Das Klassik-Prisma |
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Bernd Stremmel |
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Bilder einer Ausstellung
Instrumentation von Maurice Ravel
Mussorgskys Zyklus Bilder einer Ausstellung erfreut sich bei Musikfreunden einer großen Beliebtheit, auch bei denen, die mit klassischer Musik nicht so viel anfangen können. Einen Grund sehe ich darin, dass Mussorgskys ausdrucksvolle Klavierbilder eine ganze Anzahl von Komponisten anregte, Bearbeitungen für Orchester zu schaffen, sogar bis in den Pop-Bereich hinein: Emerson, Lake and Palmer, oder Kazuhito Yamashita (Gitarre), Isao Tomita (Synthesizer).
Gleich im ersten Jahr der Veröffentlichung legte M. Touschmaloff eine jedoch nicht vollständige Transkription für Orchester vor. Die bekannteste Fassung stammt von Maurice Ravel, die er im Auftrag des russischen Kontrabassisten und Dirigenten Serge Koussevitzky im Jahre 1922 schuf. Ravel hielt sich nicht streng an Mussorgskys Vorlage sondern brachte eigene Ideen ein, z. B. verzichtete er auf die 5. Promenade zwischen Samuel Goldenberg und Schmuyle und Der Marktplatz von Limoges und erreichte damit einen verstärkten Kontrast zwischen den beiden Bildern. Am Ende des A-Teils von Die Hütte der Baba Yaga vor Partiturziffer 90 stehen 4 Viertelnoten, Ravel lässt sie von der Trompete spielen und sofort zusätzlich von der gestopften Trompete wiederholen. Damit schafft er einen gelungenen Übergang zum folgenden, etwas gläsern und unwirklich klingenden, B-Teil. Auch die dynamischen Vorzeichen, von denen man jedoch nicht genau weiß, ob sie von Mussorgsky oder dem posthumen Herausgeber Rimsky-Korssakoff stammen, ändert er im Sinne seiner Absichten. Der Hörer wird vor die Frage gestellt, ob er noch Mussorgskys Komposition vernimmt oder ein neu geschaffenes Werk nach Mussorgskys Vorlage. Einige Dirigenten sind eindeutig auf Ravels Seite zu finden: Chailly und Muti. Andere stellen klar, dass die Musik immer noch ein Werk des Russen ist: Toscanini, Svetlanov, Markevitch, Ancerl, Kegel. Bei Reiner und Celibidache verbinden sich Mussorgskys archaische Sprache mit Ravels Kalkül und Raffinement der Instrumentation.
Hinweise zu einzelnen Sätzen:
Der Gnom
Der 1. Takt darf nicht rhythmisch verwischt werden, die Achtel müssen als solche zu erkennen sein, bei zu schnellem Tempo werden sie ungenau können oder nicht geformt klingen (Previn, Solti, Baudo), gut gemacht z. B. bei: Wand, Toscanini-NBC, Kubelik und Ansermet.
Der 4. Takt mit Wiederholung des Anfangsmotivs soll leise gespielt werden, Ravel schreibt zusätzlich in die Partitur meno vivo, also etwas langsamer. Nur wenige Dirigenten achten darauf: Ancerl, Dohnanyi, Gergiev und Temirkanov; Dutoit und Abbado sind nur ein wenig langsamer.
Das alte Schloss
Hier setzt Ravel ein Saxophon als Solo-Instrument ein. Die Klangqualität bei den gehörten Aufnahmen ist jedoch unterschiedlich, manche Saxophone klingen in tieferer Lage wie ein Horn oder Fagott (z.B. Giulini-POL). Erwähnt sei auch, dass Ravel für das Saxophon ausdrücklich vibrato vermerkt. Am Ende des Stücks gibt es noch ein kurzes glissando von es nach as, das von den Saxospielern fast immer ignoriert wird, außer bei Immerseel! Während des ganzen Stückes läuft ein tiefes g als Bordoun im Rhythmus lang-kurz-lang-kurz... leise mit. Ravel verwendet dafür meist das Violoncello, aber auch das Fagott oder den Kontrabass. Dieser wechselt sich mit dem Cello ab, spielt aber noch andere Noten, wobei er wechselweise pizzicato (gezupft) spielt oder den Bogen benutzt. Ist es den Dirigenten oder den Aufnahmeleitern anzulasten, dass diese unterschiedliche Spielweisen oft unbeachtet oder fast unhörbar bleiben? Karajan-BP, Giulini, Abbado, Rattle, Gergiev. Szell, Dorati und Kegel unterscheiden genau.
