Das Klassik-Prisma

 

 Bernd Stremmel 

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Franz Schubert

Die Winterreise op. 89 D. 911

 

Liederzyklus nach Gedichten von Wilhelm Müller

 

Schubert lernte die Gedichte Wilhelm Müllers, eines Gymnasiallehrers und Bibliothekars, in einem weit verbreiteten Almanach kennen, und zwar als zweiten Teil der „Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten“. Bereits 1823 bediente sich Schubert dieser Quelle bei der Komposition seines ersten Liederzyklus „Die schöne Müllerin“. Müller (1794-1827), dem Schuberts Musik wahrscheinlich nie begegnet war, widmete seine Verse Carl Maria von Weber, „dem unsterblichen Meister des deutschen Liedes“. Schubert fühlte in Müllers Liedern Parallelen zu seiner eigenen Lebenssituation, sowohl 1823, damals war für ihn die Ansteckung mit der Syphilis zur Gewissheit geworden, als auch in seinem letzten Lebensjahr bei der Komposition der „Winterreise“ wie in einem Selbstportrait: die Verzweiflung eines liebeskranken jungen Mannes, die Enttäuschung über seine Abweisung, sein Leben in der Einsamkeit ohne bürgerlichen Rückhalt, Depressionen und fortschreitende Krankheit. Winter steht als Synonym für Kälte in seinen Beziehungen, in seiner aussichtslosen Situation, ohne ein Ziel auszumachen. Zuletzt begegnet der Wanderer einem Gesellen, der, wie er gestrandet, sich in auswegloser Situation befindet, dem Leiermann. Schuberts unheilbare Krankheit, im fortgeschrittenen Stadium, mit seiner Aussichtslosigkeit wird ihm hier vor Auge gestanden haben: der Leiermann als Synonym für den nahen Tod.

 

John Ardoin benennt im Booklet-Text zur CD von Gérard Souzay den Unterschied von Schuberts Lieder-Zyklus „Die schöne Müllerin“ zur „Winterreise“ folgendermaßen: „…besteht der Unterschied zu den beiden Zyklen in dem psychologischen Unterschied zwischen Frühling und Winter, zwischen einem wolkenlosen, heiteren und einem bewölkten und düsteren Tag“. Der einzige Licht- und Hoffnungsstrahl innerhalb der 24 Lieder der „Winterreise“ sei im Lindenbaum zu finden. Karl Schumann meint im Booklet zur CD von Fischer-Dieskau/Alfred Brendel, dass in den 24 Liedern eine einzige Stimmung verdeutlicht würde, die Verzweiflung. Zweidrittel der Lieder sind in Moll verfasst.

Werfen wir nun einen Blick auf den Schallplattenmarkt: Einzelne Lieder der Winterreise wurden bereits in den Jahren nach 1900, noch im akustischen Verfahren, eingespielt. Eine Teilaufnahme von 12 Liedern durch Richard Tauber mit Mischa Spoliansky erfolgte 1927 für HMV. Die erste Gesamtaufnahme folgte ein Jahr später mit dem Wiener Bariton Hans Duhan. Von Elena Gerhardt sind nur einzelne Lieder nachzuweisen. Meine Übersicht beginnt mit dem Bariton Gerhard Hüsch und seinem Begleiter Hanns Udo Müller, die Aufnahme entstand 1933 in Berlin, damals auf Schellack-Platten. Mit Einführung der Compact Disc hat „Die Winterreise“ einen wahren Boom erleben müssen, es vergeht fast kein Jahr mit einer Neueinspielung. Jeder einigermaßen renommierte Sänger möchte seine „Winterreise“ dem Publikum präsentieren.

 

Hier noch Hinweise auf einzelne Lieder:

 

Lied 3 „Gefrorne Tränen“

 

Die Sänger Pears, Haefliger und Fischer-Dieskau-71 verdeutlichen die ersten Worte Gefrorne Tropfen fallen von meinen Wangen ab durch einen deutlichen staccato-Vortrag. In der Klavierbegleitung versieht Schubert in vielen Takten im Bass auf der Zählzeiten 2/3 eine Halbe Note mit einem Akzent, auch bereits in den ersten drei Takten der Einleitung abwechselnd rechts und links sind sie zu hören. Leider werden diese Akzente übersehen oder nur lasch ausgeführt. Ihre wahre Bedeutung hört man nur selten, geradezu aufdringlich bringt sie Eric Schneider in der Aufnahme mit Christine Schäfer.

 

Lied 4 „Erstarrung“

 

Im Gegensatz zum Titel schreibt Schubert hier ein schnelles Tempo vor. In der letzten Strophe ersetzen die Sänger Quasthoff, Eröd und Gilchrist bei der Stelle Mein Herz ist wie erstorben das Wort erstorben in erfroren.

 

Lied 5 „Der Lindenbaum“

 

Dieses Lied ist das bekannteste des ganzen Zyklus. Vermutlich, weil es in Dur komponiert ist, aber auch, dass der Text den Hörer unmittelbar anspricht. Das könnte auch der Grund für die Bearbeitung Friedrich Silchers für vierstimmigen Männerchor gewesen sein, allerdings ohne Strophe 3, die die Harmonie der anderen Strophen stören würde. Auch heute noch führen Männerchöre diese Silcher-Bearbeitung in ihrem Repertoire. Wie bereits in Lied 3 setzt Schubert für das Klavier wieder Akzente, hier in der 2. Strophe nach der Triole bei der punktierten Achtel. Nur wenige Pianisten folgen Schuberts Wunsch: Moore, Britten, Sawallisch, Pollini und Garben. Mit Beginn der 4. Strophe ändert der Komponist diese Vorgehensweise: als Auftakt im Bass der linken Hand steht eine herausgehobene Achtel, wechselnd h-gis, unmittelbar danach auf der 1 der folgenden Triole der Akzent – in jedem Takt. Dieses wird von vielen Begleitern/-innen umgesetzt u. a. von Klust, Reutter, Moore-71, Britten, Sawallisch, Baldwin, Reimann, Staier-12, Gees, Garben, Dalberto und Schneider. Die Mehrheit spielt über diese Subtilität hinweg.

