Das Klassik-Prisma |
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Bernd Stremmel |
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Peter
Tschaikowsky
5. Sinfonie e-Moll op. 64
Andante, Allegro con anima – Andante cantabile, con alcuna licenza –
Valse, Allegro moderato – Andante maestoso, Allegro vivace
Seit mehr als einem Jahrhundert steht Tschaikowskys
5. Sinfonie in der Gunst des Publikums ganz obenan. Der Komponist zweifelte
einige Jahre an seinem Werk, erst umjubelnde Aufführungen unter seiner Leitung
auch im Ausland führten bei ihm zu einem Umdenken in Bezug auf den Wert seiner
Komposition. Die 5. Sinfonie wird häufig als Tschaikowskys Schicksals-Sinfonie
apostrophiert, das Schicksalsthema erscheint gleich zu Beginn des Kopfsatzes,
Klarinette mit Streicherbegleitung, und zieht sich durch die ganze Sinfonie.
Zweimal begegnet man ihm im 2. Satz, etwa in der Satzmitte und kurz vor
Satzschluss bricht es im dreifachen forte unvermittelt herein, im 3. Satz auch
vor Satzende, jetzt jedoch sehr leise. Auch das Finale wird mit diesem Thema
eingeleitet, nun aber in Dur, und nach siegreichen Kämpfen darf es wie in einem
Triumphmarsch das Werk strahlend beenden. Dann ist es höchste Zeit für das
beglückte Publikum. Im Konzertsaal ist diese Sinfonie am Programmende ein
todsicherer Treffer.
In den Ecksätzen nach der jeweiligen langsamen
Einleitung bedient sich der Komponist der Sonatenform, jedoch nicht im strengen
klassischen Sinn, es ist mehr eine äußere Organisationsform, das heißt, dass
die Themen wechselnd aneinandergereiht werden, eine motivisch-thematische
Arbeit findet nur in Ansätzen statt. Damit steht Tschaikowsky jedoch nicht
allein unter den Komponisten der Romantik.
Der Beginn des 1. Satzes sollte nach der Partitur
nicht als Adagio gespielt werden, sondern im Andante-Tempo. Das dritte
Auftreten des Schicksalsthemas (T. 21-30) ist dynamisch subtil gestaltet: Takt
für Takt modifiziert der Komponist die Lautstärke. Tschaikowskys Vorgaben
erfüllen Klemperer, Szell, Matacic, Kletzki, Karajan-71 und -74, Dutoit, Järvi, Norrington und
Muti. Das Seitenthema der Streicher (T. 116 – 127) wird von kurzen
herabfallenden Achtel-Noten der Holzbläser unterbrochen, meist hört man nur die
beiden ersten Noten, Markevitch, Stokowski und
Sinopoli bringen jedoch mehr. Viel Weltschmerz legen Mitropoulos, Matacic, Bernstein, Sinopoli und vor allem Stokowski in die
folgenden vier Takte 128-130, poco meno animato. Letztgenannter Maestro verkürzt
(=strafft) die Exposition wie die Reprise um jeweils vier Takte.
Den 2. Satz hat der Autor des Booklets von Masurs Teldec-CD als „Lied ewiger Sehnsucht“ bezeichnet,
vielleicht dachte er beim Schreiben an das Hornsolo
nach den Streicherakkorden oder an das folgende Solo der Oboe in Fis-Dur (T.
24), das entfernt an Wagners Tristan (2. Akt) erinnert. Die 16 Streicherakkorde
werden von vielen Dirigenten als selbstständige Einleitung verstanden, danach
beginnt dann das schon genannte Hornsolo. Neeme Järvi und Sinopoli z. B. sehen das anders: das Horn
setzt auf den letzten D-Dur-Akkord auf und entwickelt sein Thema, während die
Streicher weiter begleiten, jedoch nicht mehr in dem starren Metrum wie zuvor,
und hiermit die Musik in Fluss bringen. Leider spielt die das Horn begleitende
Klarinette oft sehr schüchtern, als traue sie sich nicht. Beim ersten Auftreten
des Schicksalsthemas (T. 99 ff.) heben Mrawinsky,
Bernstein-DG, Kubelik, Nelson, Gatti und Pletnjew
Bass-Posaune und Bass-Tuba kräftig hervor, sie können jedoch auch nicht
verhindern, dass die Musik auf unaufgelösten Sekundakkorden stehenbleibt. Die
Lösung gibt es dann einen Takt später (T. 112), jedoch nicht bei sehr vielen
Interpretationen. Hier sollte die Erregung von zuvor nachhallen, vielleicht
Betroffenheit vermitteln, entsprechend dürfen die Pizzicati
der Streicher nicht leise und gepflegt erklingen, zumindest in den drei ersten
Akkorden sollten das Besondere spürbar sein, wie bei Matacic,
Sinopoli, Szell und Furtwängler. Bei der Übertragung der Aufnahme von
Acetatplatten (Plattenwechsel) auf CD entstand eine viel längere Pause als von
Furtwängler im Konzert gebracht. Aufmerksamen Tontechnikern wäre diese
ärgerliche Nachlässigkeit nicht durchgegangen. Zuletzt noch eine Replik zu Mrawinsky, bei ihm klingen die Pizzicato-Akkorde eher
nachdenklich, vielleicht betroffen.
Den 3. Satz hat Tschaikowsky als Valse
bezeichnet, sicher dachte er an eine der vielen Walzerszenen aus einem seiner
Ballette, leicht und locker, keinerlei Tiefsinn suchend, sollte das kleine
Stück interpretiert werden. Auch in diesem Satz gibt es wieder ein
Klarinetten-Solo (die Klarinette ist in diesem Werk das heimliche
Hauptinstrument), neben den begleitenden Streichern schreibt Tschaikowsky als
Farbtupfer an mehreren Stellen einzelne leise Töne der gestopften Hörner,
sollte etwa damit an das Schicksal erinnert werden? Sehr viele Dirigenten
„vergessen“ die gestopften Hörner nicht: Svetlanov,
Wand, Sinopoli, Dudamel, Jansons, Pappano,
Solti-live, Bernstein-DG, Kubelik, Järvi, Muti, Norrington und Maazel.
Auch das Finale beginnt wieder mit dem
Schicksalsthema, nun aber in Dur. Das folgende Allegro vivace im alla-breve-Takt darf nicht zu langsam gespielt
werden, woran viele Aufnahmen leider scheitern. Manche Dirigenten geben hier
ein schnelles Tempo vor, vergessen dann aber ihre ursprüngliche Absicht,
folglich sinkt die Spannung. Eine Herausforderung für die Interpreten ist auch
die formale Anlage als Sonatensatz mit einer jeweils langen Exposition,
Durchführung und Reprise. Letztere hält kaum Überraschungen vor und kann bei
mäßigem Tempo leicht langatmig klingen. Um das zu vermeiden, greifen die
„alten“ Dirigenten dabei zu Kürzungen im Notentext: Stokowski springt von T.
