Das Klassik-Prisma

 

 Bernd Stremmel

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Franz Schubert

 

Fantasie für Violine und Klavier C-Dur D. 934

 

Andante molto – Allegretto – Andantino (Thema mit 4 Variationen) – Allegro vivace, Allegretto, Presto

 

Die Fantasie für Violine und Klavier entstand im Jahre 1827 vermutlich für den böhmischen Geiger Josef Slawjk, der sich damals in Wien aufhielt und auch im Januar des folgenden Jahres die Uraufführung vornahm, am Hammerflügel saß Karl Maria von Bocklet. „Verwandtschaftliche“ Beziehungen zum Liederzyklus „Die Winterreise“, der in zeitlicher Nähe entstand, sind nicht zu überhören, so z. B. die jähen Stimmungswechsel: Auf der einen Seite ein zumindest äußerlich brillanter Stil, auf der anderen jedoch elegisch, in sich gekehrt und depressiv.

 

Das Werk wird selten aufgeführt, es ist im Vergleich zu den letzten Quartetten, Trios und Klaviersonaten bizarr, für den Geiger technisch eine Herausforderung, die sich nicht unbedingt mit dem jeweiligen Ausdruck deckt. Auch an das Differenzierungsvermögen des Pianisten werden höchste Anforderungen gestellt, gleich zu Beginn entwirft er mit einem andauernden Tremolando eine Klangwelt, die der nach einigen Takten einsetzenden Violine einen tragbaren Grund bietet, über den sie ihre langen klagenden Bögen spannen kann.

 

Nach einer knappen Kadenz der beiden Instrumente schließt sich ein als Allegretto bezeichneter schnellerer Satz an (a-Moll, Mittelteil in A-Dur, in der Wiederholung C-Dur). Interpreten, denen ein (äußerlich) virtuoser Vortrag wichtig ist, wählen hier ein Allegro. Feierlich zitiert das Klavier, später auch zusammen mit der Geige, die Melodie des früher komponierten Liedes „Sei mir gegrüßt“ („O du Entrissne mir und meinem Kusse, sei mir gegrüßt, sei mir geküsst“, Text von Friedrich Rückert) op. 20 Nr.1, D. 741, in As-Dur, im Original steht es in B-Dur. In diesem Lied spiegelt sich die Erinnerung an eine frühere vergangene Liebe wider. Schubert entwickelt über die Liedmelodie vier Variationen, jeweils zu zwei Teilen, die wiederholt werden sollen. Sie sind vor allem für die Violine zwar virtuos gesetzt, der Schmerz der Trennung ist jedoch immer gegenwärtig. Die vierte Variation, die im Gegensatz zu den Vorgängern, eher lyrisch gehalten ist, kommt nicht recht voran und endet, wie am Schluss des Kopfsatzes, in einer Kadenz, die nach C-Dur moduliert und jetzt erneut die Welt des Beginns herbeiruft. Nach wenigen Takten leitet sie mittels eines Crescendos zum schnellen Finale über, das für mich jedoch nur eine gezwungene Fröhlichkeit besitzt. Die Erinnerung an das Lied scheint Schubert so festzuhalten, dass er sich vor dem endgültigen Schluss der Fantasie ihm nochmals zuwendet: Wie herzzerreißend „singt“ die Geige ein letztes Mal in den Takten 657-660 „Sei mir gegrüßt, sei mir geküsst“, manche Solistinnen spielen diese Stelle sehr ausdrucksvoll (Martzy, Shiokawa, Mullova).

 

Die Wiederholungen im Variationssatz werden in der Regel beachtet. Busch, Oistrach und Hoelscher spielen jeweils nur die erste, bei Kogan fehlen sie in den Variationen zwei und drei, Kolisch verzichtet auf alle.