 

Lied 6 „Wasserflut“

 

Beim Abhören fällt eine rhythmische Unstimmigkeit zwischen Triole der rechten Hand und punktierter Achtel der linken Hand auf. Hier lassen die meisten Pianisten die letzte der Triole mit der Sechzehntel der linken Hand zusammenfallen. Sehr deutlich kann man den Unterschied im dritten Takt hören. Diese Unstimmigkeit wird auch beim Zusammenwirken von Sänger und Pianist in den ersten Noten offenbar, wenn der Sechzehntel-Akkord nach dem „Manche“ kommt. Diese Divergenz zieht sich durch das ganze Lied. Nach Schuberts Vorgabe ist diese Reibung beabsichtigt, sonst hätte er auf die Punktierung verzichtet und stattdessen fortlaufende Triolen (= Neunachteltakt) vermerkt. Die bequemere Rhythmisierung hat sich jedoch bei den Interpreten durchgesetzt, außer bei Parsons-Bär, Staier, Deutsch, Huber, Nilsson und Höll-Shirai. Immerseel verhält sich inkonsequent, wenn er sich nur bei Stellen, wo er allein spielt, an der Notentext hält, sich bei der Begleitung aber nach dem Sänger richtet. Das erlebt man auch bei Dähler, Tilbrock, Spencer, Schuback und Baillieu

 

Lied 8 „Rückblick“

 

Der Schubert-Forscher Georgiades weist darauf hin (Musik und Lyrik S. 366), dass beim Druck des Liederzyklus‘ das Nachschlagen der rechten Hand im letzten Takt irrtümlich als Gleichzeitigkeit von rechter und linker Hand dargestellt ist. Einige Pianisten/-innen übersehen diesen Fehler: Eschenbach, Ickstadt, Shetler, Schnyder und Schuback.

 

Lied 9 „Irrlicht“

 

Textfehler in Takt 20, Wilhelm Müller schreibt dort „Leiden“, etliche Sänger ersetzen jedoch „Leiden“ durch „Wehen“, u. a. Pears, Schreier, Hampson, Fassbaender. Andreas Schmidt und Matthias Goerne verwenden beide Varianten.

 

Lied 19 „Täuschung“

 

Die Klavierbegleitung ist ganz auf Klang ausgerichtet, locker und duftig sollte es hier klingen, was viele Pianisten/-innen übersehen.

 

Lied 20 „Der Wegweiser“

 

Textfehler in Takt 42, das Wort „Wegen“ wird bei sehr vielen durch „Straßen“ ersetzt, z. B. von Appl, Di Donato, Hynninen, Fassbaender, Allen, Fischer-Dieskau, Hotter, Pears und Gerhaher.

 

Lied 24 „Der Leiermann“

 

Ähnlich wie im „Lindenbaum“ wechselt Schubert die Betonung einzelner Begleittakte: in den Takten 4 und 5 sollen nach den beiden Achteln die lange Halbe mittels Betonung herausgehoben werden. Zwei Takte später in 7 und 8 ist es umgekehrt, hier soll die 1 betont werden. Das setzt sich im ganzen Lied durch. Nur wenige Begleiter/-innen folgen Schuberts „Verwirrspiel“, u. a. Staier, Sawallisch, Gage, Haefliger, Schmalcz, Schiff, Pohl, Baldwin und Gothoni.

 

Viele junge Sänger möchten gern „ihre“ Winterreise vorstellen, treffen aber auf einen riesigen Berg von Vorgängeraufnahmen, z. T. mit berühmten Namen. Sie sehen sich vor die Wahl gestellt a) resignierend darauf zu verzichten, b) „ihre“ Sicht aufzunehmen, vorausgesetzt ein Label findet sich, oder c) einen neuen Weg einzuschlagen. Da bietet sich Hans Zender an, der eine Bearbeitung für Sänger mit Streichquartett schuf. Daniel Behle veröffentlichte zwar die Originalfassung, kreierte daneben aber auch eine Fassung mit Begleitung eines Klaviertrios. Das Label Muso veröffentlichte eine Fassung mit Begleitung eines Streichquartetts, auch eine Fassung mit Begleitung eines Streichtrios ist bekannt, kurios ist gewiss der Einsatz einer Posaune statt des Flügels. Auch Holzbläser und Orgel kommen zum Einsatz.

 

Beinahe 80 Aufnahmen der Originalfassung habe ich vergleichend gehört, hier meine Einschätzungen:

   

 

Männerstimmen – Tenor:

 

5

Peter Anders

Michael Raucheisen

RRG    DGG    Membran

1945

74‘53

 

5

Peter Anders

Günther Weißenborn

WDR      Acanta

1948

68‘03

 

5

Peter Schreier

András Schiff

Decca

1991

72‘02

 

5

Daniel Behle

Oliver Schnyder

Sony

2013

65‘29

 

schlanke und wendige Stimme, engagierter und differenzierender Vortrag, der eine eindringliche Darstellung ermöglicht, zu dem erfreulichen Ergebnis trägt auch Oliver Schnyder am warm temperierten Flügel bei – sehr guter Klang

  

 

4-5

Anton Dermota

Hilda Dermota

Telefunken

P 1963

76‘06

 

