Das Klassik-Prisma |
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Bernd
Stremmel |
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Felix
Mendelssohn-Bartholdy
Variations sérieuses für Klavier
d-Moll op. 54
Eines der wichtigsten Variationswerke
für Klavier zwischen Beethoven und Brahms sind Mendelssohns Variations
sérieuses op. 54. Noch heute scheint ihre Bedeutung nur von wenigen Interpreten
erfasst zu werden, was sich in Konzertprogrammen und (versäumten)
Plattenaufnahmen niederschlägt. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dem Werk je im
Konzertsaal begegnet bin.
Im Jahre 1841 komponierte Mendelssohn
nicht nur diese Variationen in d-Moll op. 54, sondern zwei weitere
Variationszyklen, in Es-Dur op. 82 sowie in B-Dur op. 83. Sie wurden jedoch
erst nach dem Tode des Komponisten unter den späteren Opuszahlen veröffentlicht.
Am Anfang steht das zweiteilige Thema in
d-Moll zu je 8 Takten im vierstimmigen Satz, traurig, mit einem Anflug von
Pathos. Zu diesem Thema kehrt Mendelssohn mehrmals zurück, auch wenn er es
nicht wörtlich wiederholt: in V 5, V 14 und am Ende von V 17, düster, grundiert
von einem Tremolo der linken Hand auf a. Die restlichen Variationen,
meist von leidenschaftlichem Ausdruck, zeugen von einer konzentrierten
Ausarbeitung und sind pianistisch brillant geformt. Dabei wird die Moll-Tonart
beibehalten, bis auf V 14, in der Mendelssohn nach D-Dur ausweicht. Dieses
D-Dur-Thema begegnet uns hier trister und trostloser als seine Urform und
erinnert an bestimmte Dur-Wendungen innerhalb von Moll-Sätzen in späten
Kompositionen von Franz Schubert.
Mendelssohns Variations sérieuses stehen
im bewussten Gegensatz zu den Variations brillantes, Bravour-Variationen, meist
über bekannte Opernmelodien, wie sie schon von Mozart und dem jungen Beethoven
zur Ergötzung ihres jeweiligen Publikums verfasst wurden. Sie findet man vermehrt
in der Romantik, Friedrich Kalkbrenner, Henri Herz, Sigismund Thalberg und
Franz Liszt waren ihre Protagonisten. Bei ihnen steht jedoch nicht mehr die
Kunst der Variation, sondern exorbitante pianistische Fingerfertigkeit als
Aushängeschild des Ausführenden im Vordergrund. Bei der Komposition seiner
Variations sérieuses scheint sich Mendelssohn an Beethovens 32 Variationen
c-Moll WoO 80 orientiert zu haben, ohne jedoch das Prinzip der Chaconne zu
übernehmen. Es fehlt das ausschmückende, weitschweifige, assoziative Moment.
Die Musik bleibt bei aller phantasievollen Ausgestaltung unter sich,
Wiederholungen würden hier nur stören. Wie bei Beethoven reiht sich eine
Variation an die andere, hier allerdings keine 32, sondern nur 17 mit einer
Coda.
Die Zahl der hier aufgeführten
Interpretationen ist überschaubar. Qualitätsunterschiede treten nicht so
deutlich hervor wie bei umfangreicheren Kompositionen.