 

 

5

Adolf Busch

Rudolf Serkin

EMI

1931

21‘19

 

 

I Serkin gibt Busch den Vortritt, trotzdem sprechendes Tremolando, II sehr gute Balance, Wechsel von Melodie und Begleitung meisterhaft herausgearbeitet, III Atmosphäre, IV kein forciertes Tempo – partnerschaftliches Musizieren, unaufdringlicher Stil, Busch und Serkin adeln das Werk

 

5

Johanna Martzy

Jean Antonietti

Electrola     EMI    Testament

1955

28‘15

 

 

I Interpreten lassen sich Zeit, nicht wie ein Vorspiel, sondern ein selbständiger Satz, immer wunderbar geformter und kontrollierter Geigenton, II Allegretto, entspanntes Musizieren im völligem gegenseitigen Einvernehmen, sehr gute Balance, III Thema mit sehr viel Empfindung vorgetragen, kleine Rubati jeweils am Ende der Variationen sowie vor den Wiederholungen, IV Allegretto, mit überwältigender Ausdruckskraft - insgesamt mäßige Tempi, ganz nahe bei Schubert, nicht als Virtuosen-Piece verstanden

 

5

Isabelle Faust

Alexander Melnikov

HMF

2004

22‘41

 

 

I sehr gute Balance, glasklares Klangbild, II ganz locker vorgetragen, souverän, spritzig, Wechsel von Melodie und Begleitung meisterhaft herausgearbeitet, III fantasievoller Umgang mit dem Notentext, IV triumphales Finale – ganz leichter Hallanteil

 

5

Gidon Kremer

Elena Kremer

Philips

P 1980

24‘38

 

 

 

5

Antje Weithaas

Silke Avenhaus

Avi-musik

2005

25‘22

 

 

in bestem Kammermusikstil, sehr differenziert, spannungsintensiv, jenseits aller Routine, Interpreten lassen große Sensibilität für Schuberts Musik spüren, schlackenloser Geigenton

 

5

Yuuko Shiokawa

Andras Schiff

ECM

1998

26‘12

 

 

I Geige kommt wie aus dem Nichts, sehr ruhig und zart, II nuancenreich, ungekünstelt, kammermusikalischer Ansatz, III ruhig, intim, überlegen, Schiff holt alles aus der Klavierstimme heraus, Arpeggien T. 466-468, IV beredt gespielter Allegretto-Einschub T. 639 ff

 

5

Viktoria Mullova

Katja Labeque

Onyx

P 2004

24‘29

 

 

I über dem ganzen Satz liegt Spannung, II im Allegro-Tempo, Geige klingt bei hohen Tönen etwas spitz, vital, virtuoser Ansatz, auch in den Variationen von Satz III, überzeugend gemacht, in Variation zwei: Klavier hebt Thema im Bass hervor, IV ausdrucksvoller Allegretto-Einschub T. 639 ff

 

5

Julia Fischer

Martin Helmchen

Pentatone

2009

25‘03

 

 

insgesamt sehr schlank musiziert, überzeugende Differenzierung, mit gestalterischem Ernst, unaufdringlich dargebotene Virtuosität – I Geige kommt wie aus dem Nichts, III Pianist hält die Staccati der Achtel in Variation eins konsequent bei, T. 466-468 Akkorde arpeggiert

 

 

   

 

4-5

Gidon Kremer

Valery Afanassieff

DGG

1990

25‘39

 

 

 

4-5

Jaime Laredo

Stephanie Brown

Dorian

1989

26‘03

 

 

I Geige kommt anfangs wie aus dem Nichts, viel Atmosphäre, II gutes Tempo, jedoch etwas langatmig, III Thema fast Adagio, Variation 1: Achtel im Klavier immer staccato, jeweils kurze Pause von Variation zu Variation, auch zwischen den Wiederholungen, das bremst jedoch etwas den Fluss der Musik, IV Geige klingt hier etwas angestrengt – abgesehen von den genannten Einwänden überzeugende Gestaltung, guter Klang

 

4-5

David Oistrach

Frida Bauer

Melodya      Eurodisc

1970

21‘35

 

 

Frida Bauer versiert, letztlich jedoch keine Partnerschaft wie vorher mit Lev Oborin, da künstlerisch nicht auf Oistrachs Stufe – II sehr lebendig, Solistin agiert etwas mechanisch, IV etwas angestrengt, wenig Vivace zu spüren

 

4-5

Pamela Frank

Claude Frank

Arte Nova

1996

26‘02

 

 

I ruhig und spannungsintensiv, schlanker Geigenton, saubere Tongebung, wenig Vibrato, II partnerschaftliches Musizieren, IV maßvoll – im besten Kammermusikstil dargeboten, Instrumente bestens aufeinander abgestimmt, sprechende Artikulation, virtuose Sichtweise wird nicht angestrebt, Geige insgesamt etwas zurückhaltend, etwas spröder Klang

 

4-5

Carolin Widmann

Alexander Lonquich

ECM

2010

24‘56

 