Dermota mit deutlichem und natürlichem Singen, Metall in der Stimme, angenehmer Vortrag; sich nicht nach vorn schiebend, sondern im musikalischen Einklang mit dem Klavier bleibend; für immer klaren mit markanten Akzenten angereicherten Klavierpart sorgt Ehefrau Hilda; Worte mit ch wie durch oder mich in alpenländischer Aussprache im Rachen gebildet, (1) bewegt, (2) dramatisch, (5) mehr deklamiert als gesungen, etwas wie gewollt, (20) am Ende betroffen, (21) mit Tremolo in der Stimme, der Situation angepasst

4-5

Christoph Prégardien

Michael Gees

Challenge

2012

70‘31

 

 

   

4

Karl Schmitt-Walter

Ferdinand Leitner

Telefunken       Hamburger-Achiv-für-Gesangskunst

1940-43

74‘33

 

ungekünsteltes Singen, an einigen Stellen nasales Timbre, kein jugendlicher Sänger, Sänger im Klangbild immer vorn, sehr direkt aufgenommen, weniger persönliche Teilnahme erkennbar, eher objektiv, das ändert sich erst bei den letzten Liedern, man wünschte sich insgesamt ein geschmeidigeres Singen. (1) 2. Strophe ausgelassen, (5) mehr Kern bei dramatischen Stellen, bei leisen macht sich auch etwas Säuseln bemerkbar, (6) zu sehr deklamiert, (11) ohne Vorschläge bei „finster“, „alleine“ und „schlägt“

4

Peter Schreier

Svjatoslav Richter

Philips    Eterna

1985

77‘07

 

▼, live

4

James Gilchrist

Anna Tilbrook

Orchid Classics

P 2011

73‘51

 

angenehm weiche, jedoch etwas wie kindlich klingende Stimme, stellenweise wie entrückt, nicht immer idiomatisches Deutsch, (1) vierte Strophe etwas langsamer, (11) zu langsam, (19) kaum geschwind, Tilbrook zuverlässige Begleiterin, (24) im Bass durchgehend langer Vorschlag – trotz der Einwände sympathische Darstellung

4

Peter Pears

Benjamin Britten

Decca

1963

73‘44

 

die vielgelobte Einspielung hinterlässt bei mir einen zwiespältigen Eindruck: Stimme im lyrischen Bereich nicht sehr wandlungsfähig, teilweise gaumige und hohle Tonbildung, verschluckte Konsonanten am Wortanfang und -ende, vor allem bei ch und sch, Gelungenes und Fragwürdiges/Verwunderliches stehen sich gegenüber; Britten locker, sehr wendig, prononciert; (1) eigenwillige staccato-Noten, dort wo keine vorgesehen sind, (6) rhythmische Unstimmigkeiten T. 3, 7 und ff bei Triolen gegen punktierte Achtel, (10) geänderte Wortwahl bei „fort mich wehen“ sowie „Stich sich regen“, (19) Flügel zu trocken – helles Klangbild

   

 

3-4

Julius Patzak

Jörg Demus

Preiser

1964

66‘42

 

Diese Aufnahme der „Winterreise“ erfolgte in Patzaks später Zeit, als er bereits 66 Jahre alt war. Seine Stimme erscheint hier wie nackt, damit auch eindimensional und mit verminderter Ausdruckskraft; sie kann keine Jugendlichkeit mehr vermitteln. Dazu kommt sein österreichisches Idiom, das mir bei ihm nicht unsympathisch ist, hier aber der Ausdruckskraft an manchen Stellen im Wege steht. Leider unterbricht der Sänger vorgegebene Gesangslinien immer wieder durch künstliche Pausen, auch innerhalb eines Wortes oder einer Silbe, das klingt doch manieriert. Hier zeigt sich nur noch ein matter Abglanz von seiner einstigen Größe.

3-4

Jonas Kaufmann

Helmut Deutsch

Sony

2013

69‘58

 

baritonal gefärbte Stimme; je lauter Kaufmann singt, desto schwerer wird die Stimme (z. B. (2)), (4) „heiße Tränen“ mit viel Druck herausgeschleudert, immer wieder plötzliches unmotiviertes Ausbrechen aus der zuvor angeschlagenen Linie ins f oder ff, z. B. (13) „mein Herz“, oder (15) „Treue bis zum Grabe“, Textänderung in (4): „erfroren“ statt „erstorben“, gelungen: (21) und (22). Partner Helmut Deutsch überzeugt vor dem Hintergrund langer Erfahrung mehr, einige Störgeräusche (2), (14), (16) und (18)

3-4

Ian Bostdridge

Leif Ove Andsnes

EMI

2004

69‘17

 

immer wieder seltsam zittriges Singen, hohl, wendige Stimme, kein idiomatisches Deutsch; gewiss ein heißes Bemühen, aber aus den gegebenen Umständen letztlich problematisch – Stimme und Flügel nicht bestens austariert, viele Pedalgeräusche eingefangen

2-3

Jon Vickers

Geoffrey Parsons

EMI    Warner  

1983

79‘47

 

„heißes Bemühen“, aber: kein idiomatisches Deutsch, schwere Stimme vom Hochdramatischen herkommend, die ihn als jungen Liebhaber unglaubhaft erscheinen lässt; immer wieder Probleme bei der Artikulation, z. B. bei ch, sch, kr, Übertreibungen bei f-Stellen, vieles klingt seltsam hohl oder nasal, zittrige Stimme bei (20), als Stilmerkmal gedacht? – Parsons trotz schöner gelungener Momente auf verlorenem Posten

 

Männerstimmen – Bariton/Bass:

   

5

Dietrich Fischer-Dieskau

Gerald Moore

EMI

1962

71‘19

 

5

Dietrich Fischer-Dieskau

Gerald Moore

EMI

1955

74‘27

 