Bydlo
Qualität der Tuba und Virtuosität des Spielers decken sich nicht immer mit Ravels Vorstellungen, z. B. bei Svetlanov. Karajan-BP hebt die Tuba etwas zu sehr hervor, bei Celibidache-MP klingen die tiefen Streicher ermüdend (bis Ziffer 38), bei Sinopoli klingt die Musik ziemlich saftlos. Im Sinne des Komponisten lassen Szell, Solti und Kegel spielen.
Smuel Goldenberg und Schmuyle
Ganz am Ende des Satzes spielen die Holzbläser eine Zweiunddreißigstel-Triole, anschließend das volle Orchester im ff dasselbe Motiv als langsamere Sechzehntel-Triole. Bei Koussevitzky und Ansermet wird die letzte Triole zu schnell gespielt, bei Celibidache hört man beide gleich langsam. Den letzten Ton lässt Mussorgsky lang ausklingen, Ravel dagegen sieht hier eine kurze Achtelnote vor. Alle Dirigenten richten sich nach Ravel, einzig Abbado in seiner Berliner-live-Aufnahme folgt Mussorgsky.
Katakomben
Auch hier gibt es Divergenzen zwischen Mussorgsky und Ravel: Im 8. Takt schreibt Mussorgsky ff vor, im 9. dim (also leiser) und im 10. dann pp , also sehr leise. Ravel verzichtet in Takt 9 auf das diminuendo, bringt es aber in Takt 10. Dutoit, Previn, Abbado und Dohnanyi folgen Mussorgskys Spielanweisung. Bei Dutoit hört man die gestopften Hörner trotz sehr leisem Spiels deutlich aus dem Gesamtklang heraus (1 Takt vor Ziffer 73).
Abkürzungen der einzelnen Sätze:
Pro |
Promenade |
Gno |
Gnom |
Schl |
Das alte Schloss |
Tui |
Die Tuilerien |
Kük |
Ballett der Küken |
Sam |
Samuel Goldenberg und Schmuyle |
Lim |
Der Marktplatz von Limoges |
Kat |
Die Katakomben |
Mor |
Cum mortuis in lingua mortua |
Hütte |
Die Hütte der Baba Yaga |
Tor |
Das Große Tor von Kiew |
Szell |
Cleveland Orchestra |
Sony |
1963 |
31‘11 |
5 |
Symbiose von Präzision, Rhythmus und Klangsinn |
||||
Reiner |
Chicago Symphony Orchestra |
RCA |
1957 |
32‘48 |
5 |
Mussorgskys Archaik und Ravels Kalkül gleichermaßen zugetan |
||||
Muti |
Philadelphia Orchestra |
Philips Decca |
1990 |
32‘29 |
5 |
Klangfarben bestens abgebildet, auch die der etwas selteren Instrumente wie Bassklarinette, Kontrafagott, Tuba, Harfe; opulenter Klang, fabelhaftes Blech, viel Kammermusik im Orchester |
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Kubelik |
Chicago Symphony Orchestra |
Mercury |
1951 |
28'32 |
5 |
einfallsreiche Interpretation, Vitalität, gute Transparenz, hervorragender Klang, gute Tempi; überzeugendes Plädoyer für Mercurys Living Presence-Technik – spitze Oboe |
||||
Dorati |
Concertgebouw Orchester Amsterdam |
Philips forgotten records |
1952 |
28'49 |
5 |
vitale, aufregende Interpretation, bei der man den Atem anhält – Schl: im Holzbläser-Chor mischt sich das Saxo zu sehr mit dem Englischhorn |
||||
Solti |
Chicago Symphony Orchestra |
Decca |
1980 |
33‘27 |
5 |
in bekannter Solti-Manier |
||||
Davis, Colin |
Concertgebouw Orchestra |
Philips |
1979 |
33‘32 |
5 |
detailbesessen, verliert das Ganze aber nicht aus dem Blick |
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Ancerl |
Tschechische Philharmonie Prag |
Supraphon |
1968 |
31‘07 |
5 |
Sam: das nicht haargenau synkronisierte Spiel der Trompete lässt uns die Unsicherheit und Angst des Schmuyle spüren! – unspektakulär, trotzdem bestens dargeboten, leicht angerauter Klang |
||||
|
||||||||||
Gergeiv |
Wiener Philharmoniker |
Philips |
2000 |
31‘59 |
4-5 |
live – bei Solostellen sollten die anderen Instrumente nicht zu leise spielen, sehr flotte Küken |
||||
Toscanini |
NBC Symphony Orchestra |
RCA |
1953 |
31‘43 |
4-5 |
genaues, rhythmisch delikates Spiel |
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Wand |
NDR Sinfonie-Orchester |
RCA |
1999 |
32‘57 |
4-5 |
live – viele Details, die andere nicht bringen, Wand liest die Partitur am Genauesten. Eigentlich beste Aufnahme, manchmal fehlt jedoch der Funke |
