Das Klassik-Prisma

 

 Bernd Stremmel

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Fantasie C-Dur op. 15 D. 760

Wandererfantasie"

Neubearbeitung und Ergänzung 2012

Fantasien sind in der Geschichte der Klaviermusik nicht wegzudenken. Zunächst wurden sie frei improvisiert, später dann auch notiert und den Klavierspielerinnen und Spielern empfohlen. Ein Nebeneffekt ist, dass einige Komponisten dabei aufschlussreiche Blicke in ihre Kompositionswerkstatt gestatten. Viele berühmte Komponisten haben uns Fantasien überlassen, z. B. J. S. Bach, J. Haydn, Mozart, Beethoven, Mendelssohn, Schumann, Chopin und Schubert, allerdings meist nur ein Werk. Vom letzteren sind noch einige Fragmente überliefert, sowie die sogenannte „Grazer Fantasie" C-Dur D. 606A. Auch ist bekannt, dass er vor Freunden nicht nur neue Werke vorstellte, sondern auch gern am Klavier fantasierte. Neben der „Wandererfantasie", die nach der „Unvollendeten" im November 1822 entstand, der Komponist war damals 25 Jahre alt, schuf er eine weitere bemerkenswerte Fantasie, f-Moll D. 940, diesmal für Klavier zu 4 Händen, die sich sowohl bei Klavierduos als bei Musikhörern auch heute noch großer Beliebtheit erfreut. Sie entstand in Schuberts Todesjahr 1828, kurz nach der bedeutenden Fantasie für Violine und Klavier C-Dur D.934. Sowohl in dieser als auch in der „Wandererfantasie" verarbeitet Schubert eigene Liedmelodien als Variationen im langsamen Abschnitt des Werkes. In der Violinfantasie stammt die Vorlage aus seinem Lied „Sei mir gegrüßt" D. 741, in der vorliegenden C-Dur-Fantasie aus „Der Wanderer" D. 489, hier ist es die Klavierbegleitung in den Takten 23-31.

Die „Wandererfantasie" ist in vier Abschnitten, wie eine Sonate, konzipiert, die jedoch ohne Pause ineinander übergehen. Der Kopfteil ist überschrieben mit „Allegro con fuoco, ma non troppo", der Beginn des ersten Themas ist das Motto der ganzen Fantasie, ein doppelter Daktylus: daa da dadaa da da im schnellen Tempo. Aus diesem Rhythmus ist das ganze Werk entwickelt. Als einfacher Daktylus leitet er das Thema des 2. Teils ein, in Anlehnung an das Lied, und im Finale beginnt das Fugenthema rhythmisch wie der Anfang der Fantasie im doppelten Daktylus. Nicht nur das Anfangsmotiv/Thema durchwirkt quasi das ganze Werk, sondern auch das Ende des Themas T. 14-17: anfangs ein Tremolo mit chromatischer Aufwärtsbewegung der linken Hand, danach gehämmerte Achtel mit Abschluss in Staccato-Vierteln. Abgewandelt kehrt dieses Motiv auch im Scherzo und im Finale wieder.

Richter

EMI

1963

20‘44

5

zwingend, konzentriert, kraftvoll, organisch

Richter

BMC

1963

19‘43

5

live Budapest

Gelber

EMI

1973

21‘01

5

 

Curzon

Decca

1949

21‘10

5

poetisch

Fischer, Edwin

EMI       Andante

1934

20‘21

5

Fischer verfügt über einen Sinn für die Valeurs der Komposition, I Rubati, II poetisch

Rudy

EMI

1988

21‘44

5

I Übergang zum 2.Th. einfühlsam gestaltet, III kein Presto, Trio etwas langsamer, verträumt

 

Sofronitzki, Vladimir

Brilliant

1953

20‘18

4-5

live – totale Identifikation

Pollini

DGG

1973

21‘28

4-5

Pollini denkt auch an die Bedeutung der Unterstimmen, viele Details, II ein wenig scheu, distanziert

Katchen

Decca

1957

19‘56

4-5

maskulines Klavierspiel, in den lyrischen Partien jedoch zart, II Var. 6 zu unruhig, IV Virtuosenstück – Aufnahme klanglich etwas verhangen

Perahia

Sony

1986

21‘46

4-5

in den schnellen Partien mehr kultiviert, weniger entfesselt, II Var. 2 verschiedene Ebenen gut herausgestellt, III kein Presto, Trio langsamer

Harada

audite

2010

23‘03

4-5

ein starker Auftritt, am überzeugendsten in den lyrischen Teilen, individuelle Tempi ohne störend zu wirken, Klavierklang gut eingefangen

Rubinstein

RCA

1965

21‘35

4-5

klassisch, überlegen, Extreme meidend, I kraftvoll, kein con fuoco, II gelassen, aber intensiv