5

Dietrich Henschel

Irvin Gage

Teldec

2000

70‘25

 

sehr differenzierter Vortrag, Sänger wie Pianist Meister von Schattierungen, (1) Gage passt den punktierten Rhythmus dem triolischen des Sängers an, (19) kaum geschwind, (24) beeindruckender Schluss

5

Jorma Hynninen

Ralf Gothoni

Ondine

1988

71‘57

 

angenehme kernige Baritonstimme mit guter Textverständlichkeit, eindringliche Darstellung unter besonderer Beachtung rhythmischer Abläufe, Sänger und Pianist ein hervorragendes Team, Gothoni mit sehr guter Differenzierung, setzt Akzente

5

Peter Mattei

Lars David Nilsson

BIS

2018

68‘33

 

durchgeformte Stimme, spricht in allen Lagen sehr gut an, differenzierter Vortrag, beste Textverständlichkeit, eindringliche Gestaltung des Textes, Konsonanten am Wortende jedoch teilweise verschluckt oder zu leise, überzeugende Tempi, beste Partnerschaft mit Lars David Nilsson

5

Josef Greindl

Hertha Klust

DGG

P 1957

72‘50

 

sonore Stimme mit gutem Kern, nasal, trotz des Umfangs immer wendig, Schuberts Phrasierungen umgesetzt, kein jugendlicher Wanderer; starke, emotional gefärbte Darstellung; sehr gute Textverständlichkeit, dynamische Gegensätze ausgespielt, stimmgewaltig, dabei immer sensibel für die jeweilige Situation; Greindl hinterlässt einen sympathischen Eindruck, im Gegensatz zu seinen zahlreich dokumentierten Hagen-Darstellungen – Hertha Klust in bester Partnerschaft

5

Heinz Rehfuss

Erik Werba

Westminster    forgotten records

1956

77‘04

 

Rehfuss mit Demut vor dem Text, dramatische Ausbrüche immer vom Text abgesichert, nicht abgehoben, runde Stimme, auch in der Höhe mit Kraft, Werba aufmerksamer Mitgestalter, (1) langsam, (9) Fermate T. 38 übergangen, (13) könnte etwas lockerer vorgetragen sein

 

   

4-5

Gerhard Hüsch

Hanns Udo Müller

EMI

1933

67‘27

 

weiche und abgerundete Stimme, viel legato, nicht immer junger Sänger, Gesangsstil entspricht hier und da nicht mehr heutigem Usus, (1) bewegt, 2. Strophe fehlt, (2) stürmisch, (5) etwas pathetisch, (7) kein festes Tempo, (13) Pianist: dynamische Differenzierung etwas lasch, (17) einige Pausen verkürzt, (23) zu langsam

4-5

Hans Hotter

Gerald Moore

EMI

1954

75‘42

 

4-5

Hans Hotter

Erik Werba

DGG

1961

70‘08

 

4-5

Gerard Souzay

Dalton Baldwin

Philips     Decca

1962

73‘48

 

heller Bariton, einzelne Tonverfärbungen, angenehme Stimme, meist bewegter Vortrag, unprätentiös, Baldwin achtet sorgsam in (24) auf die wechselnden Betonungen – viele Jahre waren Souzay und Baldwin ein anerkanntes und gefeiertes Künstlerpaar, eine Konstante im Liedgesang, nicht nur im angestammten französischen Repertoire, sondern auch im Bereich der deutschen Romantik, wovon ich mich in den 1970er Jahren selbst überzeugen konnte

4-5

Dietrich Fischer-Dieskau

Hermann Reutter

WDR      audite

1952

75‘16

 

4-5

Dietrich Fischer-Dieskau

Jörg Demus

DGG

1965

71‘16

 

4-5

Dietrich Fischer-Dieskau

Daniel Barenboim

DGG

1979

72‘56

 

4-5

Dietrich Fischer-Dieskau

Alfred Brendel

Philips

1985

69‘21

 

4-5

Roman Trekel

Oliver Pohl

Oehms

2007

64‘55

 

heller Bariton, engagiertes Singen, immer im Blick auf die Textaussage, Trekel stellt sein Singen auf die jeweilige Situation ein, Pohl ein aufmerksamer Partner am Flügel, insgesamt bewegte Tempi,

4-5

Olaf Bär

Geoffrey Parsons

EMI

1988

75‘11

 

uneitles und kultiviertes Singen, wunderbar abgerundete Stimme, Bär hütet sich vor Übertreibungen und kehrt sein Innerstes nicht bei jeder Gelegenheit nach außen, oft mäßige Tempi, sehr gute Partnerschaft

4-5

Wolfgang Holzmair

Andreas Haefliger

Capriccio

2009

73‘14

 

4-5

Gerald Finley

Julius Drake

hyperion

2013

74‘26

 

Finley stellt sich hinter das Werk, ehrliche Interpretation, die nichts beweisen, nicht interessant sein will; facettenreicher Vortrag, gute Textverständlichkeit, kein Überzeichnen bei f-Stellen, hier und da wünschte man sich ein etwas schnelleres Tempo; aufmerksame Klavierbegleitung, Pedalgeräusche, bestes Miteinander

 

   

4

Benjamin Appl

James Baillieu

Alpha

2021

69‘02

 

Der Wille, es anders zu machen als man es kennt, scheint Triebfeder der Interpretation zu sein. Das führt zu Überzeichnungen und Übertreibungen, f-Stellen fast immer ff: (7), (10), (21), (1) „die Liebe liebt…fein Liebchen, gute Nacht“ nahezu staccato, unmotiviert, (5) Klavier ohne Schuberts Akzente, (17) teilweise affektiertes Singen, (18) zu schnell, deshalb ohne Duft. Auf der anderen Seite auch überzeugende, ergreifende Leistungen. Sänger und Pianist ein gutes Team, leider viele Pedalgeräusche. Hier und da Anklänge an die Stimme Fischer-Dieskaus, Appls zeitweiligem Lehrer: ähnliches Timbre, Tonbildung z. B. (9) 2. Strophe, (18) Beginn