 

sauberes Musizieren, sehr gutes Miteinander, Kammermusik, nicht das Virtuose herausstreichend, sehr gute Differenzierung, Balance etwas zum Flügel hin verschoben, ab dem Variationssatz jedoch besser

 

4-5

Szymon Goldberg

Radu Lupu

Decca

1979

25‘16

 

 

I gute Balance, Geige mit mehr Vibrato als heute üblich, Lupu gliedert anfangs die Klangflächen, II ein wenig vorsichtig vorgetragen, III Variationen durch kleine Pausen getrennt, IV Violine unmittelbar vor dem Vivace unsauber, mäßiges Tempo, ohne Überschwang

 

 

   

 

4

Renaud Capuçon

Jérôme Ducros

Virgin

P 1999

25‘41

 

 

I klar, anfangs zu laut, lang gezogene Töne der Geige ohne Vibrato, kein inniges Miteinander, II und IV wie heruntergespielt, dynamische Differenzierung vor allem im p-Bereich in allen Sätzen wenig ausgeprägt, III sauber musiziert, jedoch etwas glatt

 

4

Mirijam Contzen

Herbert Schuch

Oehms

2006

24‘56

 

 

insgesamt souverän, teilweise auch lustbetont, beim Musizieren jedoch oft viel Druck, man vermisst die Leichtigkeit, Geige teilweise mit viel Bogendruck, dynamische Differenzierung stellenweise zu sorglos, Balance manchmal zugunsten des Klaviers verschoben

 

4

Edith Peinemann

Leonard Hokanson

Bayer Records

1988

25‘49

 

 

I Hokanson stellt Klavierpart heraus, soweit es die Balance erlaubt, II/III dynamische Differenzierung im p-Bereich zu großzügig, weniger locker und geschliffen, IV (zu) viel Bogendruck vor Satzwechsel (T. 492), kaum Vivace, ohne Eleganz

 

4

Ulf Hoelscher

Karl Engel

EMI

1978

23‘26

 

 

I etwas trocken musiziert, Triller des Klaviers in den Takten 19 und 21 zu schnell, II vital, jedoch wenig delikat (gilt auch für die übrigen Sätze), IV trocken und etwas handfest – Schubert, wie von der Stange

 

 

   

 

3-4

Sarah Christian

Lilit Grigoryan

Genuin

2016

27‘11

 

 

gutes Zusammenspiel, Musik jedoch zu sehr referiert, ohne dass ein Funke überspringt, interpretatorischer Gleichlauf – I im einleitenden Tremolando viele Töne, jedoch zu wenig Klang, II wie durchgespielt, wenig elastisch, III Klavierbass in Variation 2 unterbelichtet, p?

 

3-4

Yehudi Menuhin

Louis Kentner

EMI

1958

25‘06

 

 

I Kentner anfangs zu laut, rhythmische Bassfiguren dagegen unterbelichtet, II Intonation der Geige nicht immer top, zu mechanisch klingendes Musizieren, III Variationen werden etwas langsamer (vorsichtiger?) vorgetragen als üblich, IV zu starr, nicht fröhlich

 

3-4

Zino Francescatti

Eugenio Bagnoli

CBS   Sony

1961

22‘45

 

 

I Klangteppich des Klaviers anfangs nicht durchgehend gleichmäßig, weniger Atmosphäre, II Geige bei exponierten Tönen und Staccato etwas kratzig, auch in Satz 4, III Geige beim Thema (zu) viel Bogendruck, Klavier nicht immer hinreichend deutlich – Pianist eher in der Rolle des Begleiters, fällt besonders im Variations-Satz auf; insgesamt uneinheitliches Bild

 

3-4

Hedi Gigler

Wilhelm Kempff

Orfeo

1960

26‘01

 

 

WDR-Produktion – schlanker, jedoch wenig wandlungsfähiger Geigenton, kaum Vibrato, Balance manchmal zugunsten des Flügels verschoben, etwas hölzernes Musizieren – Kempffs Klavierspiel vermittelt trotz allem immer wieder beglückende Momente – III moderates Tempo, entspanntes Musizieren, Geige bei Tempo 1 zu laut, Crescendo am Ende zu früh und zu deutlich begonnen, IV Kempff verliert in den Takten 509/10 die Kontrolle, gelungener Allegretto-Einschub

 

3-4

Leonid Kogan

Samuel Alumian

Brilliant

1975

23‘38

 