Endres

Oehms

2008

20‘55

4-5

mehr dem Artistischen als dem Poetischen verpflichtet

Rösel

Capriccio

1989

20‘53

4-5

I und IV ernst und kraftvoll, II könnte etwas mehr Poesie und Delikatesse vertragen – Lautstärkedifferenzierung im unteren Bereich nicht optimal

Ciani

Ides

1969

22‘12

4-5

live – schnelle Sätze mit Drive, II sehr einfühlsam, III Trio etwas langsamer; viele Publikumsgeräusche

Brendel

Philips

1988

20‘41

4-5

 

Dalberto

Denon

1993

21‘34

4-5

lässt sich Zeit für Details, besonderer Blick auf die lyrischen Abschnitte, II Var. 4 lk. Hd.!, III kein Presto, Trio etwas grüblerisch

Kuerti

Analekta

1984

20‘42

4-5

eigenständiger Zugang zum Werk, jenseits ausgetretener Wege, hörenswert

Sofronitzki, Viviane

Hammerflügel

Cavi

2010

20‘24

4-5

kraftvolles Klavierspiel, eigene Gestaltungsideen, II fast silbriger Klang in hohen Lagen, III zu gewichtig

 

Matsuda

obligat

1995

21‘40

4

alles korrekt, mit Kraft, jedoch mit weniger Glut, Inspiration?

Fleisher

Sony

1963

19‘00

4

alles klingt leicht und locker, wie aus einem Ärmel geschüttelt, keine Geheimnisse, mehr technisch als musikalisch bewältigt

Kissin

DGG

1990

21‘32

4

I Virtuosität herausgestellt, Abschnitte mehr aneinandergereiht als aufeinander bezogen, III Trio linke Hd. nicht nur Begleitung, IV als Virtuosenstück

Leonskaja

Teldec

1988

20‘49

4

sehr kraftvoll, II Var. 1 Mittelstimmen zu laut, Var. 7 Thema glänzt nicht, III Trio buchstabiert, IV zu ruhig

Kirschnereit

Berlin Classics

2011

21‘37

4

I etwas leichtfüßig, kapriziös, jedoch auch hitzig, II zu unruhig – insgesamt etwas einseitig in Richtung Virtuosität

Planès

HMF

2002

22‘08

4

variable Tempi, I 2. Thema etwas langsamer, viele Details, II hier mangelt es etwas an Poesie, III gewichtig, kein Presto, IV korrekt

Lang

DGG

2003

22‘06

4

live - Tempo ordnet sich Ausdruck unter, athletisches Akkordspiel und rauschende Arpeggien sind sein Pläsier, Rubato-Spiel ein Erkennungsmerkmal seines Musizierens, immer auf der Suche nach „schönen Stellen", II Var. 2 aufgeplustert, V. 4 zurückhaltend, V. 5 jedoch wieder lauter, wie aufgemotzt

Brendel

Philips

1971

21‘03

4

aufgeweichte Tempi, unruhig

Schiff

ECM

1998

25‘11

4

kultiviert, meidet ausgetretene Pfade

Watts

EMI

1991

20‘42

4

kompaktes Klangbild, etwas stumpf, II Var. 5 zu kräftig, unruhig, IV etwas zu schwergewichtig, genaue Akzente

Kempff

DGG

1967

21‘05

4

interpretatorische Freiheiten längs des Notentextes, einige poetische Stellen, III zu langsam, mit Mühe

Ashkenazy

Fono   AS

 

20‘36

4

 

Edelmann

RCA

1988

23‘25

4

I nimmt sich Zeit für Nebenstimmen und harmonische Veränderungen,            III gelungenes Trio, IV etwas vordergründig virtuos

Feltsman

CBS

1978

23‘41

4

Kopfthemen im 1. und 4. Satz wie gemeißelt, II Thema zu langsam, kein Bezug zur Liedvorlage, jedoch konsequent durchgehalten

 

Borac

Avie

2004

20‘45

3-4

I wenig eigene Ideen, kleine Rubati, II etwas neutral, IV wenig Schubert

Brendel

Vox Brilliant

1959

22‘06

3-4

 

Ney

TIM

~ 1935

21‘11

3-4

klingt stumpf, höhenbeschnitten

 

Kraus, Lili

Vanguard

P 1987

21‘13

3

I Akkorde unter Pedal, soeben bewältigt, II Var. 4 etwas schneller als V. 3??,  V. 7 lk. Hd. sehr unruhig, III Allegro, vieles undeutlich

Schuchter

Tudor

1970

25‘28

3

langsam, betulich, teilweise hölzern

 