4

Dietrich Fischer-Dieskau

Gerald Moore

DGG

1971

71‘35

 

4

Dietrich Fischer-Dieskau

Klaus Billing

RIAS      audite

1948

77‘05

 

4

Dietrich Fischer-Dieskau

Maurizio Pollini

Orfeo

1978

73‘36

 

▼, live

4

Hans Hotter

Michael Raucheisen

DGG      Membran

1942/43

76‘11

 

4

Thomas Hampson

Wolfgang Sawallisch

EMI

1997

69‘34

 

große, aber bewegliche Stimme, wenig abwechslungsreich, kontrastarm, wenige Vokalverfärbungen; Hampson eher ein Erzähler als ein Betroffener, etliche Lieder klingen zu langsam, obwohl objektiv nicht der Fall; Sawallisch solide, es gehen jedoch wenige Impulse von ihm aus, (11) etwas lustlos und ohne Duft, (13) langweilig, (21) ohne innere Spannung

4

Hermann Prey

Wolfgang Sawallisch

Philips      DGG

1971

67‘59

 

4

Hermann Prey

Karl Engel

Electrola       EMI

1962

71‘03

 

4

Andreas Schmidt

Rudolf Jansen

hänssler

2000

66‘26

 

4

Andreas Schmidt

Rudolf Jansen

DGG

1990

72‘01

 

4

Bernd Weikl

Helmut Deutsch

Nightingale

1993

69‘30

 

heller Bariton, lockere Tongebung, teilweise etwas schmale Stimme mit wenig Schmelz, bei hohen f-Tönen opernmäßiges Tremolo, Tonbildung im hinteren Gaumenbereich, etwas distanziert, Deutsch zuverlässiger Mitgestalter, (1) immer wieder Sprechgesang, (3) „wolltet“ hoch, ohne Vorschlag

4

Dimitri Tiliakos

Vassilis Vorvaresos

Navis Classics

2015

75‘53

 

angenehme Baritonstimme; Vortrag mehr als Erzähler als Betroffener, mit einer Portion Selbstmitleid; gute Textverständlichkeit, Pianist zuverlässiger Begleiter, (1) gelassen, (5) 3. Strophe zu schön, (8) Intonation bei „vor ihrem…“ sieben Takte vor Schluss, (14) langsam, (19) etwas bieder, Klaviereinleitung ohne Duft

4

Matthias Goerne

Alfred Brendel

Decca

2003

74‘08

 

live, ▼

4

Wolfgang Holzmair

Imogen Cooper

Philips

1994

69‘50

 

4

Thomas Quasthoff

Charles Spencer

RCA

1998

72‘19

 

glaubhafte Darstellung, Stimme wünschte man sich jedoch mehr Wandlungsfähigkeit und mehr Farben, sie klingt bei lauten Stellen in der Höhe etwas rau, (1) 3. Strophe schneller, (4) punktierte Viertel als zwei Viertel, (11) „Auge“ nicht genau artikuliert, (13) wenig Spannung, Spencer zuverlässig, etwas routiniert und nicht bestens differenziert, (5) Sechzehntel-Triolen ohne Glanz, (16) Einleitung ohne Gestaltung, (19) kein Duft

4

Håkan Hagegård

Thomas Schuback

RCA

1983

72‘18

 

engagiertes Singen, wandlungsfähige und angenehm klingende Stimme, Aussprache jedoch nicht immer ganz idiomatisch, (6) Sänger setzt bei „Weh“ und später bei „auf“ eine Achtel zu früh ein, Schuback einfühlsamer Begleiter, (19) ohne Duft, etwas hölzern

   

 

3-4

Christian Gerhaher

 Gerold Huber

Arte Nova    RCA

2001

77‘51

 

gepflegtes Singen, sehr klar, Höhe und Tiefe gleichmäßig ausgebildet und austariert, einzelne Wörter lässt sich Gerhaher auf der Zunge zergehen; man vermisst an vielen Stellen das Miterleben, es hört sich an, als wenn der Sänger sein Schicksal einem anderen erzähle, die Lieder (1) und (5) klingen zu schön, Sänger und sein vorzüglicher Klavierpartner bilden ein gutes Team

3-4

Adrian Eröd

Eduard Kutrowatz

Gramola

2010

68‘17

 

unprätentiöses Singen, Stimme wenig wandlungsfähig, Möglichkeiten zum spannenden Vortrag nicht immer aufgegriffen, (4) fast atemlos voran; Pianist nur Begleiter, zuverlässig, jedoch ohne eigene Ideen, (6) punktierte Achtel des Klaviers passen sich den Triolen des Sängers an, (19) zu fest, kaum Duft, (24) Schuberts Akzente nicht umgesetzt

3-4

Matthias Goerne

Graham Johnson

hyperion

1996

73‘53

 

3-4

Matthias Goerne

Christoph Eschenbach

HMF

2013

74‘41

 

3-4

Dietrich Fischer-Dieskau

Murray Perahia

Sony

1990

71‘20

 

3-4

Siegfried Lorenz

Norman Shetler

Eterna   Berlin Classics

1986

78‘37

 

heller Bariton, Schöngesang vor differenziertem Vortrag, führt im Verlaufe des Zyklus zur Langeweile, viele längeren Noten mit Vibrato, präzise Klavierbegleitung, Shetler setzt jedoch keine eigenen Akzente, gut getroffen Nr. 5, 16, 18, 22 und 23