186 in der Durchführung zu T. 202 und lässt bereits früher drei Takte aus, Mengelberg von T. 218 zu T. 324, dann noch einmal im
finalen Triumphmarsch von T. 472 zu T. 490, Rodzinski
und Szell von T. 210 zu T. 316, Furtwängler von T. 218 zu T. 324, van Kempen
fügt nach T. 217 nochmals die Takte 202-209 und springt dann in den Takt 316.
Eine Problemstelle im öffentlichen Konzert war zu früheren Zeiten der
H-Dur-Abschluss in T. 497/80. Nichtkenner der Sinfonie klatschten danach, da
sie glaubten, die Sinfonie sei zu Ende. Stokowski hilft sich damit, dass er die
Pauke weiterspielen lässt bzw. die Takte
467-471 streicht. Paul van Kempen greift zu einem Kniff und lässt das 3. Horn
eine große Sexte (es = klingend a) spielen, damit erzeugt er einen
unaufgelösten Sekundakkord und die Unwissenden merken, dass noch etwas kommt.
Das i-Tüpfelchen sind die beiden Beckenschläge in den Takten 502 und 503, eine
holländische Spezialität? Bereits Mengelberg bringt
in T. 502 den Beckenschlag.
Ohne Zweifel verstoßen diese Operationen gegen den in
der Partitur niedergelegten Willen des Komponisten, eine Verurteilung dieser
Vorgehensweise halte ich jedoch für nicht angebracht, dafür waren Tschaikowskys
Selbstzweifel seinem Werk gegenüber doch sehr stark, zumindest am Anfang.
Dimitri Mitropoulos |
New York Philharmonic Orchestra |
CBS
Sony |
1954 |
42‘46 |
|
|
I E Andante!, HT
bewegt, pulsierend, animato, II ausdrucksvolle Spannungsbögen, Klarinette und
Fagott T. 28 f lassen aufhorchen, III sehr lebendig, pulsierend, IV souverän,
animato – transparentes Klangbild, keine verschleppten Tempi, Nebenstimmen
immer einbezogen |
||||
Georg Solti |
Chicago Symphony Orchestra |
Decca |
1987 |
47‘12 |
|
|
▼ |
||||
5 |
Georg Solti |
London Symphony
Orchestra |
Andante |
1994 |
43‘44 |
|
live, ▼ |
||||
5 |
Igor Markevitch |
London Symphony
Orchestra |
Philips |
1966 |
43‘09 |
|
Tschaikowsky für
Tsch.-Verächter: Markevitch legt größten Wert auf
die Darstellung der Musik als auf irgendwelche Inhalte; Klarheit, Präzision,
nicht demonstrativ auftrumpfend |
||||
5 |
Ferenc Fricsay |
Berliner
Philharmoniker |
DGG |
1949 |
44‘15 |
|
▼ |
||||
5 |
Ferenc Fricsay |
Radio-Sinfonie-Orchester
Berlin |
audite |
1957 |
43‘50 |
|
live, ▼ |
||||
5 |
Jewgenij Mrawinsky |
Leningrader
Philharmonie |
DGG |
1960 |
42‘43 |
|
▼ |
||||
5 |
Jewgenij Mrawinsky |
Leningrader
Philharmonie |
DGG |
1956 |
43‘41 |
|
▼ |
||||
5 |
George Szell |
Cleveland Orchestra |
CBS Sony |
1959 |
45‘39 |
|
▼ |
||||
5 |
Josef Krips |
Wiener
Philharmoniker |
Decca |
1958 |
44‘52 |
|
I bewegt, con anima, II
einleitende Akkorde schlicht, keine vermeintliche Bedeutung, HT immer bewegt,
III man spürt den Tanzcharakter, IV mit großer Vitalität, mitreisend – sehr
transparenter Klang, auch die kleinste Stimme ist immer nachzuhören |
||||
5 |
Giuseppe
Sinopoli |
Philharmonia Orchestra London |
DGG |
1992 |
45‘17 |
|
I E herb,
tiefes Ausloten des Notentextes, HT aufgewühlt, energetisch, II con anima, mit
Nachdruck, III farbenreich, inspiriert, Nebenstimmen nicht übersehend, IV
Allegro vivace wie explodierend, immer pulsierend, pointiert, souverän |
||||
5 |
Jewgenij Svetlanov |
Staatliches
Sinfonie-Orchester der UdSSR |
Melodya Scribendum |
1967 |
47‘52 |
|
S. dirigiert
die 5., als sei sie die Pathetique, hochemotionale
Teilnahme, bei aller Dramatik erklingt bei ihm die Musik epischer, Blech
bevorzugt, breites Klangpanorama, deutlicher Bassbereich, III russischer
Walzer, keiner aus Wien |
||||
5 |
Jewgenij Svetlanov |
Staatliches
Sinfonie-Orchester der UdSSR |
Exton |
1992 |
45‘15 |
|
live, ähnliche
Interpretationshaltung, jedoch etwas schnellere Tempi als früher, auch etwas
lockerer und lebendiger musiziert, Klang jedoch weniger präsent als im
Studio, mucksmäuschenstilles Publikum |
||||
5 |
Konstantin
Iwanow |
Staatliches
Sinfonie-Orchester der UdSSR |
Melodya Eurodisc Forgotten records |
1958 |
45‘21 |
|
I
schnörkelloses Musizieren, spannungsintensiv, mit Nachdruck, große Bögen, E
immer sehr leise, II die unterschiedlichen Aggregatzustände der Musik gut
getroffen, Horn T. 7 ff. mit etwas Vibrato, IV drängend, mit Hingabe, mit auf
den Punkt gebracht – kompakter Klang, darunter leidet etwas die Transparenz |
||||
5 |
Paavo Järvi |
Tonhalleorchester Zürich |
Alpha |
2020 |
47‘36 |
|
I russische
Seele kommt nicht zu kurz, insgesamt lebendiges Musizieren, 2. Th. viel
langsamer und mit viel Nachdruck, II flexible Tempogestaltung, Walzer T. 45
ff. mit viel Espressivo, Järvi hat die Musik auch bei den vielen emotionalen
Entladungen immer im Griff, behält immer die Übersicht, lässt sich nicht von
Emotionen überwältigen, III schnörkellose Klarheit, Musik wie unter einer
Lupe |
||||
5 |
Valery Gergiev |
Wiener
Philharmoniker |
Philips |
1998 |
45‘48 |
|
live – diesseitige,
frische und lebendige live-Aufführung, die überzeugt |
||||
5 |
Serge
Koussevitzky |
Boston Symphony
Orchestra |
RCA EMI |
1944 |
47‘09 |
|
aus romantischem
Geist musiziert, intensive Gestaltung, kleine und größere
Tempomodifizierungen, kompaktes Klangbild |
||||
|
|||||
Otto Klemperer |
Philharmonia Orchestra
London |
EMI |
1963 |
45‘27 |
|
|
sachlich, klar,
trotzdem nicht unbeseelt, immer deutliche Stimmführungen, transparentes
Klangbild – Tschaikowsky von jeglicher Aufführungstradition befreit |
||||
4-5 |
Paul Kletzki |
Sinfonie-Orchester
des Bayerischen Rundfunks |
EMI |
1967 |
44‘54 |
|
live –
atmosphärisch dichtes Musizieren, inspiriert, Blick auch auf Nebenstimmen,
farbiges transparentes Klangbild, keine deutsche Klarinette, III lebendig,
geradezu aufgekratzter B-Teil, IV Übergang T. 57 f. nicht überzeugend |
||||
4-5 |
Michail Pletnjew |
Russisches
National Orchester |
DGG |
1995 |
46‘25 |
|
stimmige Tempi,
meist lebendiges Musizieren im Sinne der Partitur ohne Extravaganzen,
