigerung und Verdichtung ab T. 145. Beim Londoner Mitschnitt beginnt die Sinfonie aus dem Nichts und endet im Nichts.

 

Rafael Kubelik

Kubelik war neben Bernstein der erste Dirigent, der in den 1960er Jahren eine Gesamteinspielung von Mahlers Sinfonien mit dem Symphonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks bei der DGG vorlegte. Beim Hören der 9. Sinfonie fällt das Streicher-lastige Klangbild auf, das die bei Mahler so wichtigen Holzbläser benachteiligt. Damit gerät auch das Bizarre der Musik, dass Mahler immer wieder bemüht, ins Hintertreffen. Hier hätte man sich etwas mehr Transparenz gewünscht. Vermutlich geht dieses Manko nicht allein auf Kubelik, sondern auch auf die DGG-Klangregie zurück, die damals bei Orchesteraufnahmen ein weicheres, harmonischeres Klangbild bevorzugte (Karajan, Böhm). Die Tempi in den drei ersten Sätzen bleiben im Rahmen des Üblichen, im Finalsatz jedoch deutlich darunter. Der Dirigent lässt überwiegend fließend musizieren, bei den Streichern mit hohem Bogendruck. Erst gegen Satzende wechselt er in das von Mahler gewünschte Adagio-Tempo, ohne sich dem Stillstand heutiger Interpreten zu nähern (Levine, Sinopoli, Chailly, Tilson Thomas, Tabakov). Leider bleibt das 1. Horn an seinen ersten beiden Solo-Stellen zu zurückhaltend, zu wenig ausdrucksvoll. Am besten gelingt der dritte Satz.

Einige Jahre nach dieser bisher einzigen Gesamtaufnahme der Mahler-Sinfonien der DGG – die Bernstein-Ausgabe ist eine Sammlung von Mitschnitten mit unterschiedlichen Orchestern zu verschiedenen Zeiten – brachte des Label audite Mitschnitte der Mahler-Sinfonien mit Kubelik und seinem Symphonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks auf CD heraus. Die Unterschiede bei der 9. zur Studio-Einspielung sind jedoch nicht wesentlich und nur an bestimmten Stellen der Partitur festzumachen: So bringt Kubelik das sp T. 67 im ersten Satz jetzt etwas deutlicher. Der Klang hat ein wenig mehr Saft und die Balance ist etwas besser, jedoch keineswegs optimal, die wichtige Rolle der Holzbläser bleibt immer noch unterbelichtet. Auch hier gefällt auch der dritte Satz am besten, die Musik springt einen direkt an. Im MT investiert Kubelik mehr Espressivo als früher. Entsprechend gilt das auch für die Solo-Stellen des 1. Horns Im Finale.

 

Leonard Bernstein

Bernstein besitzt bei Mahler einen gewissen Kultstatus, da er einer der ersten war, die sich intensiv, gerade auch via Schallplatte, mit Mahlers Musik beschäftigt haben und die erste Gesamteinspielung vorlegte. Maurice Abravanel, Rafael Kubelik und der damals noch relativ junge Bernard Haitink sollten ihm bald folgen.

In seiner ersten Aufnahme mit den New Yorker Philharmonikern hinterlässt Bernstein bei mir einen noch etwas ratlosen Eindruck. Gerade im Kopfsatz bleibt er suchend nach Mahlers Konzept. Die vielen wichtigen Hornstellen werden überspielt oder bekommen nicht den Stellenwert, der ihnen der Komponist zuweist. Die Streicher beherrschen nach überkommener Manier das Klangbild, obwohl Mahler das Klanggefüge seines Orchesters für seine Musik neu ordnete. Das Blech muss sich noch zurückhalten. Der zweite Satz klingt mir hier noch zu zerstückelt. Etwas schwerfällig, das ändert sich jedoch bald, wenn der dritte Satz beginnt. Hier ist Bernstein in seinem Element, das überzeugt. Dem Mittelteil T. 347 ff. begegnet der Dirigent jedoch zu nüchtern, es fehlt die Empfindung, die man bei ihm (im Nachhinein) erwartet. Das Glockenspiel wird in diesem Satz vorteilhafter eingesetzt als im vorhergehenden Satz. Das Finale besitzt noch nicht die Espressivo-Qualität, die der Komponist erwartet und die Bernstein in den späteren Aufnahmen gelingt. Wie auch schon im ersten Satz bemerkt, wird den Streichern auch hier zu viel Aufmerksamkeit beigemessen. So bleibt die zweite Solo-Stelle des Horns T. 49 ff. zu blass, da ins Orchester integriert. Insgesamt musiziert Bernstein noch an der Oberfläche, mehr al fresco, aus der Distanz. Das Klangbild wird in den vielen lauten Tutti-Abschnitten noch zu dicht.