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Dutoit |
Orchestre Symphonique de Montreal |
Decca |
1985 |
32‘34 |
4-5 |
Lim: noch nicht ganz frei, Katakomben!! |
||||
Ansermet |
Orchestre
de la Suisse Romande |
Decca |
1959 |
31‘25 |
4-5 |
mehr Mussorgsky als Ravel, Lim: sehr farbig, Hütte MT: zu direkt, keine Geheimnisse, insgesamt helles Klangbild |
||||
Kegel |
Rundfunk Sinfonie-Orchester Leipzig |
Berlin Classics |
1967 |
31‘53 |
4-5 |
Pro I und III etwas zackig, sehr lebendiger Marktplatz; beinahe schon ideal |
||||
Markevitch |
Gewandhausorchester Leipzig |
Berlin Classics |
1973 |
32‘25 |
4-5 |
▼ |
||||
Markevitch |
Berliner Philharmoniker |
DGG |
1953 |
30‘35 |
4-5 |
▼ |
||||
Giulini |
Chicago Symphony Orchestra |
DGG |
1976 |
34‘29 |
4-5 |
gewichtiger und gepflegter als die live-Aufnahme aus Edinburgh |
||||
Giulini |
Philharmonia Orchestra London |
BBCL |
1961 |
30‘43 |
4-5 |
live – spitze Oboe, Saxophon klingt stellenweise eher wie ein Horn; überzeugende Darstellung, Orchester nicht Spitze (Trompete) |
||||
Abbado |
London Symphony Orchestra |
DGG |
1981 |
32‘50 |
4-5 |
viele atmosphärereichen Stellen |
||||
Rattle |
Berliner Philharmoniker |
EMI |
2007 |
34‘05 |
4-5 |
live – Sylvesterkonzert 2007 |
||||
Karajan |
Philharmonia Orchestra London |
EMI |
1955/56 |
34‘23 |
4-5 |
ursprünglicher klingend als spätere Aufnahmen |
||||
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||||||||||
Jansons |
Symphonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks |
BR Klassik |
2014 |
33'14 |
4 |
live – klangschöne Aufnahme, sagt mehr über die außergewöhnlichen Qualitäten des Orchesters als über das russische Gemälde von Mussorgsky/Ravel aus, das etwas geglättet erklingt – Gnom: ab Ziff. 8 verzögertes Tempo, Sam: Sam.-Gold. kaum drohend |
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Svetlanov |
Staatliches Sinfonie-Orchester der UdSSR |
Melodya |
1974 |
35‘32 |
4 |
aufmerksamer Blick auf Details: Sam, Kat; herbe, nicht polierte Aufnahme |
||||
Dohnanyi |
Cleveland Orchestra |
Teldec |
1989 |
33‘53 |
4 |
Schl: geringe Innenspannung, Sam: bei 2 Trompeten leicht schwerfällig, Mor: könnte etwas spannender sein; hier und da wünschte ich mir mehr Nachdruck |
||||
Levine |
Orchester der MET |
DGG |
1992 |
32‘26 |
4 |
im Detail könnte mehr herausgeholt werden, saftiger aber auch bulliger Klang |
||||
Dorati |
Minneapolis Symphony Orchestra |
Mercury |
1959 |
29‘19 |
4 |
Schl: zügig, Mor und Hütte(B-Teil) ohne Geheimnis und Atmosphäre |
||||
Celibidache |
SWR Sinfonie-Orchester Stuttgart |
DGG |
1976 |
35‘40 |
4 |
live – vieles zäh, Lim und Kat gut! |
||||
Muti |
Philadelphia Orchestra |
EMI |
1978 |
31‘10 |
4 |
streicht mehr das Virtuose der Partitur heraus, etwas hartes Klangbild |
||||
Koussevitzky |
Boston Symphony Orchestra |
History |
1938 |
29‘37 |
4 |
Schl: kleine Kürzung |
||||
Abbado |
Berliner Philharmoniker |
DGG |
1993 |
32‘18 |
4 |
live – nicht ganz auf der Höhe der Londoner Aufnahme |
||||
Karajan |
Berliner Philharmoniker |
DGG |
1986 |
33‘00 |
4 |
vieles bemüht, nicht richtig ausgespielt, oder etwas zu langsam |
||||
Otterloo |
Residenz Orchester Den Haag |
Philips/Chellenge |
1957 |
32‘00 |
4 |
Orchester nicht immer top; Kük: etwas steif, Mor: wenig espressivo |
||||
Bernstein |
New York Philharmonic Orchestra |
Sony |
1958 |
33‘06 |
4 |
viel gelungene, aber auch viele weniger gelungene Partien und Übertreibungen, deftiger Klang |
||||
Giulini |
Berliner Philharmoniker |
Sony |
1990 |
36'19 |
4 |
insgesamt zu langsam, Partitur durchleuchtet, guter Klang, Mor gut |
||||
Toscanini |
BBC Symphony Orchestra |
History |
1938 |
34‘06 |
4 |