Alicia de Larrocha |
Decca |
1970 |
11‘27 |
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Larrocha gliedert das Thema in je vier Takte mit jeweils einem rit.,
das verleiht ihm jedoch Poesie, die bei den anderen Interpreten kaum
festgestellt wird; diese Vorgehensweise setzt sich in V 1 fort. Die Pianistin
vergisst nicht, immer den Bass einzubeziehen, heißblütig in schnellen
Variationen, V 11 zart, V 12 als Bravourstück, V 14 bittersüß |
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5 |
Vladimir Sofronitzki |
Melodya Urania Brilliant |
1950 |
11‘14 |
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live (?), guter Ausgleich zwischen virtuosen und lyrischen Abschnitten,
schnelle Variationen nicht mit zusätzlichem Druck, kompakter Klang, jedoch
ausgeglichenes Klangbild, V 4 kurze Vorschläge nach Gusto – kaum
Publikumsgeräusche oder Störungen |
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5 |
Wladimir Horowitz |
RCA |
1946 |
10‘48 |
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Horowitz brilliert vor seriösem Hintergrund, Klangbild nicht immer
ganz klar, etwas belegt, kompakt |
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5 |
Matthias Kirschnereit |
Arte Nova |
2000 |
12‘20 |
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Mendelssohns Notenvorlage
ausgedeutet, Pianist setzt Variationen gut voneinander ab, V 4 deutliche
Vorschläge |
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5 |
Stephen Hough |
hyperion |
2008 |
10‘27 |
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elegantes Klavierspiel,
glasklar, schöner Klavierklang, V 12 messerscharf, dabei immer noch
durchsichtig, V 14 ohne bittere Süße, V 15, agitato gut getroffen,
bravouröses Presto |
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4-5 |
Bernd Glemser |
Oehms |
2012 |
11‘18 |
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pianistisch poliert, zupackend,
keineswegs grob, in den langsamen Variationen im Ausdruck zurückhaltend, V 4
deutliche Vorschläge, allmähliche Tempozunahme bis V 9, V 14 nur schön |
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4-5 |
Svjatoslav Richter |
AS Living stage |
1965 |
11‘27 |
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live NY, mit viel
Nachdruck, Virtuosität heraushebend, gepresstes Klangbild – durchgehende
Störungen des Publikums |
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4-5 |
Jean-Yves Thibaudet |
Decca |
2001 |
10‘48 |
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Clarté ! Thema etwas
unterkühlt, auch V 11, V 4 deutliche Vorschläge, V 6 Oktaven gebunden, V 12
sehr bravourös, V 13 schönes Martellato in der Oberstimme, V 14 klar, jedoch
wenig innig |
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4-5 |
Alfred Cortot |
EMI Naxos |
1937 |
10‘38 |
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schnellste Ausführung, V
2 Stimmführung aufgrund des kompakten Klanges nicht immer deutlich, V 5 agitato
gut getroffen, V 12 verschwimmende Motive, V 15 piu agitato? |
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4-5 |
Sebastian Knauer |
Berlin Classics |
2008 |
12‘25 |
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aufmerksame Umsetzung des
Notentextes, geschmeidiges Klavierspiel, in den ruhigen Variationen Ausdruck
etwas zurückhaltend neutral, V 1 im Bass kein staccato |
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4-5 |
Alfred Brendel |
Philips |
1989 |
10‘32 |
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Brendel entdeckt
Mendelssohn, V 1 Bass unterkühlt, V 4 trocken, V 7 etwas fest |
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4-5 |
Murray Perahia |
CBS Sony |
1982 |
11‘28 |
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Thema schlicht, etwas
neutral, V 12 mit Bravour, V 14 eindimensional schön – transparenter
Klavierton |
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4-5 |
Bertrand Chamayou |
naïve |
2007 |
11‘24 |
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tadelloses Klavierspiel,
guter Klavierklang, etwas eingedunkelt, leider Pedalgeräusche, sehr gute
Transparenz, V 12 mit mehr Übersicht als bei anderen Interpreten |
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4 |
Werner Haas |
Philips |
P 1972 |
11‘45 |
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tadellos, insgesamt etwas
wie referierend, Th schlicht, V 1 Bass nur markiert, V 4 deutliche
Vorschläge, V 6 und V 7 etwas trocken, V 12 nicht messerscharf |
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4 |
Nikita Magaloff |
Decca |
1988 |
11‘00 |
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live, heller Diskant, V 1
Bass ohne staccato, V 5 ohne agitato, auch bei V 15, V 9 mit
deutlicher Oberstimme, V 16/17 gestenreich, mit Aplomb, impulsiv, zum Schluss
stürmisch drängend |
eingestellt am 18.11.22