transparenter Klang |
||||
4-5 |
Pierre Monteux |
Boston Symphony
Orchestra |
RCA |
1958 |
43‘43 |
|
▼ |
||||
4-5 |
Pierre Monteux |
Boston Symphony
Orchestra |
WHRA |
1957 |
43‘31 |
|
live, ▼ |
||||
4-5 |
Pierre Monteux |
Orchestre National Paris |
M&A |
1958 |
44‘24 |
|
live, ▼ |
||||
George Szell |
Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester |
EMI |
1966 |
46‘00 |
|
|
live, ▼ |
||||
4-5 |
Eugene Ormandy |
Philadelphia
Orchestra |
CBS Sony |
1959 |
47‘41 |
|
ziemlich
geradliniges und deutliches Musizieren, eher als ein klassisches denn ein
hochromantisches Werk verstanden, einige Portamenti in den 1. Vl. |
||||
4-5 |
Antal Dorati |
London Symphony
Orchestra |
Mercury |
1961 |
46‘44 |
|
I sehr bewegter
HT, einfühlsam dargeboten, II farbenreich, III sehr lebendig und elegant, IV
Blechgeschmetter – etwas heller, spitzer Klang, offen, Transparenz auch im
Bläsersatz, spitze Oboe |
||||
4-5 |
Herbert von
Karajan |
Berliner
Philharmoniker |
DGG |
1965 |
48‘30 |
|
▼ |
||||
4-5 |
Herbert von
Karajan |
Berliner
Philharmoniker |
EMI |
1971 |
49‘11 |
|
▼ |
||||
4-5 |
Herbert von
Karajan |
Philharmonia Orchestra London |
EMI |
1953 |
49‘58 |
|
▼ |
||||
4-5 |
Herbert von
Karajan |
Wiener
Philharmoniker |
DGG |
1984 |
47‘59 |
|
▼, Soundtrack einer Videoproduktion |
||||
4-5 |
Kurt Masur |
Gewandhausorchester
Leipzig |
Teldec |
1987 |
47‘07 |
|
I E sehr langsam,
bedeutungsvoll, HT etwas zögerlich, II farbig, souverän, III sehr lebendiger
B-Teil, IV E wieder sehr langsam, HT lebendig, zupackend – sehr gutes
Klangbild |
||||
4-5 |
Leonard
Bernstein |
New York
Philharmonic Orchestra |
DGG |
1988 |
52‘37 |
|
live, ▼ |
||||
4-5 |
Charles Dutoit |
Orchestre Symphonique de
Montreal |
Decca |
1988 |
46‘18 |
|
farbenreiches
Musizieren, zupackend, geschmeidig, elegant, etwas pauschale Dynamik |
||||
4-5 |
Rudolf Kempe |
Sinfonie-Orchester
des Bayerischen Rundfunks |
Orfeo |
1975 |
45‘42 |
|
live – Musik
entwickelt sich wie selbstverständlich, ohne Zutun des Dirigenten, simmige Tempi, elegant, auch bei Tutti-Höhepunkten immer
schlank, III bei B endlich einmal Klarinette und Fagott zu hören,
nicht nur Fg. T. 37 ff. |
||||
4-5 |
Riccardo
Chailly |
Wiener
Philharmoniker |
Decca |
1980 |
47‘59 |
|
Debut des
jungen Chailly: zupackend, vielschichtig, gut disponierend, farbig, spontanes
Musiziergefühl |
||||
4-5 |
Ferenc Fricsay |
Wiener
Symphoniker |
Orfeo |
1955 |
42‘29 |
|
live, ▼ |
||||
4-5 |
Paul van Kempen |
Concertgebouw
Orchester Amsterdam |
Philips |
1951 |
43‘40 |
|
kompakter Klang
mit geringerer Transparenz, I hellwaches Musizieren, Blick auch auf Nebenstimmen,
II Themen ausdrucksvoll nachgezeichnet, Spannungsbögen! III intuitiv,
rhythmische Energie nutzend, IV konzentrierte Einleitung, statt des Strichs
hätte man ein schnelleres Tempo wählen können, zusätzliche Beckenschläge in
T. 502 f. |
||||
4-5 |
Vasily
Petrenko |
Royal
Liverpool Philharmonic Orchestra |
Onyx |
2015 |
43‘40 |
|
schlankes
Musizieren mit orchestraler Vehemenz, dort wo es die Partitur verlangt,
bewegte Tempi; I Blick immer nach vorn gerichtet, II Musik im Fluss, Pathos
nur so viel wie nötig, Geflecht der Holzbläser immer offengelegt – gute
Balance und Transparenz |
||||
4-5 |
Neeme Järvi |
Gothenburgh Symphony Orchestra |
BIS |
2004 |
46‘54 |
|
Ernsthaftigkeit
und Konzentration, atmosphärisch dichtes Musizieren, „russische Seele“
treffend, sehr klares Klangbild – III trotz flüssigen Tempos etwas zu schwer,
IV sehr bewegter HT, con spirito |
||||
4-5 |
Lovro von Matacic |
Tschechische
Philharmonie Prag |
Supraphon |
1960 |
42‘40 |
|
I E Andante, HT
emphatisches Musizieren, II Spannungsbögen! Solo-Horn T. 8 ff. mit Vibrato,
III pulsierend, IV con anima,
lebensbejahend – weitgehende Beachtung von Tschaikowskys dynamischen
Vorgaben, transparentes Klangbild, Orchester jedoch nicht immer mit
Feinschliff |
||||
4-5 |
Claudio Abbado |
Chicago
Symphony Orchestra |
Sony |
1985 |
45‘31 |
|
klar, konzentriert,
geschmeidig, sich vor Exaltiertheit hütend, “moderner“ Zugriff, große
dynamische Bandbreite, IV HT con anima |
||||
4-5 |
Siegfried Kurz |
Staatskapelle
Dresden |
Eterna Ars vivendi |
1978 |
44‘00 |
|
I sorgfältig erarbeitet
mit Blick auch auf Nebenstimmen, II darstellerische Konzentration, III im
A-Teil eher sachlich, IV sehr solide, immer deutlich |
||||
4-5 |
Guido Cantelli |
Orchester der
Mailänder Scala |
EMI |
1950 |
44‘29 |
|
immer mit Drive,
ungekünstelt und unbeschwert, kein tiefsinniges Ausloten der Partitur, für
den Zeitpunkt der Aufnahme recht guter Klang, transparent – III inspiriert,
IV emphatisch |
||||
4-5 |
Riccardo Muti |
Philadelphia
Orchestra |
EMI |
1991 |
49‘08 |
|
I mäßiges Tempo,
Musik jedoch geformt, konzentriert, II viel Innenspannung, III farbenreiches
Musizieren, IV ähnlich wie Satz 1 |
||||
4-5 |
Daniele Gatti |
Royal
Philharmonic Orchestra London |
HMF |
2003 |
45‘05 |
|
I Gatti macht
deutlich: trotz vieler Einschränkungen ist das Grundtempo ein Allegro!,
bewegt pulsierend, II geschmeidig, vielschichtig, Pk. T. 16 ff zu leise, III
jenseits aller Routine, Pk. im B-Teil
zu leise, IV deutlich, warum ab T. 234 langsamer?, Triumphmarsch ab T. 472
ohne den Stempel des Besonderen |
||||
|
|||||
4 |
Günter Wand |
NDR Sinfonie-Orchester
Hamburg |
RCA |
1994 |
47‘07 |
|
live – sachlich, jedoch
nicht kühl, Blick immer wieder auch auf Nebenstimmen gerichtet, ohne Zeitdruck,
Tschaikowsky mit geringerer emotionaler Komponente, eher klassisch als
romantisch, II sehr farbig T. 33-43 |
||||
4 |
Herbert von Karajan |
Berliner Philharmoniker |
DGG |
1975 |
49‘10 |
|
▼ |
||||
4 |
Constantin Silvestri |
Philharmonia Orchestra London |
EMI |
1957 |
47‘11 |
|
mäßige bis sehr mäßige
Tempi in den drei ersten Sätzen, im HT des Finales jedoch con fuoco, Presto T. 504 ff.