Bernsteins zweite Aufnahme ist, was die Reihenfolge ihrer Veröffentlichung angeht, seine dritte, sie wurde erst 1992 auf den Markt gebracht, nach seiner zweiten Gesamtaufnahme, übrigens mit verschiedenen Orchestern, für die DGG. Dieser Mitschnitt aus der Berliner Philharmonie überzeugt mich am meisten. Im ersten Satz baut er viel mehr Spannung auf und scheut sich nicht, hässliche Klänge (z. B. gestopfte Blechbläser) zu präsentieren. Die Interpretation des zweiten Satzes hat jetzt mehr Biss, könnte aber noch lockerer sein. Das Glockenspiel kommt jetzt deutlicher heraus. Wie schon vorher überzeugt mich auch hier die Rondo-Burleske am meisten: wie besessen kommt die Musik in den Eckteilen aus den Lautsprechern. Im Mittelteil entdeckt Bernstein jetzt viel mehr Espressivität als früher. Weniger gefällt mir das abschließende Finale, da die Streicher in der ersten Hälfte mit breitem Pinsel agieren, das klingt zu plakativ. Dem zweiten Horn-Solo wird nun mehr Ausdruckspotential zugestanden und das Finale insgesamt gestaltet musiziert, wobei das Orchester auch mehr Wärme ausbreitet. Der Klang ist nun etwas offener und saftiger. allerdings mit einigen Störungen gespickt.

Auch in Bernsteins dritter Aufnahme, jetzt ein Mitschnitt aus dem Amsterdamer Concertgebouw, betont der Dirigent den Primat der Streicher. Er erweist sich auch nicht unbedingt als inniger Freund der Hörner: Bei den vielen Stellen, die Mahler mit hervortretend bezeichnet, bleiben sie zu zurückhaltend. Die Spannung im ersten Satz erreicht nicht die des Berliner Orchesters. Von dritten Satz abgesehen wählt der Dirigent auch deutlich langsamere Tempi als 6 Jahre zuvor. Das fällt vor allem beim zweiten Satz auf, der ein Spannungsverlust hinnehmen muss. Die Takte  101 ff. klingen weniger grell als in New York und Berlin. Insgesamt macht die Aufnahme klanglich den besten Eindruck mit überzeugenden dynamischen Kontrasten, allerdings wünschte man sich bei den vielen Tutti-Stellen mehr Transparenz. In den Eckteilen des dritten Satzes lässt Bernstein geradezu hektisch und fast brutal musizieren, die Musik gerät außer sich. Der Mittelteil bleibt jedoch nüchterner, im Vergleich zu Berlin. Das Finale wird nun ganz in die Breite musiziert und überzeugt in dieser Interpretation am meisten.

Auch wenn uns Bernsteins Interpretationen der 9. Sinfonie nicht immer ganz schlüssig zu sein scheinen, bleibt doch sein großes Verdienst, Mahlers Musik der Musikwelt bekannt gemacht zu haben.

 

