Das Klassik-Prisma |
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Bernd
Stremmel |
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Der Nussknacker –
Suite op. 71a
Miniatur-Ouvertüre – MO
Marsch – MA
Tanz der Zuckerfee – ZF
Russischer Tanz – RT
Arabischer Tanz – AT
Chinesischer Tanz – CT
Tanz der Rohrflöten – Rfl
Blumenwalzer – BW
Die Nussknacker-Suite ist eine Konzertfassung
des gleichnamigen dreiaktigen Balletts. Nach der Miniaturouvertüre folgt aus
dem 1. Akt der Marsch, die übrigen Tänze stammen aus dem 2. Akt und der
bekannte Blumenwalzer ist dem 3. Akt entnommen.
Die Miniaturouvertüre ist in einer
verkürzten Sonatenform mit zwei Themen gearbeitet, jedoch ohne Durchführung.
Der Reigen der charakteristischen Tänze, die alle weniger als drei Minuten
dauern, eröffnet ein Marsch, dreiteilig gearbeitet wie auch der Russische Tanz
und der Tanz der Rohrflöten.
Im Tanz der Zuckerfee setzt
Tschaikowsky zum ersten Mal ein neues Instrument ein, die Celesta.
Bei ihr schlagen Filzhämmer auf Klangplatten aus Stahl, wobei die Hämmer
mittels einer klassischen Flügel-Klaviatur durch Tastendruck bewegt werden. In
hoher Lage klingt die Celesta wie ein Glockenspiel.
Dem Arabischen Tanz verleiht ein Tamburin ein besonderes Kolorit, leider lassen
einige Dirigententen das Instrument so leise spielen,
dass es seine Klangfarbe nicht einbringen kann. Der kürzeste Satz ist der
Chinesische Tanz. Charakteristisch sind zwei Fagotte, die die Noten f und b bzw. nur d vom ersten
bis zum letzten Takt spielen, sie sollten sich allerdings nicht zu sehr
vordrängen. Darüber erheben sich zwei Piccolo-Flöten mit Melodien aus
Tonleitern und Trillern. Flöten, jetzt wieder die normalen Querflöten,
bestimmen auch den Klang im Tanz der Rohrflöten.
Komplizierter als die genannten Tänze
ist in formaler Hinsicht der abschließende Blumenwalzer gearbeitet. Er beginnt
mit einer Einleitung, in der schon auf das bald folgende Hauptthema hingewiesen
wird. Viele Dirigenten lassen sie etwas langsamer spielen, obwohl die Partitur
dazu keinen Hinweis gibt. Tschaikowsky erweitert hier das Instrumentarium um
eine Harfe, der ab T. 16 eine Solostelle zugewiesen ist, nach deren leisen Ende
die eigentliche Walzermusik beginnt. Einige Dirigenten vertrauen hier nicht
Tschaikowskys Erfindungskraft, sondern verhelfen in Form einer großen Kadenz
der Harfinistin oder dem Harfinisten
zu einem großen Auftritt, wie Stokowski und Knappertsbusch-50. Auch Toscanini
und Leitner lassen nicht genau nach Notenvorlage spielen. In dem ganzen
Walzer-Satz fügt der Komponist noch einen gesonderten Walzer im Stil von Johann
Strauß‘ ein, der dreimal, jeweils mit Wiederholung, gespielt werden soll, hier
als W1, W2 und W3 bezeichnet. Der beliebte Blumenwalzer endet glanzvoll mit
einer Apotheose des Hauptthemas.
5 |
Leonard
Bernstein |
New York Philharmonic
Orchestra |
CBS Sony |
1969 |
21‘00 |
|
Bernstein stellt die farbige Instrumentierung
heraus, musikantische Darstellung; vital, rhythmisch – RT verschiedene
Kompositionsebenen freigelegt, AT sehr gute Transparenz, dezentes Tamburin,
genau richtig, Rfl Verzicht auf Rubati,
BW überzeugendes Harfensolo, MO dumpfe Hintergrundgeräusche |
4-5 |
Igor Markevitch |
Philharmonia Orchestra London |
EMI
Testament |
1959 |
19‘07 |
|
immer sehr klar und locker,
plastisches Musizieren; Musik mehr russisch, manchmal derb, geprägt, als europäisch
– MO lebendig, tänzerisch, transparent, MA endet bereits nach T. 64 statt T.