wie eine Befreiung |
||||
4 |
Vladimir
Ashkenazy |
Philharmonia Orchestra London |
Decca |
1978 |
46‘08 |
|
Interpretation mehr ein
Pflichtprogramm, solide, die langsamen Abschnitte leiden etwas unter
Spannungsabfall, III gefällt am besten |
||||
4 |
Leonard Bernstein |
New York Philharmonic
Orchestra |
CBS Sony |
1960 |
47‘40 |
|
▼ |
||||
4 |
Artur Rodzinski |
Royal Philharmonic
Orchestra London |
Westminster |
1954 |
44‘37 |
|
Rodzinski hält das Blech im Zaum, mit viel Geschmack gespielt, III
sehr durchsichtig, das etwas langsamere Tempo kommt der Musik zugute, IV
leider langer Sprung von T. 210 zu T. 316 |
||||
4 |
Mariss Jansons |
Oslo Philharmonic Orchestra |
Chandos |
1986 |
43‘09 |
|
in den Ecksätzen natürlicher
Zugang zur Musik, lebendiges Musizieren, energetisch, die Mittelsätze
erreichen nicht diese Höhe, II Klarinette bei A zu zurückhaltend,
Klarinetten-Solo T. 67-70 nüchtern, insgesamt routiniert |
||||
4 |
Maurice Abravanel |
Utah Symphony Orchestra |
Vox |
P 1974 |
45‘33 |
|
sorgfältige
Darstellung, sachlicher Vortragsstil, eher ein kaltes Feuer, im letzten Satz
klingt die Musik jedoch wie verwandelt – Klangbild etwas blass |
||||
4 |
Seiji Ozawa |
Berliner Philharmoniker |
DGG |
1989 |
44‘56 |
|
▼ |
||||
4 |
Antonio Pappano |
Orchestra di Santa Caecilia
Roma |
EMI |
2006 |
47‘59 |
|
live - solide, den
langsamen und leisen Abschnitten fehlt es oft an Spannung, II Höhepunkt T.
56-58 domestiziert – kaum Publikumsgeräusche |
||||
4 |
Wladimir Fedossejew |
Rundfunk-Sinfonie-Orchester
Moskau |
Melodya JVC |
1981 |
46‘12 |
|
I E geringe dynamische
Bandbreite, II Musik wenig gegliedert, eins geht ins andere über, Cellothema
T. 33 ff. geht im Gesamtklang unter, III sehr bewegt, schwebend, IV sehr
schnell, ziemlich plakativ |
||||
4 |
John Barbirolli |
London Symphony Orchestra |
EMI |
1959 |
43‘57 |
|
I temperamentvoller HT, II
die großen Linien nachzeichnend, natürlich, III B-Teil: Spiccato der Streicher
weniger ausgeprägt, IV routiniert, spontanes Musizieren – kompakter Klang mit
geringerer Transparenz |
||||
4 |
Wilhelm Schüchter |
Nordwestdeutsche
Philharmonie |
Electrola forgotten records |
1956 |
47‘04 |
|
I E langsam, kaum
schwerblütig, bewegter, farbenreicher HT, II stimmungsvoll, deutliche
Nebenstimmen, III weniger elegant, etwas blass, deutliche Trompeteneinwürfe
T. 104-111, IV mit Geschmack, hellwaches Musizieren – transparenter Klang |
||||
4 |
Wilhelm Furtwängler |
RAI Orchester Turin |
M&A |
1952 |
47‘49 |
|
live – Furtwängler-Dokument
abseits seines normalen Repertoires, I HT im Tempo bedächtig, bei Crescendi Beschleunigungen, II langsames Grundtempo,
Riesenpause nach dem Höhepunkt T. 107, F. steuert Höhepunkte von weit her an,
III schleppend, B-Teil schneller, zu bedeutungsvoll, IV Sprung von T. 217 zu
T. 324, bei T. 217 wackelt das Orchester ein wenig, Publikum klatscht in der
Generalpause T. 471 |
||||
4 |
Bernard Haitink |
Concertgebouw Orchester
Amsterdam |
Philips |
1974 |
50‘05 |
|
I die russische Seele
beschwörend, II H. lässt sich viel Zeit, con anima, III A-Teil etwas steif, B
besser, IV etwas gebremstes Tempo – insgesamt sehr sorgfältig |
||||
4 |
Seiji Ozawa |
Boston Symphony Orchestra |
DGG |
1977 |
46‘31 |
|
▼ |
||||
4 |
Andris Nelsons |
City of
Birmingham Symphony Orchestra |
Orfeo |
2008 |
46’05 |
|
insgesamt sehr solide,
Nelsons halt sich an Tschaikowskys Vorgaben in Bezug auf Tempo und Dynamik, I
Pizzicati T. 135 u. 139?, II Hornsolo
nicht mit den vorhergehenden Streicherakkorden verbunden, III A etwas
geglättet, B Gegenstimmen kommen zu ihrem Recht |
||||
4 |
Zubin Mehta |
Los Angeles Philharmonic
Orchestra |
Decca |
1977 |
43‘32 |
|
I zupackend, lebendig,
Blick nach vorn gerichtet, II fließend, etwas nüchtern, Solo-Horn mit
leichtem Vibrato, III lebendig, IV lebendig, jedoch etwas glatt, routiniert |
||||
4 |
Rafael Kubelik |
Wiener Philharmoniker |
EMI Testament |
1960 |
45‘24 |
|
I emphatisch, K. macht
deutlich: große Sinfonie, bei Tutti-Höhepunkten darf das Blech loslegen, II
stimmige E, musikantisch, III Pizzicati der tiefen
Streicher zu fest und etwas zu laut, wenig elegant, IV sehr betriebsam,
jedoch nicht immer mit Schliff |
||||
4 |
Guido Cantelli |
NBC Symphony Orchestra |
Archipel |
1952 |
43‘38 |
|
live – I langsames
Seitenthema, II sehr lebendig, III bewegt, pulsierend, insgesamt mehr al fresco, diszipliniertes Publikum – sehr
hell klingende Oboen (fast plärrend), Klarinetten und Fagotte schaffen ein
bisher ungewohntes Klangbild |
||||
4 |
Gustavo Dudamel |
Simon Bolivar Youth
Orchestra of Venezuela |
DGG |
2008 |
47’59 |
|
live – in den Sätzen 1 und 2
zu zurückhaltend, zu langsame Tempi, Orchester geht nicht aus sich heraus,
austauschbar, IV im HT überschlägt sich dann die Musik, ähnlich hätte man es
sich schon früher gewünscht |
||||
4 |
Christoph Poppen |
Deutsche Radio-Philharmonie
Saarbrücken und Kaiserslautern |
Oehms |
2010 |
46‘03 |
|
live – sehr solide, jedoch
auch etwas fest musiziert, ich wünschte mir mehr Lockerheit, eine Beziehung des
Dirigenten zum Werk wird nicht deutlich, am besten der farbig musizierte 2.