Ney

Colosseum

1964

22‘33

2-3

pianistisch nicht mehr bewältigt

Hinweise zu Interpreten und Interpretationen

Svjatoslav Richters Aufnahme der Wandererfantasie, entstanden vor mehr als 40 Jahren in einer Nachtsitzung in Paris, ist seither die beste geblieben. Zwar haben sich alle Pianisten von Rang Schuberts virtuosestem Klavierwerk angenommen und eingespielt, aber auf keiner Aufnahme wird so kraftvoll, konzentriert, teilweise entfesselt, organisch und zielgerichtet musiziert. Wenn man die ersten Töne hört, meint man schon das Ende im Sinn zu haben. 2009 machte das Label BMC Richters Konzertmitschnitte aus Budapest der Musikwelt zugänglich. Die Aufnahmen erstrecken sich über einen Zeitraum von 1954 bis 1993, mit dabei ist auch die Wandererfantasie, die im zeitlichen Umfeld der Pariser Studio-Einspielung entstand, was man sofort hört, wenn man diese kennt. Sie wird von der Live-Aufnahme jedoch nicht übertroffen, da sie klanglich nicht so sauber festgehalten wurde und bei lauten Stellen leicht klirrt, gleich zu Beginn in Takt 3 auf Eins passiert Richter ein Fehlgriff, was insgesamt jedoch nicht von Bedeutung ist. Von ähnlichem Kaliber wir Richters Studioproduktion, wenn auch letztendlich nicht ganz so zwingend, ist die Aufnahme mit dem damals noch jungen Bruno Leonardo Gelber, die zehn Jahre später ebenfalls in Paris aufgezeichnet wurde. Auch die Produktion mit Michail Rudy scheint noch stark von Richters Einspielung beeinflusst zu sein.

Der Gegenpol zu Richters Aufnahme ist die von Andràs Schiff. Er geht auf seiner CD, die übrigens sehr gut klingt, andere als die gewohnten Wege, ihm verwandt ist der kanadische Pianist Anton Kuerti. Schiff spielt langsamer, geht Details nach und spürt Melodiefetzen auf, die man bisher nicht gehört hat, insofern sehr interessant. Aber es ist die halbe Wahrheit, Schuberts Tempovorschriften werden nicht umgesetzt. Die Fantasie klingt verträumt, verzärtelt, eine Aufnahme für fortgeschrittene Hörer. Gilbert Schuchter spielt noch etwas langsamer als Schiff, er lässt sich viel Zeit mit Schuberts Musik, diese wirkt dann jedoch betulich und zäh, das Trio des Scherzos klingt recht hölzern. Vielleicht verfügte Schuchter zur Zeit der Aufnahme, das Cover verschweigt das Datum, nicht mehr über seine früheren manuellen Möglichkeiten.

Elly Ney hat die Wandererfantasie in jungen Jahren sicher kraftvoll, unverzärtelt gespielt. Die mir vorliegende Überspielung von TIM ist leider mangelhaft und gibt sicher nicht Neys Können wieder. Die Aufnahme aus den 60er Jahren kam jedoch zu spät und kann nur Ney-Fans empfohlen werden.

Bei Ashkenazy stört mich bei vielen seiner Einspielungen so auch hier der Klang seines Flügels, der an einigen Stellen blechern, dann wieder nähmaschinenhaft klingt.

Der Konzert-Mitschnitt Vladimir Sofronitzkis aus dem Jahr 1953, längst vergriffen, liegt seit geraumer Zeit in einer klanglich bereinigten Version bei Brilliant Classics vor, leider nun etwas eingedunkelt. Dieses historische Dokument lässt erleben, wie ein Künstler mit Fantasie den Notentext umzusetzen vermag. Sehr überzeugend der langsame Variationssatz, man meint Schubert am Klavier erleben zu können. Im dritten Satz findet Sofronitzki nach einem Gedächtnisfehler mittels einer improvisierten Überleitung zum Notentext zurück. Sofronitzkis Tochter Viviane ist seit wenigen Jahren auch in Mitteleuropa als Pianistin bekannt geworden, allerdings spielt sie auf Hammerflügeln, restauriert oder nachgebaut von ihrem Ehemann. Die Aufnahme der Wandererfantasie beim kleinen Label Cavi lässt aufhorchen.

Alfred Brendel hat insgesamt drei Aufnahmen vorgelegt, zwei bei Philips und eine bei Vox, die in die große Brilliant-Box mit 35 CDs aufgenommen wurde. Sie ist jedoch noch nicht auf dem künstlerischen Niveau der späteren Philips-CDs: die Tempi sind oft aufgeweicht, das Scherzo ist zu zahm, dem Spiel fehlt einfach der Biss. Von den späteren bevorzuge ich die letzte wegen ihres besseren Klangbildes und der klassischeren Lesart.

eingestellt am 26. 07. 05

neu bearbeitet und ergänzt am 25. 08. 12

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