Michael Gielen

Nicht schon in frühen Jahren, sondern in seiner Reifezeit spielte Gielen Mahlers 9. ein, beide Interpretationen entstanden in Zusammenarbeit mit dem Südwestfunk-Sinfonie-Orchester Baden-Baden, das aus Kostengründen 2016/17 mit dem Südfunk-Sinfonie-Orchester fusioniert wurde. War es Respekt vor dem Werk, oder fehlende Lebenserfahrung, was ein Hinausschieben einer Aufnahme begründeten? Wir wissen es nicht. Auffallend ist jedoch, dass Gielens Tempi, im Vergleich zu seinen anderen Plattenaufnahmen aus früheren Jahren, nicht im ersten Drittel angesiedelt sind, dass er sich mehr Zeit nimmt, um die musikalische Materie zu durchdringen und darzustellen, wobei die Tempi in der zweiten Interpretation noch etwas nachlassen. Der Beginn der Intercord-Aufnahme (1980) klingt etwas kompakt, nicht genügend ausbalanciert, die Klänge vermischen sich zu viel. Jedoch nach wenigen Minuten nimmt dieser „Mangel“ ab, war es Absicht, dass sich die Musik wie aus einer Ursuppe langsam entwickelt oder Nachlässigkeit der Tontechniker? Bei seiner zweiten Aufnahme (2003), die im Freiburger Konzerthaus (vermutlich live) mitgeschnitten wurde, lässt Gielen von Anfang an viel klarer spielen. Die Aufnahme besitzt  mehr Dynamik mit einer größeren Breite und Tiefe. Gielens von vielen bewundertes Vermögen, die Strukturen der jeweiligen Musik offenzulegen, zeigt sich in allen vier Sätzen, ohne dass man seine Darstellungen als kühl abtun sollte. Das Überdrehte, das Bizarre an vielen Stellen kommt hier deutlich heraus, wobei Gielen im dritten Satz in der zweiten Aufnahme nicht mehr so radikal und aufsässig spielen lässt als früher. Auch das Glockenspiel in den Mittelsätzen wird nicht schamhaft versteckt. Im berühmten Finale lässt der Dirigent trotz großer Ausdrucksdichte immer schlank musizieren, ohne Drücker. Die Tempi sind nicht überzogen und bewegen sich wie Walter, Barbirolli und Kondraschin. Der Orchesterklang ist teilweise etwas asketisch, man sollte aber nicht den Glanz der Berliner oder Wiener Philharmoniker sowie des Concertgebouw Orchesters als vorbildlich hinstellen.

 

Bernard Haitink

Haitinks erste Aufnahme entstand im Rahmen seiner Gesamtaufnahme für Philips im Jahre 1969 etwa parallel zu Kubeliks Aufnahme für die DGG. In allen Sätzen bevorzugt Haitink mehr oder weniger die Streichinstrumente, die Bläser müssen sich in der Regel mit Platz 2 im Klanggefüge begnügen. Das gilt vor allem für die Hörner, deren besondere Stellung in dieser Sinfonie noch nicht dargestellt wird, z. B. Im ersten Satz T. 133-135 oder T. 234 ff.  Auch Pauken und den anderen sporadisch platzierten Schlaginstrumenten wird zu wenig Beachtung geschenkt, z. B. im zweiten und dritten Satz der Triangel. Mahlers Musik wird so das Grelle, das Überdrehte, der Traditionsbruch verweigert. Sie klingt eher gemütlich und stimmig und bleibt mehr an der Oberfläche. Insgesamt wünschte man sich bei einer Studio-Produktion auch eine bessere Transparenz.

Haitink muss in den folgenden Jahren Mahlers 9. mehrmals, auch mit anderen Klangkörpern, aufgeführt und die Erfahrung mit dieser komplexen Partitur vertieft haben. Davon zeugen weitere Mitschnitte, z. B. aus München und Berlin, die beide jeweils einen Schritt nach vorn markieren, sowohl klanglich, indem die Bläser mehr nach vorn geholt werden, als auch in Bezug auf die Durchdringung der Partitur. Die Schlaginstrumente dürfen sich nur vorsichtig nach vorn wagen. Insgesamt wird in beiden Aufnahmen die Dynamik verbreitert. Trotz eines etwas langsameren Tempos in den Mittelsätzen klingt die Aufnahme mit dem Symphonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks bewegter, die Ecksätze werden geringfügig schneller gespielt. Sechs Jahre später stand Haitink am Pult der Berliner Philharmoniker, mit dem er immer wieder Mahler-Sinfonien aufführte, die auch auf CD übernommen wurden. Dieser Mitschnitt besticht einmal durch die exzellente Qualität des Orchesters, aber auch durch den in der Philharmonie eingefangenen fülligen, opulenten Klang mit einer hervorragenden Transparenz. Haitink lässt ohne Druck musizieren, es ist eher eine epische Darstellung, wobei die Tempi noch zurückhaltender genommen werden, besonders im ersten Satz. Haitink gelingt es jedoch, dies nicht als Manko erscheinen zu lassen, wenn er Details mehr Aufmerksamkeit schenkt und auf Zusammenhänge hinweist. Im zweiten Satz lenkt der Dirigent die Zuhörer noch einmal zurück in die Spätromantik, eine Erinnerung an die „schöne alte Zeit.“

Die mir bisher letzte bekannte Aufnahme der 9. mit dem holländischen Dirigenten entstand ein Jahr später als Rundfunk-Mitschnitt im Amsterdamer Concertgebouw am Pult seines ehemaligen Orchesters. Haitink braucht nun etwas weniger Zeit, vor allem für den ersten Satz. Die musikalische Darstellung jedoch entspricht der mit den Berliner Philharmonikern, jedoch mit noch mehr Details. Auch die Bläser werden noch mehr nach vorn gerückt, aber dem Schlagwerk, wie in allen hier erwähnten Aufnahmen, weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Die Balance ist nicht optimal, als geradezu störend empfinde ich die (wenigen) Pegelsprünge, wenn leise Stellen plötzlich nach vorn geholt werde, wie am Ende des ersten Satzes. Dabei wird Nebengeräuschen eine eigentlich nicht vorgesehene Präsenz zugestanden. Eine Übernahme auf CD halte ich für nicht erforderlich.