3-4

Kurt Moll

Cord Garben

Orfeo

1982

81‘53

 

Moll singt nur die Lieder, trifft weniger das Drama mit seiner Verzweiflung, in der Tiefe einige gequetschte Töne; wie ein Bass glaubwürdig mit der „Winterreise“ umgeht, hört man von Greindl, (4) legato wird immer wieder durch gestoßenes Singen ersetzt, (5) unterschiedliche Tempi, (6) sehr langsam, (9) einige Pausen verkürzt, (7) Intonation, (16) verschenkt, ohne Nachdruck, (23) zu langsam, Garben am Flügel nicht immer hinreichend prägnant: (5) und (13), nur Begleiter, kein Mitgestalter, geradezu langweilig (13), Pause in (16) T. 24 überspielt

3-4

Thomas Allen

Roger Vignoles

Virgin

1990

73‘28

 

etwas schwergängige (Wotan-) Stimme, kaum abwechslungsreich, wenig Tempokontrast, gute Textverständlichkeit, viele Lieder zu langsam, werden so schwerfällig, Tempomat?, routinierter Begleitung, (19) ohne Duft, kaum locker

3-4

José van Dam

Dalton Baldwin

Forlane

1990

78‘20

 

Stimme wenig wandlungsfähig, immer sehr ernst, wenig abwechslungsreich, wenig betroffen, Tonbildung hinten, gibt der Stimme einen ältlichen Charakter, Vokal a geht mehr in Richtung o, Höhe muss manchmal erkämpft werden, geringere Differenzierung, (9) zu langsam, (10) langsam, (14) „hab mich sehr gefreut“ wie ein Heldenbariton, (22) liegt hier etwas tief, (24) wieder zu langsam, Dalton ein zuverlässiger Begleiter, (13) jedoch zu laut

3-4

Florian Boesch

Malcolm Martineau

Onyx

2011

76‘14

 

uneinheitliche Darstellung, Intensität nicht gleichbleibend, stellenweise opernhaftes Singen (7), (15), viele Lieder messa di voce, führt zu geringer Abwechslung im Vortrag, (2) kaum geschwind, (4) „hier“ und „ihr“ jeweils am Ende der Zeile fast verschluckt, (5) zu viel Vibrato, (6) letzter Ton „Haus“ mit Fermate, (12) Klaviertriolen T. 28/29 und T. 40/41 ungleichmäßig; Martineau routiniert: Beginn (17), (13) ohne Delikatesse, wackelnder Rhythmus in den ersten Takten, T. 9 kaum p

3-4

Robert Holl

Naum Grubert

Challenge Classics

1995

76‘13

 

Wotan-Stimme, sängerisch hervorragend, ausgeglichen, kultiviert, Stimme und Vortragsweise passen jedoch kaum oder nicht zu den Texten, sie klingt kaum jugendlich, eher wie eine Generation vorher; sehr aufmerksame Klavierbegleitung, (1) sehr mäßig, fast-Stillstand, (4) mitreißend, (5) wie ein alter Mann, der sich an seine Jugendzeit erinnert, (8) überzeugend, im ersten Teil dozierend, (16) erste Strophe gut, in der „Grab“-Stelle jedoch wieder problematisch

3-4

Hermann Prey

Philippe Bianconi

Denon

1984

70‘50

 

3-4

Konrad Jarnot

Alexander Schmalcz

Oehms

2009

77‘22

 

hoher Bariton, immer wieder affektierte Momente, teilweise etwas künstliches Singen, z. B. (1), vorn gebildete Töne werden immer wieder in den hinteren Gaumenbereich verlegt, z. B. (4), (5) eine Karikatur des Liedes, (12) Melodielinie immer wieder parzelliert, auch (15), (8) Balance zwischen Sänger und Flügel nicht optimal, Schmalcz ein zuverlässiger Begleiter

3-4

Stephan Genz

Michel Dalberto

Claves

2010

67‘42

 

überlegte Darstellung, Stimme hier und da etwas kurzatmig, Lagenwechsel nicht immer geschmeidig, volle dynamische Bandbreite, jedoch für meinen Geschmack zu viele f/ff -Stellen, die dann übertrieben und opernhaft klingen; (4) immer wieder Phrasenenden wie verschluckt, (6) f-Stellen fast gebrüllt, (8) „Wanken“ verschluckt, Bösendorfer-Flügel im f mit hartem Klang, viele Grautöne, (zu) viele Pedalgeräusche, Dalberto kein Sensibilissimus, etwas grob und einfallslos, – vgl. Aufnahme mit Mitsuko Shirai ▼

   

 

2

Ernst Gerold Schramm

Alois Ickstadt

Opus

P 1990

68‘26

 

flattrige Stimme, nicht mehr ganz frisch, in den Liedern (7), (10) und (11) Stimme (wie)t hinten verortet, opernhafter Vortrag, wird der Stimmung der einzelnen Lieder nicht gerecht, ohne hinreichende Differenzierung; Selbstmitleid, erinnert an Prey, der jedoch mit mehr Geschmack aufwartet; versierter Pianist, jedoch wenig differenziert, teilweise leierhaft (4) starr (8) oder zu fest (13) – eine CD für die Fangemeinde

 

Interpretationen mit Begleitung eines Hammerflügels

 

5

Ernst Haefliger, Tenor

Jörg Ewald Dähler

Claves

1980

68‘49

 