88, Markevitch bringt sonst vernachlässigte
Nebenstimmen heraus, BW vital, schwungvoll, Sprung von T. 81 zu T. 132. W3
ohne Wiederholung – Herabstufung aufgrund der Kürzungen |
||||
4-5 |
Adrian
Boult |
New Symphony
Orchestra of London |
Chesky |
1960 |
21‘38 |
|
Boult durchleuchtet die
Partitur, Sinn für die Stimmungen in den einzelnen Sätzen, farbiges
Klangbild – MO schnell, Streicher im Vordergrund,
MA und ZF immer deutliches Musizieren, insbesondere auch die Trompeten am
Ende von RT |
||||
4-5 |
Neville
Marriner |
Academy of St.Martin-in-the-Fields |
Philips |
1982 |
22‘41 |
|
gepflegte Interpretation, immer differenziert
dargeboten, sehr gute Balance und Transparenz, Dirigent achtet auf Details |
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4-5 |
Georg
Solti |
Chicago Symphony
Orchestra |
Decca |
1986 |
23‘07
|
|
akzentuiert musiziert, farbiges Klangbild,
sehr gute Transparenz und Balance; allerdings könnte die Musik insgesamt
etwas lockerer und leichter gespielt werden |
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4-5 |
Claudio
Abbado |
Chicago Symphony
Orchestra |
CBS
Sony |
1991 |
21‘59 |
|
Interpretation auf hohem Niveau,
sehr durchsichtiges Klangbild – MO ohne das letzte Quäntchen an Hingabe,
Fanfaren der Oboen weniger deutlich, ZF etwas kühl und distanziert, RT sehr
lebendig, AT Tamburin leiser, BW langsamer, mehr sachlich als emotional beteiligt |
||||
4-5 |
Arturo
Toscanini |
NBC Symphony
Orchestra |
RCA |
1951 |
21‘22 |
|
insgesamt lebendig, Toscanini bringt
Tschaikowskys farbiges Instrumentarium gut heraus, durchsichtiges Klangbild –
MO prägnantes und auch plakatives Musizieren, FZ stimmungsvoll, RT virtuos, Rfl Toscanini bringt hier die Streicher mehr ein als
andere, BW zusätzliche Harfen-Kadenz vor Walzerbeginn, bei der Wiederholung
der Walzer werden die Viertel der Streicher als Variante etwas verkürzt - nur MO: ständiges dumpfes
Hintergrundgeräusch |
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4-5 |
Mstislaw Rostropovitch |
Berliner Philharmoniker |
DGG |
1978 |
22‘58 |
|
MO Geigen und Bratschen T. 171 etwas
verklebt, MA T. 49 zu laut und zu grell, saftiger Klang, ZF mit viel
Inspiration, RT Drive kombiniert mir Transparenz, AT Tamburin weit weg,
schwerblütig, an der Grenze zur Sentimentalität, Rfl
musikantisch, BW kein Tanz, eher ein Konzertstück, kaum Abwechslung; auch
etwas behäbig |
4 |
Semyon Bychkov |
Berliner Philharmoniker |
Philips |
1986 |
22‘12 |
|
Interpretationsgefälle zwischen den
einzelnen Stücken: sehr gut die ersten beiden, etwas harmlos ZF und BW, die übrigen
dazwischen, AT Tamburin weit weg – warmes Klangbild |
||||
4 |
Herbert
von Karajan |
Berliner Philharmoniker |
DGG |
1966 |
23‘17 |
|
gediegene Interpretation, lässt
nirgends aufhorchen, farbiges und transparentes Klangbild – RT durchgepeitscht,
dennoch Trompeten ab T. 73 einigermaßen deutlich, CT und BW zu langsam, hier
die drei „Strauß“-Walzer besonders herausgestellt |
||||
4 |
Herbert
von Karajan |
Philharmonia Orchestra London |
EMI Warner |
1952 |
23‘00 |
|
im Großen und Ganzen wie 1966,
jedoch flächiger Klang, Oberstimmen-betontes Musizieren – MO sachlich |
||||
4 |
Leo Borchard |
Berliner Philharmoniker |
Telefunken |
1934/35 |
21‘55 |
|
ein deutscher Tschaikowsky: genau,
ausgewogen, farbig, transparent, jedoch ohne ein nerviges Espressivo
oder Gefühlswärme – MO: am Anfang Geigen kurz und bestimmt, CT: Fagotte zu
breit und zu stark – Geräusche der Schellacks; weder Testament als auch Tahra bringen die komplette Suite, obwohl auf beiden CDs
der Platz ausgereicht hätte: Bei Testament fehlt der BW, bei Tahra ZF und Rfl |
||||
4 |
Zubin Mehta |
Israel Philharmonic
Orchestra |
Decca |
1979 |
22‘19 |
|
korrektes Musizieren, insgesamt
etwas wenig Spannung, schönes farbiges Klangbild, sehr gute Transparenz |
||||
4 |
Sergiu
Celibidache |
London Philharmonic
Orchestra |
Decca |
1948 |
22‘39 |
|
immer deutliches Musizieren,
teilweise jugendlich-frische Tempi – MO agil musiziert, AT Tamburin sehr
leise, BW langsamer Beginn, Tempo steigert sich jedoch während des Satzes,
bei C Streicher con anima e passionato – sehr helles flächiges Klangbild