 

Claudio Abbado

Abbado hat für Mahlers 9. eine gute Hand, das beweisen die beiden Konzertmitschnitte aus Wien und Berlin, die im Abstand von 15 Jahren entstanden. Beide Aufnahmen sind Streicher-beherrscht, die Holzbläser werden im Kopfsatz, abgesehen in den ruhigen Abschnitten, etwas nach hinten gedrängt. Abbado lässt überwiegend fließend musizieren. In der jüngeren Berliner Aufnahme gelingt der Kopfsatz noch packender, an den Höhepunkten mit noch mehr Leidenschaft, aber auch mit mehr Details angereichert. Im Ländler-Satz wird in beiden Mitschnitten ausgelassen und derb musiziert, mit viel Drive. Beim dritten Satz ziehe ich die Wiener-Aufnahme vor. Die A-Abschnitte zu Beginn und an Ende kommen hier stürmischer und schneidender als in Berlin, die vergleichsweise etwas domestizierter klingen, aber im Detail deutlicher ausfallen. Auch der Mittelteil besitzt in Wien mehr Innigkeit als in Berlin. Hier stehen sich eine Aufnahme mit Herz und Bauchgefühl einer intellektuell orientierten gegenüber, die aber beide ihre Berechtigung haben. Ähnliches beobachtet man im abschließenden Adagio, für das sich der Dirigent in Berlin etwas mehr Zeit nimmt als früher in Wien. Der Klang der letzten Aufnahme besitzt etwas mehr an Präsenz. Zuletzt möchte ich noch empfehlend auf einen Mitschnitt aus Luzern hinweisen, Abbado führte 2010 Mahlers 9. mit dem dortigen Festspielorchester auf, die Aufnahme hat Accentus als blu-ray Disc veröffentlicht.

 

James Levine

Die beiden Aufnahmen von Mahlers 9. Sinfonie, die uns Levine hinterlassen hat, liegen rund 20 Jahre auseinander, ohne dass große interpretatorische Unterschiede hörbar werden. Die jeweilige Spieldauer liegt bei ca. 91 Minuten. Levine pflegt ein partiturbezogenes Musizieren, an den Höhepunkten kann er jedoch leicht hektisch und plakativ werden, in Chicago mehr als in München. Die RCA-Aufnahme wird vor allem im ersten Satz von den Violinen beherrscht, der Klang ist offen, hell und an vielen Stellen auch saftig, dazu sind auch einige knallende Pauken zu zählen. Der Münchner Mitschnitt bietet einen ausgeglicheneren Klang, der der früheren Aufnahme überlegen ist, auch in Bezug auf Transparenz, Farbe und Ausgeglichenheit. Für den zweiten Satz nimmt sich der Dirigent vor allem in Chicago viel Zeit, die Ländler-Partien klingen allzu gezogen, ein derbes Musizieren wird bevorzugt. Auch in München, eine Minute schneller, wird noch mit viel Nachdruck musiziert, jedoch etwas runder und geschliffener. Mit einer ähnlichen Haltung erklingen die Eckteile des dritten Satzes. Im vom Doppelschlag-Motiv beherrschten Mittelteil herrscht ein schlankes Musizieren vor, beim CSO stellenweise gläsern. Die Münchner Philharmoniker spielen hier etwas zurückhaltender, aber auch deutlicher auf. Die beiden ersten Takte des Finales bringt Levine in beiden Aufnahmen etwas aufgeblasen. In der RCA-Aufnahme setzt er diese Musizierweise fort: breit, gezogen und wie ausgewalzt, immer molto espressivo, hier und da  streift die Musik den Rand des Verfallens. Die vielen betonten Vorschläge der Geigen und Bratschen unterstützen dabei den etwas pathetischen Vortrag. Vergessen werden sollte jedoch nicht die penible dynamische Differenzierung, die der Dirigent der Musik angedeihen lässt. Auf den Oehms-CDs erklingt die Musik zwar noch eine Minute länger, im Ausdruck jedoch etwas geformter.