 

live – Kogan hier nicht (mehr) auf dem geigerischen Niveau der 50er/60er Jahre, stellenweise aufblühender Geigenklang, andererseits aber auch scharf und nicht immer sauber gespielt; Tribut des Alters oder wenig optimale Tagesform? – virtuoser Ansatz, im Variationssatz, hier besonders bei Variation eins übernimmt Kogan nicht immer Schuberts Artikulationsvorstellungen – viele Publikumsstörungen, leicht kompakter Klang

 

 

 

 

3

Isaac Stern

Daniel Barenboim

CBS    Sony

1988

25‘50

 

 

routinierter Vortrag, ziemlich lustlos, Einheitsdynamik bewegt sich hauptsächlich zwischen p und mf, „rauchiger Geigenton“, Stern verlässt sich auf sein Potential aus vergangenen Jahren, Barenboim setzt kaum Akzente

 

3

Rudolf Kolisch

Paul Badura-Skoda

archiphon

1966

22‘19

 

 

live, Dokument aus der Spätzeit des großen Musikers und Lehrers Kolisch, von dem kaum Aufnahmen greifbar sind – Kolisch bemüht sich Schuberts Fantasie gerecht zu werden, scheitert aber letztlich an den kaum noch oder nicht mehr vorhandenen spieltechnischen Möglichkeiten sowie der nachlassenden Kraft, wie z. B. nicht immer saubere Intonation, flackerndes Vibrato, Unterbrechungen beim Halten langer Töne; Badura-Skoda versucht gegenzusteuern – diszipliniertes Publikum

 

 

   

 

2-3

Jascha Heifetz

Brook Smith

RCA

1968

19‘57

 

 

I lebendiger Dialog, II als Virtuosenstück für Violine und Klavier verstanden, III Heifetz spielt in Variation zwei nicht durchgehend staccato wie von Schubert verlangt, Ende T. 480 ff. zu schmalzig, hatte er etwa Wieniawski im Sinn? IV Presto endet verkürzt T. 689! – mehr Heifetz als Schubert, Flügel klingt etwas stumpf

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 Hinweise zu Interpreten und Interpretationen

 

Gidon Kremer

 

Zwei Studio-Produktionen liegen mit dem litauischen Geiger vor. Auf der Philips-Platte ist seine (damalige) Ehefrau Elena (Bashkirova)Partnerin am Flügel, später wählte er Valery Afanassieff zu seinem Begleiter. Elena Kremer beginnt den pp-Anfang unruhiger als Afanassieff, der sehr egal, trocken, ruhig und ausdrucksvoll agiert, hier setzt Kremers Geige wie aus dem Nichts ein. Der Violinpart wird in beiden Aufnahmen sehr differenziert gestaltet, auffallend sind die sauber gegriffenen Akkorde, wie man sie nicht alle Tage hört. In der zweiten Aufnahme setzen die Künstler im zweiten Satz in T. 89 sowie T. 97 ganz kurz ab (später entsprechend T. 225 und T. 233), das verleiht der Musik hier etwas Drängendes. Die Rückführung zum Thema gelingt in der ersten Aufnahme überzeugender. Mit süßem Ton steigt Kremer in das Variationsthema ein, auf der DGG-CD legt er noch mehr Ausdruck hinein. Immer wieder trifft man hier auch auf kleine Rubati, die die Musik gliedern helfen (sollen). Afanassieff lässt bei T. 458 (Beginn der vierten Variation) durch eine fantasievolle Artikulation aufhorchen, arpeggiert dann in den Takten 465-468 alle Akkorde. Erwähnt sei noch das tolle Crescendo – in beiden Aufnahmen – vor dem Beginn des Finales. Dieses wird auf der Philips-Platte, vermutlich bewusst, etwas unruhig gespielt, die Kremers wollten keine schöne Oberfläche, die nicht den Kern dieser Musik trifft. Im Vergleich der beiden Aufnahmen muss man feststellen, dass auf der ersten Platte selbstverständlicher musiziert wird, bei natürlichem Klangbild. Die DGG-CD klingt wie klinisch sauber, das scheint sich teilweise auch auf die Musik übertragen zu haben, die hier mehr von der jeweiligen Persönlichkeit der beiden Interpreten geprägt und dabei teilweise etwas überzeichnet wird. Die Aufnahme könnte man als Gegenstück zur Aufnahme von Busch/Serkin sehen.

 

eingestellt am 09.05.22

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