der frühen Decca-Jahre; das häufige Knistern und Knacken lassen an eine eins
zu eins-Übertragung von einer
ursprünglichen Schellackplatte denken |
||||
4 |
Hans Knappertsbusch |
Wiener Philharmoniker |
Decca |
1960 |
22‘34 |
|
s. u. |
||||
4 |
Jos
van Immerseel |
Anima Eterna |
ZigZag |
2000 |
22‘53 |
|
live, HIP-Interpretation; nicht
durchgehend auf demselben Niveau, Immerseel stellt
die farbige Instrumentation heraus, jedoch teilweise auch etwas steril oder distanziert;
Bläser-freundliches Klangbild, sehr gute Transparenz – RT gut, AT
Stimmführungen gut zu verfolgen, stimmungsvoll, BW Harfensolo mit starkem
Rubato, klingt beinahe wie eine Kadenz, mäßiges Tempo |
||||
4 |
Roger
Norrington |
SWR Sinfonie-Orchester Stuttgart |
hänssler |
2008 |
23‘08 |
|
HIP-Interpretation – pointiert
artikuliert, etwas trocken und asketisch, eher sachlich nüchtern als
temperamentvoll – nur CT mit einem Lächeln, sehr gute Transparenz und Balance |
3-4 |
Leopold
Ludwig |
Symphonie-Orchester des Bayerischen
Rundfunks |
EMI |
1966 |
22‘58 |
|
Interpretation mehr beschaulich als
dramatisch, klares Klangbild trotz hohem Hall-Anteil – MO etwas breit,
weniger Spannung, RT schmissig, AT Tamburin mehr als Rhythmus denn als
Klangfarbe, CT ohne Esprit, zu schwerfällig, BW Harfe ohne Pep, bei der
Wiederholung in W1 und W2 jeweils erstes Viertel der Hörner als zwei Achtel,
auch T. 180 ff |
||||
3-4 |
Ferdinand
Leitner |
Berliner Philharmoniker |
DGG |
1959 |
22‘32 |
|
gediegen, ohne Pep, nur wie ein
Pflichtstück, akademisch blass |
||||
3-4 |
Hans Knappertsbusch |
Berliner Philharmoniker |
audite |
1950 |
23‘16 |
|
live, s. u. |
3 |
Leopold
Stokowski |
Philadelphia Orchestra |
Victor Andante |
1926 |
19‘43 |
|
Stokowski hilft Tschaikowsky durch
Verbesserungen der Partitur: MO Sprung von T. 58 zu T. 70 und von T. 77 zu T. 85, RT Schlagzeug bereits ab
T. 1 AT übertriebene Portamenti der Geigen, tiefe Streicher klanglich
bevorzugt, BW Harfenstelle T. 16 ff neu komponiert, W1 und W2 ohne
Wiederholung – weniger transparent bei zunehmender Instrumentenanzahl –
ständiges Rauschen der Schellackplatten |
||||
3 |
Leopold
Stokowski |
Philadelphia Orchestra |
Victor Dutton |
1934 |
21‘03 |
|
klangliche Verbesserung, Stokowskis Eingriffe auch hier |
Hinweise
zu Interpreten und Interpretationen
Hans
Knappertsbusch
Bei Hans Knappertsbusch
denkt man sogleich an die Komponisten Wagner, Bruckner, Beethoven, Brahms und
Richard Strauss, sie waren seine Hausgötter und ihre
Werke standen immer wieder auf seinen Programmen. Dass der Dirigent auch Stücke
der „klassischen leichten Muse“ von Zeit zu Zeit aufführte, ist vielen kaum
bekannt. Das Beiheft der audite-CD-Box berichtet,
dass der Kna von den 14 Konzerten mit den Berliner
Philharmonikern in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts allein drei
mit populärer Klassik bestritt. Sie waren vor allem der Wiener Strauß-Dynastie
gewidmet und ihrem kompositorischen Umfeld, darin fand sich aber auch Tschaikowkys Nussknacker-Suite, die jetzt in der oben
erwähnten CD-Box neben Sinfonien von Bruckner, Beethoven und Schubert zu finden
ist, live mitgeschnitten im Berliner Titania-Palast 1950. Hier ist der Dirigent
engagiert und aufmerksam am Werke. Leider entwertet die ungenügende Akustik des
ehemaligen Kinos sowie ständiges Husten und Schnaufen den Mitschnitt. Dass die Celesta im „Tanz der Zuckerfee“ oft zu leise spielt und der
Dialog mit den Streichern nicht stattfindet, muss gewiss diesen Umständen
zugesprochen werden. Beim „Russischen Tanz“ ist der Anfang verwackelt, auch
anderswo fehlt der letzte Schliff, z. B. im „Blumenwalzer“ bei Abschnitt C.
Warum Knappertsbusch das Harfensolo zu Beginn dieses
Satzes als Kadenz ausführen lässt, will kaum einleuchten.
In einem viel besseren Gewand kommt
eine Studio-Einspielung der Nussknacker-Suite mit den Wiener Philharmonikern
zehn Jahre später daher. Hier teilt sich Knas
Auffassung viel mehr mit. Im Finalsatz spielt die Harfe jetzt nach
Tschaikowskys Noten. Zuletzt sei noch angemerkt, dass man als Hörer die etwas
langsameren Tempi des Dirigenten, hier besonders im „Blumenwalzer“ mögen sollte.
eingestellt
am 11.12.17