HF von J. Brodmann, Wien ~ 1820 – Haefliger verfügt immer noch über eine helle, schlank geführte und sehr wendige Stimme, sie klingt noch nicht gealtert, kultiviertes Singen bei sehr guter Textverständlichkeit, (1) „Fremd bin ich eingezogen“ nicht legato, auch die entsprechenden folgenden Stellen, (2) ohne Fermaten, (6) Pianist rhythmisch ungenau bei Triole gegen punktierte Achtel, (20) Haefliger artikuliert überwiegend wie der Hammerflügel im Portato, (24) (absichtlich?) gestelzt – sehr gute Transparenz

5

Christoph Prégardien, Tenor

Andreas Staier

Teldec

1996

73‘31

 

HF von Johann Fritz, Wien ~1825, ▼

5

Hans Jörg Mammel, Tenor

Arthur Schoonderwoerd

Alpha

2005

68‘28

 

HF von Johann Fritz, Wien ~ 1810 – feinfühliger Umgang mit dem Notentext, differenzierter Vortrag, glaubhafte Interpretation, sehr wandlungsfähige klare und helle Stimme, schneller Wechsel von Spannung und Entspannung, überzeugende Tempi, bestes Miteinander, Schoonderwoerd setzt immer wieder Akzente

   

 

4-5

Michael Schopper, Bass

Andreas Staier

DHM

1988

68‘00

 

helle Bassstimme, klingt eher wie ein Bariton, überwiegend leicht geführt, immer deutliche Artikulation, ziemlich lineares Singen, angenehme Stimme, stellt immer wieder Brust- und Kopfstimme gegenüber; HF (keine Angaben zum Instrument) leider etwas asketisch, bei Prégardien eindrucksvoller – (1) im 3. Vers staccato, (5) „Die kalten Winde bliesen“ überzeugend, (9) 3. Vers wie (1) staccato, ähnlich in (10) und (11), beeindruckend

4-5

Peter Harvey, Bariton

Gary Cooper

Linn

P 2010

74‘27

 

HF keine Angabe – gutsitzende Baritonstimme, ausdrucksstarker Vortrag, man wünschte sich noch mehr Wandlungsfähigkeit, aufmerksame Begleitung von Gary Cooper, Ausdrucksmöglichkeiten des HF eingesetzt, (1) gesetzt, (5) Empathie zum Text, (6) punktierte Achtel dem Triolenrhythmus des Sängers angepasst, (11) etwas gezogen, (13) zu laut, deshalb weniger locker

4-5

Jan Kobow, Tenor

Christoph Hammer

Atma

2011

63‘24

 

HF von Joseph Brodmann, Wien, ~1810 – Kobow und Hammer liefern eine tadellose Interpretation ab, Stimme jedoch weniger wandlungsfähig, es gibt keine Überraschungen; HF mit ausgedünntem Klang, noch nicht so weit vom Cembalo entfernt, vor diesem Hintergrund kann sich die Stimme ungefährdet entfalten, stimmige Tempi, (10) T. 30 Notenwechsel bei „fort“ und T. 60 entsprechend bei „Stich

   

 

4

Thomas Bauer, Bariton

Jos van Immerseel

ZigZag

2009

70‘46

 

HF von Christopher Clarke 1988 nach Anton Walter, Wien – Bauer weniger betroffen als Prégardien und Schopper, mehr Erzähler, im p-Bereich und bei langsamen Liedern wird fast jede Note mit vorsichtig dosiertem Vibrato versehen, so wirkt der Gesang etwas künstlich, z. B. (19) oder (21), Immerseel eher routiniert, sehr gute Transparenz – (1) zu schön, (13) zurückhaltendes Tempo, (15) und (18) gelungen, (22) trotzig

4

Dominik Wörner

Christoph Hammer

Ars

2006

66‘49

 

HF von Conrad Graf, Wien, 1827/28 – differenzierte und glaubwürdige Darstellung, bleibt aber hier und da etwas passiv, Stimme spricht in allen Lagen gut an, sehr gute Zusammenarbeit zwischen Wörner und Hammer; HF etwas stumpf, ganz deutlich in (19), liegt es evtl. an der Akustik des Aufnahmeraumes?

   

 

3-4

Ian Patridge, Tenor

Richard Burett

Amon Ra

1988

63‘18

 

HF Graf, Wien, ~1820 – bewegliche Tenorstimme, teilweise nasal, etwas schwache Höhe, bei der Abfolge kurzer Töne wird das Singen hier und da undeutlich, nicht immer idiomatisches Deutsch, insgesamt engagiertes Singen, etliche Lieder schneller als erwartet vorgetragen, Pianist etwas glatt, Dynamik nicht immer nach Notentext, Instrument nicht sonderlich farbig – (1) viele dynamische Schattierungen, (13) „Herz“ gestemmt, (19) Stimmung nicht gut getroffen

   

 

Markus Schäfer, Tenor

Tobias Koch

Avi

2018

64‘08

 

HF aus Ostdeutschland, ~ 1830 – Interpreten „plädieren im Sinn der Hörkonventionen der Schubertzeit für mehr Spontanietät, Individualität, Betonung der Einmaligkeit des musikalischen Moments…“, sie haben sich erlaubt „eigene musikalische Kommentare einzubringen, viel Interpretatorisches, eine freie Auseinandersetzung sozusagen mit dem überlieferten historischen Material.“ Sie stützen sich bei ihrem Vorgehen auf Aufzeichnungen von Schuberts vertrautem Sänger Johann Michael Vogl bezüglich des Vortrags von Schubert-Liedern, die er in seine Noten eingetragen hat, also den Urtext bearbeitete (Angaben laut Booklet). Änderungen sowohl der Singstimme als auch der Begleitung, Schuberts Urtext als Folie für persönliche Auslegungen. Engagierte Darstellung, letztlich aber eine Karikatur; überwiegend bewegte Tempi, ziemlich ohne Eingriffe: Lieder Nr. 7, 8. 15, 19, 20 und 23, beeindruckend (21), (24) mit Lautenzug – trotz der Eingriffe hörenswert

 

Frauenstimmen

Die grundsätzliche Frage: können Frauenstimmen das Leid des Wandergesellen adäquat artikulieren und dem Hörer vermitteln, kann man natürlich stellen. Einige Sängerinnen in Vergangenheit und Zukunft sehen darin jedoch kein Problem. Bereits in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts trugen so bekannte Sängerinnen wie Lotte Lehmann und Elena Gerhardt den Liederzyklus öffentlich vor und machten auch Aufnahmen. Von Gerhardt befinden sich 8 Lieder in meinem Archiv, aber auch Einzellieder von Elisabeth Schumann und der Hochdramatischen Frida Leider. Gesamtaufnahmen sind selten, die letzte stammt wohl von Joyce Di Donato.  