 

Giuseppe Sinopoli

Zwei Aufnahmen ganz gegensätzlicher Kontur liegen mir mit Giuseppe Sinopoli vor. Die erste stammt aus seiner Gesamtaufnahme mit dem Philharmonia Orchester London für die DGG aus dem Jahre 1993, bei der zweiten handelt es sich um ein Konzertmitschnitt aus der Dresdner Semper-Oper mit der Staatskapelle vier Jahre später, veröffentlicht von Profil-Hänssler. Beide Orchester leitete er damals als Chefdirigent. Während die Studioeinspielung überwiegend konventionell geriet, findet der Dirigent in Dresden doch einen sehr persönlichen Tonfall. In London geht er zuweilen über Mahlers Partituranweisungen hinweg, so über das plötzliche p vor T. 88 sowie das ebenso plötzliche langsamer ab T. 234. Die Tempogegensätze im zweiten Satz kommen gut heraus. In der Rondo-Burleske geht hier und da für einen kurzen Augenblick die Puste aus. Der Mittelteil mit dem Doppelschlag besitzt ein deutlich langsameres Tempo. Im Finalsatz klingen mir die Streicher etwas rau und unverbindlich, wollten da das die Solo-Violine (T. 40 ff.) und das Solo-Cello (T. 156/57) mit deutlichem Vibrato gegensteuern?

Sinopolis Auffassung der letzten Mahler-Sinfonie scheint sich vier Jahre danach zu einer verinnerlichten Sichtweise, verbunden mit viel langsameren Termpi in allen Sätzen, gewandelt zu haben. Dabei öffnet der Dirigent zumindest im ersten Satz einige Details, die bei anderen Kollegen verloren gehen. Es ist der langsamste erste Satz aller mir bekannten Interpretationen, Segerstam und Giulini verpassen knapp das blaue Band, bei aller Deutlichkeit klingt die Musik doch sehr gezogen und die Musik zerfällt in Abschnitte. Im zweiten Satz werden Ländler und Walzer kaum als gegensätzlich gekennzeichnet. Extrem langsam erklingt der Ländler in den Takten 230-260. Im dritten Satz nimmt das Blech im Gesamtklang einen großen Raum ein, mit der Folge eines schwergewichtigen Musizierens. Eine deutliche Temporeduktion erfährt der sich einer völlig anderen Gefühlswelt verhaftete Mittelteil. Die plötzliche Rückkehr zum A-Teil klingt danach wie eine kalte Dusche. Mit viel Nachdruck, auch mit viel Pathos geht der Finalsatz und damit die 9. Sinfonie zu Ende. Für die letzte Partiturseite nimmt sich Sinopoli in beiden Interpretationen sehr viel Zeit.

 

Simon Rattle

Der EMI-Konzern legte im Abstand von 14 Jahren zwei live-Mitschnitte der 9. Sinfonie unter Leitung von Simon Rattle vor, zunächst mit den Wiener, danach mit den Berliner Philharmonikern, deren Chefdirigent er inzwischen geworden war und dort die Mahler-Pflege seines Vorgängers, Claudio Abbado, erfolgreich fortsetzte. Die Berliner Aufnahme ist ein Glücksfall. Rattle gelingt es den Hörer unmittelbar anzusprechen, dabei hilft auch die Tontechnik, die die Instrumente vorteilhaft abbildet. Das in dieser Sinfonie so wichtige erste Horn bläst hier souveräner als das der Wiener Philharmoniker, das wiederum einen etwas schöneren Klang hervorbringt. Bei vielen gestopften Tönen wird der Unterschied auch deutlich. Insgesamt besitzt diese ältere Aufnahme nicht das Derbe und Schroffe der späteren, wenn die Streicher rauer und weniger gepflegt klingend spielen, z. B. im dritten Satz. Im vierten Satz lässt Rattle die Berliner Streicher in den ersten beiden Takten breit modulieren, den Wienern verlangt er (noch) nicht so eine emotionale, betroffen machende Darstellung ab. In beiden Aufnahmen spielen die Glocken bei den Takten 337 ff. zu leise. Bei den Berlinern könnte auch das Glockenspiel T. 262/263 und T. 266/267 etwas mehr hervortreten. Die Wiener Aufnahme besitzt nicht immer die Transparenz und Deutlichkeit der späteren.

eingestellt am 09.10.21

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