Satz, hier überzeugen auch die gut aufgebauten Bögen, dagegen ist das Finale
in vielen Strecken zu langatmig geraten |
||||
4 |
Franz Konwitschny |
Rundfunk-Sinfonie-Orchester
Berlin |
Urania forgotten
records |
1954 |
46‘41 |
|
I schwerblütige E, kaum
Tempokontrast zum HT, wird allmählich schneller, fatalistische Stimmung, II
bedeutungsvolles Musizieren, III zu steif, IV schwere Gangart,
blechgepanzert, sentimental, pessimistisch – etwas stumpfes Klangbild mit
geringer Transparenz |
||||
4 |
Roger
Norrington |
SWR
Sinfonieorchester Stuttgart |
SWR music hänssler |
2007 |
45‘42 |
|
live-Tschaikowsky
nach Grundreinigung, Partitur genau gelesen und umgesetzt, ohne Vibrato,
gewöhnungsbedürftiger Klang, transparent, nüchtern |
||||
|
|||||
3-4 |
Manfred
Honeck |
Pittsburgh
Symphony Orchestra |
Reference
Recordings |
2022 |
45‘07 |
|
sehr
breite Klangpalette, an ff-Stellen dominieren die Blechbläser zu sehr,
das klingt zwar effektvoll, auf Dauer jedoch penetrant, I kämpferisch, mit
viel Druck, das Th. der Klarinette T. 11 ff. wird von den Streichern an die
Wand gedrückt, Blick auf Details, II Horn zu Beginn zu leise, kommt aus dem
Nichts, T. 67 f. viel zu leise, Partitur: p, III zu artistisch und
unruhig, übertriebene fff-Orgien, Musik hingeknallt, IV insgesamt
hektisch, T. 32 ff. Streicher zu laut, Th. T. 58 ff. herausgeschleudert –
offenes Klangbild |
||||
3-4 |
Karl Böhm |
London Symphony Orchestra |
DGG |
1980 |
50‘58 |
|
I deutliches Musizieren
(Bläser bei T. 227 ff.), ohne Schwung, etwas lustlos und neutral, II
einleitende Akkorde zu bedeutungsvoll, insgesamt schwere Gangart, Musik droht
zu zerfallen, III wenig Esprit, IV gefällt am besten, jedoch etwas starr,
erdverbunden |
||||
3-4 |
Kurt Sanderling |
Berliner Sinfonie-Orchester |
Eterna Denon |
1979 |
49‘17 |
|
I E wie eine Klage, HT
etwas sachlich, sparsames Espressivo, II keine Entwicklung in T. 1-8, etwas
zäh, wenig Noblesse bei Ziff. B, T. 108 ff. ausdruckslos, III ohne Eleganz,
IV T. 75-78 mangelnde Präzision – Streicher und Bläser nicht immer auf
demselben Niveau |
||||
3-4 |
Lorin Maazel |
Cleveland Orchestra |
CBS Sony |
1981 |
46‘39 |
|
geglättet, gepflegt,
neutral, kaum als Herzensangelegenheit zu orten |
||||
3-4 |
André Previn |
Royal Philharmonic
Orchestra London |
Telarc |
1984 |
45‘57 |
|
zwiespältiger Eindruck:
farbenreiches Muszieren in den schnellen Partien, teilweise aufgekratzt und
pulsierend, Leerlauf in den weniger lauten und langsameren Partien, hier
scheint er mit der Musik wenig anfangen zu können – opulentes Klangbild,
saftiger Klang, opulente Blechbläser in den Tutti-Abschnitten drücken die
restlichen Instrumente an den Rand |
||||
3-4 |
Mstislaw Rostropovitch |
London Philharmonic
Orchestra |
EMI |
1976 |
51‘54 |
|
zelebriert und
buchstabiert, II Anfangschoral fast unhörbar leise, sehr zäh, III zäh, B-Teil
etwas besser, IV Einleitung und Finale total verschleppt, HT überzeugend |
||||
3-4 |
Yuri Temirkanov |
St. Petersburger
Philharmoniker |
RCA |
1992 |
48‘49 |
|
I lastende E, immer wieder
den Fluss der Musik gebremst, sehr langsames Horn-Th., die vielen Rücknahmen
des Hauptzeitmaßes verleiten zum Schleppen, III Musik zieht am Ohr vorüber,
ist jedoch nicht greifbar, IV erst T. 58 kommt die Musik in Fahrt, Pauke jetzt
sehr hervorgehoben |
||||
3-4 |
Andrew Litton |
Bournemouth Symphony
Orchestra |
Virgin |
1989 |
48‘50 |
|
I mit angezogener
Handbremse, II recht zäh, Musik zerfällt in Abschnitte, III etwas hausbacken,
ohne Pfiff, IV HT relativ schnelles Tempo, jedoch wenig locker musiziert, T.