live – aufnahmetechnische Mängel, fehlerhafte Überspielung |
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Baudo |
Orchestre de Paris |
EMI |
1969 |
32'48 |
4 |
Tui: schnelles Tempo, Sam: 1. Trp etwas vorsichtig, Lim: meno mosso am Schluss ohne Nachdruck |
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Markevitch |
Berliner Philharmoniker |
Tahra |
1953 |
30‘49 |
3-4 |
▼ |
||||
Chailly |
Concertgebouw Orchestra Amsterdam |
Decca |
1986 |
32‘51 |
3-4 |
vieles nur schön musiziert, jedoch nicht wahrhaftig |
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Previn |
Wiener Philharmoniker |
Philips |
1985 |
33‘18 |
3-4 |
Musik oft überzeichnet und plakativ, Mussorgsky im Wiener Hollywood
Studio - Schl: schleppt sich dahin, Sam: Intonation
Streicher, Kük: könnte etwas lebendiger klingen |
||||
Sinopoli |
New York Philharmonic Orchestra |
DGG |
1989 |
36‘24 |
3-4 |
oft träge und saftlos musiziert |
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Celibidache |
Münchner Philharmoniker |
EMI |
1993 |
42‘37 |
3-4 |
zelebrierte „Bilder“, teilweise pompös |
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Temirkanov |
Royal Philharmonic Orchestra |
RCA |
1989 |
34‘48 |
3-4 |
selten den Charakter der Stücke richtig getroffen |
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Interpretationen mit Original-Instrumenten: |
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Immerseel |
Anima Eterna |
Alpha |
P 2014 |
32'26 |
3-4 |
mitteleuropäischer Mussorgsky, an vielen Stellen zu brav, zu lyrisch und statisch, geringere Spannung; andererseits achtet I. auf die vorgesehene Dynamik, hohe Klangkultur, schöne Bläserdetails, ein Plus auch das Saxophon |
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Igor Markevitch gab Ende Januar 1953 in Berlin Konzerte mit dem Berliner Philharmonischem Orchester, auf dem Programm standen auch die Bilder einer Ausstellung. Direkt nach den Konzerten erstellte der SFB eine Studioproduktion mit Markevitch und dem Orchester, die aber etliche spieltechnische Mängel aufwies, wahrscheinlich gab es keine Korrekturaufnahmen. Das französische Label Tahra brachte diese Aufnahme zusammen mit Verdis Requiem im letzten Jahr auf den Markt. Drei Wochen nach den Konzerten machte dann die DGG mit denselben Interpreten eine Plattenaufnahme, die viele Jahre als vorbildlich angesehen wurde. 20 Jahre später ging Markevitch mit den Bildern einer Ausstellung nochmals ins Aufnahmestudio, seine Partner waren jetzt die Musiker des Gewandhausorchesters Leipzig. Diese Aufnahme wurde erst nach der politischen Wende auch im Westen bekannt und geschätzt.
Jewgenij Svetlanov fügt bei Samuel Goldenberg und Schmuyle noch einen leisen Wirbel auf Pauken und Becken hinzu, ebenso unterstützende Beckenschläge in Katakomben bei ff-Stellen.
andere Übertragungen von Mussorgskys Klavierwerk (ohne Bewertung):
Orchesterfassung von Michail
Touschmaloff und Nikolai Rimsky-Korssakoff:
Andreae, Marc |
Münchner Philharmoniker |
BASF |
P 1974 |
24‘27 |
ohne: Promenade II, III, IV, Der Gnom, Cum mortuis in lingua mortua |
Orchesterfassung von Leopold
Stokowski:
Stokowski |
New Philharmonia Orchestra London |
Decca |
1965 |
27‘03 |
ohne: Promenade IV, Der Marktplatz von Limoges, Cum mortuis in lingua mortua |
Knussen |
Cleveland Orchestra |
DGG |
1995 |
28‘25 |
Orchesterfassung von Lucien Cailliet:
Ormandy |
Philadelphia Orchestra |
History |
1937 |
29‘48 |
auch Promenade V instrumentiert |
Orchesterfassung von Vladimir Ashkenazy:
Ashkenazy |
Philharmonia Orchestra London |
Decca |
1982 |
33‘56 |
Orchesterfassung von Sergei Gortschakoff:
Masur |
London Philharmonic Orchestra |
Teldec |
1990 |
34‘34 |
eingestellt am 05. 10. 08
bearbeitet und ergänzt am 22. 01. 16