374 ff. Thema ohne Konturen |
||||
3-4 |
Leopold Stokowski |
New Philharmonia
Orchestra London |
Decca |
1966 |
50‘21 |
|
▼ |
||||
3-4 |
Willem Mengelberg |
Berliner Philharmoniker |
Telefunken |
1940 |
43‘03 |
|
▼ |
||||
|
|||||
3 |
Sergiu Celibidache |
London Philharmonic
Orchestra |
Decca |
P 1951 |
50‘05 |
|
▼ |
||||
3 |
Sergiu Celibidache |
Münchner Philharmoniker |
EMI |
1991 |
57‘11 |
|
live,
▼ |
||||
3 |
Christoph Eschenbach |
Philadelphia Orchestra |
Ondine |
2005 |
50‘09 |
|
I statische Einleitung,
keine Spannung, HT ziemlich dröge, blutleer, II Klarinettenbegleitung T.
16-23 zu leise; schleppend, kaum Spannung, Schicksalsmotiv T. 99 ff. ohne
Biss, III distanziert, asketisch, IV E blutleer, Tschaikowsky beginnt erst
richtig ab T. 58, jedoch zu spät |
||||
3 |
Daniel
Barenboim |
Chicago
Symphony Orchestra |
Teldec |
1995 |
44‘26 |
|
▼ |
||||
3 |
Daniel
Barenboim |
East-Western Divan
Orchestra |
Warner |
2014 |
44‘56 |
|
▼ |
||||
3 |
Leopold Stokowski |
NDR Sinfonie-Orchester
Hamburg |
Tahra |
1952 |
43‘33 |
|
▼ |
Hinweise zu Interpreten und Interpretationen
Pierre Monteux
Die drei hier vorgestellten
Aufnahmen mit Pierre Monteux entstanden innerhalb von zwei Jahren. Der gelobten
RCA-Studio-Produktion mit dem Boston Symphony Orchestra wurden vor ein paar
Jahren zwei live-Aufnahmen zur Seite gestellt, die eine mit demselben Orchester
wurde ein Jahr zuvor mitgeschnitten, die andere ein Jahr später mit dem Orchestre National Paris. Interpretatorisch sind bei
ziemlich gleichen Tempi kaum Unterschiede auszumachen, die live-Aufnahmen
klingen insgesamt jedoch partiell lebendiger, jedoch nicht immer mit der
Präzision der Studio-Einspielung. In allen Aufnahmen ist in lauten
Tutti-Abschnitten keine differenzierte Durchzeichnung gegeben, grell und scharf
klingendes Blech beeinträchtigt in den live-Mitschnitten das Klangbild. In
diesen Aufnahmen müssen mehr oder weniger Publikumsgeräusche in Kauf genommen
werden, bei der 57er-Aufnahme auch ständiges leichtes Bandrauschen. Auffallend
ist, dass Monteux kaum ein echtes Piano bringt, obwohl Tschaikowsky nicht damit
gespart hat.
Leopold Stokowski
Stokowski wirft mit der
Interpretation der 5. Sinfonie einen Blick zurück ins 19. Jahrhundert. Glaubt
man den Aussagen einiger Autoren, soll diese seine Lieblingssinfonie von
Tschaikowski gewesen sein soll, immerhin sind vier Aufnahmen bekannt. Im Jahre 1952
spielte er sie mit dem NDR Sinfonie-Orchester in Hamburg. An diesem Abend nahm
sich der Dirigent die Freiheit, alles das aus der Partitur herauszuholen und
dem Publikum zu unterbreiten, was seiner Meinung nach im Notentext zwischen den
Zeilen zu lesen sei, aber vom Komponisten nicht extra hervorgehoben wurde. So
verstanden, muss man es als Hilfe, als Unterstützung der ursprünglichen
Absichten Tschaikowskys interpretieren. Einzelne Abschnitte werden regelrecht
inszeniert, wie z. B. im 2. Satz die Takte 32 ff, später fügt St. des größeren
Effektes willen in T. 54 auf 4 vor dem Höhepunkt eine zusätzliche
Trompetenstimme sowie ein kurzer Wirbel auf der kleinen Trommel hinzu, oder im
selben Satz T. 65/66 vor dem Klarinettensolo. Was beim Hören sofort auffällt,
sind die ständig wechselnden Tempi, Tempo
Rubato wird zum Prinzip erhoben, dann die Beschleunigungen oder
Verlangsamungen gekoppelt mit Crescendo- und Diminuendo-Stellen. Manche Partien
klingen überzeugend, andere doch sehr kitschig, wie im 2. Satz die T. 171 ff.
Der Valse-Satz ist zum Mittanzen nicht geeignet, wie
ein Wirbelwind fegt das Orchester durch den B-Teil. Dann verzichtet der Maestro
im Finale auf einige Takte Musik (s. o.) und fügt noch im abschließenden Marsch
für Trompeten und Hörner Bindebögen hinzu (T. 546 ff). Alle diese Eingriffe
manchen Tschaikowskys Musik noch interessanter, die Frage nach Tschaikowskys
Absichten bleibt jedoch im Raum stehen. Die spätere Studio-Aufführung mit dem
Londoner New Philharmonia Orchestra ist nicht
vollkommen frei von Stokowskis Mätzchen, insgesamt jedoch mehr der gedruckten
Partitur verpflichtet. Die Tempi sind inzwischen langsamer geworden. Ein großer
Pluspunkt ist hier das gute Klangbild, jedoch bleibt die Dynamik im unteren
Bereich hinter den Erwartungen zurück. Am besten gefällt mir der 3. Satz.
George Szell
Tschaikowskys Musik zählte
gewiss nicht zum Kernrepertoire von Szell, er gehörte jedoch zu den
Tschaikowsky-Dirigenten wie z. B. Mrawinsky, Fricsay,
Solti und insbesondere Klemperer, die den Notentext sehr ernst nahmen, die die
Aufführungstradition ignorierten und trotzdem zu höchst befriedigenden
Interpretationen gelangten. Die Studioproduktion mit seinen Cleveländern
ist superb, wenn auch der eine oder andere Hörer darin etwas an russischer
Seele vermisst. Bereits die langsame Einleitung lässt aufhorchen, das Orchester
wird immer straff geführt, ohne ihm eine gewisse Eleganz zu verwehren, wie
immer bei Szell erklingt die Musik immer lebendig und sehr deutlich. Der furios
gespielte Schlusssatz krönt eine prächtige Aufnahme. Die Konzertaufnahme mit
dem Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester, einem Klangkörper, mit dem Szell viele
Male musiziert hat, klingt etwas beseelter als das technisch doch bessere
Cleveland Orchester, das im 1. Satz doch lockerer spielt als die Kölner
Mannschaft. Im 4. Satz zieht Szell das Tempo ab Ziffer M merklich an, springt
dann aber nach T. 209 zum T. 316, im Studio erfüllt er jedoch streng die Partiturvorgabe.
Jewgenij Mrawinsky
Mrawinskys Deutungen der letzten Tschaikowsky-Sinfonien wurden seit
ihrem Erscheinen immer wieder gelobt und als Referenzaufnahmen herangezogen.
Sie haben Schule gemacht, mittlerweile gibt es eine Anzahl meist junger
Dirigenten, die sich die Musizierweise des russischen Meisters mindestens
teilweise zu eigen gemacht haben, wie da sind: den Notentext sehr ernst nehmen,
Klarheit im Aufbau, Verbannung jeglichen Schwulstes, Vermeidung alles Glatten,
stimmige Tempi, klangliche Schärfe. Die beiden vorliegenden Aufnahmen liegen
schon Jahrzehnte zurück, haben jedoch nichts von ihrer interpretatorischen
Gültigkeit eingebüßt, auch wenn man heute zu klanglich besseren Platten greifen
kann. Die beiden Interpretationen gipfeln jeweils im Finale, wenn nach der
Einleitung in deutlichem Kontrast die Musik im Allegro vivace, bei ihm ein A. con fuoco, förmlich explodiert, in der jüngeren Aufnahme
lässt sich das noch eindrucksvoller erleben. Hier profitiert der Hörer auch vom
etwas verbesserten Klangbild. Übrigens wurden beide Aufnahmen bei Europa-Tourneen
des Orchesters im Wiener Großen Konzerthaussaal produziert.
Herbert von Karajan
In seiner ersten Aufnahme der
5. Sinfonie mit dem Londoner Philharmonia Orchester
scheint sich Karajan in Tschaikowskys Welten wohl zu fühlen; einfühlsam, nicht
sentimental, immer das rechte Maß findend, könnte man die Aufnahme beschreiben.
Wenn sie dann doch nicht ganz oben auf dem Treppchen steht, ist es dem Klang
der (von mir schon mehrfach bemängelten) Oboe geschuldet, die sich oft in den
Vordergrund spielt und aus dem der Holzbläser herausfällt, im 4. Satz in den T.
59-65 klingt sie wie ein Eisenbahn-Signalhorn! Für den 3. Satz hat der Maestro
noch nicht das richtige Händchen. Das Klangbild ist noch etwas flach, jedoch
noch hinreichend transparent. Karajans nächste Aufnahme der 5., jetzt mit
seinen Berlinern, besticht durch einen wesentlich besseren Klang. Leider deckt
der üppige Streicherapparat an Höhepunkten (z. B. in Satz 1 T. 194 ff.) die
Bläser, auch das Blech, etwas zu. Im 2. Satz T. 142 ff. neigt der Dirigent zu
einem Breitwandsound, insgesamt zeigt Karajan hier mehr Gefühle als früher.
Vier Jahre später ging er mit der 5. und seinen BPh
erneut ins Studio, diesmal wieder für die DGG. Die Aufnahme zeigt nun einen
Mischklang, vor allem in den Tuttipartien, die Musik bekommt weichere Konturen
und klingt oberstimmenbetont, der Klang verliert dabei jedoch an Deutlichkeit.
Schöne Stellen werden ausgekostet, insgesamt klingt die Musik jetzt mehr nach
Karajan als nach Tschaikowsky. Seine letzte Aufnahme mit den Wiener
Philharmonikern geht klangästhetisch wieder einen Schritt zurück: die Musik
klingt wieder herber, besitzt mehr Konturen und ist eher der Partitur
verpflichtet. Das Blech der WPh klingt offener als
das der BPh. In allen fünf Aufnahmen geht die Musik
im 2. Satz etwas schleppend voran. Für mich ist trotz der Einschränkungen die
Aufnahme von 1971 hier erste Wahl. Inzwischen hat auch DGG-Aufnahme von 1965
Eingang in meine Sammlung gefunden, es ist Karajans zweite Aufnahme der
e-Moll-Sinfonie, nun mit den Berliner Philharmonikern für die DGG produziert.
Auch hier ist der klangliche Fortschritt nicht zu überhören. Karajan lässt
geschmeidig musizieren, nicht herb, verbindlicher und lässt seinen
Bläsersolisten viel Raum, das fördert auch die Transparenz. Leider klingen die
vielen ff/fff-Stellen zu Blech-gepanzert. Im 2. Satz klingen die Pizzicati der Streicher T. 108 ff. nach.
Georg Solti
Von Solti liegen mir zwei Einspielungen
vor, seine letzte Studioproduktion (bereits zwei gingen in LP-Zeiten voraus)
sowie ein Konzertmitschnitt mit dem LSO von den Salzburger Festspielen. Obwohl
Tschaikowskys Musik Soltis Musizierhaltung entgegenkommt (mächtige
Klangentfaltung des vollen Orchesters, Aufbau von Höhepunkten, großer Sound,
gefühlvolle gesangliche Abschnitte), hält sich der ungarische Maestro im Zaum
und hütet sich in diesen Aufnahmen vor Übertreibungen. Er dirigiert die 5.
Sinfonie eher klassisch, was nicht heißen soll, dass er der Musik etwas
schuldig bliebe, im Gegenteil. Sowohl die lyrischen als auch die dramatischen
Abschnitte werden genau kalkuiert dargeboten, Solti
hat nicht nur die Partitur, sondern auch sein bekannt sanguinisches Temperament
im Griff. Hervorragend ist auch die klangtechnische Seite dieser CD. Beim
Salzburger Mitschnitt von 1987 lässt der Dirigent die Zügel ein wenig lockerer,
ohne seine vorher beobachteten Maximen zu vergessen. Die Tempi sind in allen
Sätzen etwas schneller, hier und da klingt die Musik auch ein wenig gelöster.
Das Klangbild ist transparent, das Orchester gut abgebildet, die Brillanz der
Studioproduktion wird jedoch nicht erreicht.
Sergiu Celibidache
Die Aufnahme der 5. Sinfonie
in e-Moll mit dem London Philharmonic Orchestra zählt zu den ganz wenigen
Studioproduktionen des rumänischen Maestros, sie lassen sich an einer Hand
abzählen. Sehr bekannt und geschätzt wurde sie von Sammlern wohl kaum, entsprach
sie doch in keiner Weise dem Tschaikowsky-Bild, das andere Dirigenten von op.
64 entworfen hatten. In den ersten beiden Sätzen kommt die Musik kaum vom
Fleck, im Kopfsatz vermisst man einen Tempokontrast zwischen der sehr langsamen
Einleitung und dem folgenden Allegro con anima, erst später zieht Celi das
Tempo etwas an. Bei Dirigierschülern geradezu verpönt ist das Schnellerwerden
bei Crescendostellen und das Langsamerwerden
beim folgenden Diminiendo, Celibidache setzt es wider
die Regel mehrmals ein. Der 2. Satz wird als Adagio zelebriert, fast wie
gefroren erklingt hier die Musik. Auffallend die nun abrupten Tempowechsel vor
Höhepunkten. Bei den Sätzen 3 und 4 sind die Unterschiede geringer. Im
Vergleich zu der noch etwas älteren Fricsay-Aufname
von 1949 weist die Decca-Platte ein sehr flaches Klangbild mit geringerer
Dynamik auf, die Musik klingt zu stumpf. Der EMI-Konzert bietet einen von Celi nicht autorisierten Konzertmitschnitt mit den Münchner
Philharmonikern an. Im Vergleich zur Decca-Platte sind die klanglichen
Verhältnisse nun fabelhaft zu nennen, die Musik kommt plastisch aus den
Lautsprechern. Das ist jedoch das einzig Positive, was über die CD zu vermelden
ist. Die Tempi sind insgesamt noch langsamer geworden, auch in Satz 3 (weniger)
und 4. Im zweiten Satz verselbständigen sich die Akkorde in den ersten acht
Takten, ohne erkennbaren Bezug auf das nun Folgende. Ein kleiner Lichtblick
sind die geradezu expressionistisch ausgefallenen Takte 33-38. Ich sehe auch
bei dieser CD insgesamt keinen Gewinn für die Tschaikowsky-Diskografie.
Ferenc Fricsay
Fricsays erste
Plattenaufnahme fand 1949 in der Berliner Jesus-Christus-Kirche statt und war
gleich zu Beginn seiner Karriere als Schallplattendirigent ein großer Wurf,
blieb auch zu Recht lange Jahre im Katalog der DGG. Die Aufnahme klingt auch
nach mehr als 60 Jahren immer noch erstaunlich gut. Fricsay führt die Berliner
Philharmoniker noch straffer durch die Partitur als Mrawinsky
sein Orchester. Der 2. Satz wird hier sehr geschmeidig gespielt, wie
selbstverständlich, Tempowechsel fallen kaum auf. Bei Fricsay hat man den
Eindruck, als wenn dieser Satz die Blaupause für den Schlusssatz der Pathetique sei. Der Finalsatz ist der Höhepunkt der
Aufnahme: sehr lebendig, energiegeladen, die Melodieverläufe werden immer sehr
deutlich herausgestellt. Das lässt sich auch bei den fff-Einsätzen der Celli und Kontrabässen in den Takten 234 und 250
hören, die in vielen Aufnahmen wenig beachtet werden. Die beiden anderen
Interpretationen Fricsays wurden im Konzertsaal mitgeschnitten. 1955 in Wien
mit den Symphonikern und zwei Jahre später in Berlin mit seinem
Radio-Sinfonie-Orchester. Letztere Aufnahme ziehe ich wegen der etwas größeren
Deutlichkeit des Musizierens sowie dem besseren Klangbild dem Wiener Mitschnitt
vor. Inzwischen hat sich ein Auffassungswandel vollzogen: bereits 1955 nimmt er
die langsame Einleitung des Kopfsatzes deutlich langsamer und nachdenklicher,
das verstärkt sich in der RSO-Aufnahme noch einmal, hier klingen die Takte noch
tragischer, auswegloser. Auch im 3. Satz setzt er in den live-Mitschnitten den
B-Teil etwas mehr von den A-Teilen ab.
Leonard Bernstein
Bernstein dirigiert Tschaikowskys 5. aus dem Bauch
heraus, die schnellen Abschnitte in den Ecksätzen sind lebendiger denn je zu
erleben, jugendlich, locker, engagiert, jedoch auch etwas schnoddrig
burschikos. Dazu kommen die vielen auch unvermittelten Temposchwankungen, die
darauf hindeuten, dass ihm effektvolles Musizieren hier sehr angebracht
erscheint, im 2. Satz führt das in den T. 142 ff. zum Breitwandsound, im Presto
des Finales T. 504 ff klingt dann die Musik wie entfesselt. Die langsameren
Abschnitte bleiben dagegen eher neutral. Soviel zur New Yorker
Studio-Produktion von 1960. 28 Jahre später hat Bernstein seine frühere
Auffassung nicht vergessen, lässt insgesamt jedoch kultivierter musizieren, die
Extreme werden nicht mehr so deutlich herausgestrichen, der Walzer wird nun
sinntreffender gestaltet. Die langsame Einleitung zum Finale lässt er
bedeutungsvoller spielen, das folgende Allegro ist nicht mehr ausschließlich
ein Schwelgen in Emotionen, sondern ein pulsierendes Musikstück, in das die Höhepunkte
überzeugend eingebunden sind. Insgesamt überzeugt mich diese Aufnahme, da sie
nun an Souveränität im Umgang mit der Partitur gewonnen hat, auch wenn die
Tempi insgesamt langsamer geworden sind.
Seiji Ozawa
Warum die DGG den japanischen Maestro zweimal bei der
5. Sinfonie ins Aufnahmestudio gebeten hat, ist mir ein Rätsel. Er nimmt zur
Partitur kaum Stellung, die Musik kommt gefällig aus den Lautsprechern, aber
das ist doch etwas zu wenig. Ozawa vertraut eher auf die Qualität seiner beiden
Orchester, und die kann sich sehen lassen. Das Klangbild der jüngeren Berliner
Aufnahme ist der Bostoner überlegen, das äußert sich u. a. in der größeren
Präsenz der Holzbläser, die sich nur in lauten Tutti-Stellen dem Gesamtklang
einordnen. Was noch für die Berliner Philharmoniker-CD spricht, ist das etwas
schnellere Tempo, bei dem manche Stellen mit einer größeren Stringenz
aufwarten.
Daniel Barenboim
Zwei Aufnahmen mit Barenboim liegen vor. 1995 wurde
die erste mit dem Chicago Symphony Orchestra eingespielt. Der Dirigent lässt
die Musik laufen, ohne dass ein aus der Partitur entwickeltes Konzept erkennbar
würde. Dies zeigt sich schon in den ersten Takten, in den die beiden
Klarinetten das Schicksalsthema leise anstimmen, sie werden schon zu laut
gespielt, die Musik hat hier nichts Hintergründiges. Insgesamt klingt sie in
allen Sätzen etwas hölzern und pauschal, die Holzbläser werden oft benachteiligt,
besonders dann, wenn das Blech hochgefahren wird. Ich meine, letzteres hätte
schon bessere Zeiten erlebt. Im 3. Satz ermangelt es den Streichern beim
Walzerthema an Grazie. Zu Beginn des letzten Satzes scheinen die Streicher das
Schicksalsthema bis T. 15 allein, ohne Bläser, vorzutragen. Für Irritation
sorgt das Crescendo in T. 57, dass der Komponist sinnvollerweise der Pauke
zuweist, Barenboim überträgt es den Kontrabässen, die eigentlich ihr pp
auf g beibehalten sollen. Das hört man auch in der zweiten Aufnahme, die
19 Jahre später Warner mit dem East-Western-Divan Orchestra herausbringt. Die
Aufnahme klingt ein wenig saftiger als zuvor, macht aber auch durch harte fff-Blech-Akkorde
auf sich aufmerksam. Die ersten Takte zeigen die gleichen Mängel wie vorher
auf, mit verkürzten Pausen. Der Beginn des 3. Satzes besitzt nun etwas mehr an
Grazie; man versteht allerdings nicht, warum T. 12 schon fast f erreicht
wird, wenn die Partitur dolce vorsieht. Insgesamt klingt auch diese
Interpretation irgendwie lieblos gemacht.
Auch in Zukunft werden immer wieder Neuaufnahmen von
Tschaikowskys 5. Sinfonie auf den Markt drängen, neue Einsichten sind dabei
kaum zu erwarten.
eingestellt am 20. 07. 13
neu bearbeitet am 02. 09. 23