 

5

Christine Schäfer

Eric Schneider

Onyx

2003

68‘26

 

Protagonisten machen sich Schuberts Liederzyklus voll zu Eigen, engagiert, beste Differenzierung, Schäfer setzt ihre lockere und wandlungsfähige Stimme zur Charakterisierung der jeweiligen Stimmung vorteilhaft ein, blitzschneller Stimmungswechsel, Vibrato könnte noch etwas zurückgefahren werden, Schneider setzt immer wieder deutliche Akzente, z. B. in (3) fz in der linken Hand – (1) bewegt, (2) aufgewühlt, (19) erfüllt, (22) zupackend

   

 

4

Joyce Di Donato, Mezzo

Yannick Nézet-Séguin

Erato

2019

70‘15

 

engagiertes Singen, gute Textverständlichkeit, Sängerin versucht opernhaftes Singen zu vermeiden, was jedoch nicht immer gelingt (Vibrato) z. B. (21); Pianist ein aufmerksamer Begleiter, der in die Dramaturgie des Liederzyklus kaum eingreift, so klingt diese Winterreise überwiegend harmonisch – durchgehend sehr leises Grundgeräusch, ab und zu NY-Metro im Unter-/Hintergrund, live-Aufnahme?

4

Brigitte Fassbaender, Mezzo

Aribert Reimann

EMI

1988

69‘47

 

engagierte Darstellung; Fassbaender meint, was sie singt; dramatico, manchmal auch hysterisch, teilweise flattrige Stimme, Beschleunigungen z. B. (12), stellenweise auch opernhafter Vortrag, (1) Übergang T. 32/33 Abweichung vom Notentext, (8) sehr emotional, (10) rhythmisch, Reimann mit Fassbaender auf einer Wellenlänge, jedoch nicht immer locker, (7) punktierte Achtel der Klavierstimme dem Triolenrhythmus der Sängerin angepasst, bei einigen Liedern leise Pedalgeräusche

   

 

3-4

Mitsuko Shirai

Hartmut Höll

Capriccio

1989/90

78‘02

 

eine Aufnahme, auf die man verzichten kann; Tonbildung hinten, teilweise mit (viel) Vibrato, Vokalverfärbungen, höhere Lage teilweise mit Druck, insgesamt gute Textverständlichkeit, (1) durchlaufende Achtel des Flügels wie gestoßen, nervig, (3) stellenweise auch hier, (5) entrückt, elegisch, auch (6), (10) verschluckte Sechzehntel bei „der Sturm half fort…“, (11) T. 10-13 Nachlassen der Spannung, (19) und (24) zu langsam, (22) etwas hölzern – Aufnahme im Tonstudio van Geest, keine Angabe über das Instrument, alter Bösendorfer?, Ähnlichkeit mit Flügel in der Aufnahme von Stephan Genz, ebenfalls im Studio van Geest produziert, dort kam ein Bösendorfer zum Einsatz

3-4

Christa Ludwig

James Levine

DGG

 1986

74‘06

 

Ludwigs Stimme mit Dauervibrato, teilweise waberndes Singen, Vokalverfärbungen, viele Lieder zu langsam, (6) setzt mehrmals zu früh ein, (22) zu fest, Levine routiniert, hält sich insgesamt zurück, kein fruchtbares Miteinander, teilweise wünschte man sich eine bessere Differenzierung, z. B. (4)

   

Hinweise zu Interpreten und Interpretationen

 

 Peter Anders

 

 Zwei Aufnahmen hat uns der bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben gekommene Tenor hinterlassen. Die erste entstand während der Endphase des Bombenkriegs in Berlin in drei Sitzungen im Januar und März 1945 und zwar im kaum beschädigten Gebäude des Reichsrundfunks in der Masurenallee. Es ist kaum nachzuvollziehen, dass sich in dieser für Leib und Leben bedrohlichen Zeit noch Künstler zusammensetzten und die Konzentration für die Aufnahme von Schuberts „Winterreise“ aufbrachten. Die Platte lässt von alledem nichts spüren. Anders gelingt eine eindringliche Deutung des Liederzyklus‘, bei der allerdings noch einige zeitbedingte Portamenti zu hören sind und hier und da opernmäßiges Pathos stehengeblieben ist, ohne übertrieben zu wirken. Die ersten drei Lieder klingen trotzig im Vortrag, Lied 7 mit Betroffenheit, überzeugend Lied 8. Im Lied 11 schafft Anders in den langsamen Abschnitten eine berührende Innigkeit. Am Flügel saß damals Michael Raucheisen, der bis dato mit den unterschiedlichsten Sängerinnen und Sängern für die RRG hunderte von Liedern aufgenommen hatte, später veröffentlicht in einer 66 CD umfassenden Box von Membran. Leider ist der Flügel klangtechnisch hinter die Stimme positioniert, er klingt auch etwas topfig und nicht so präsent, wie man es sich wünschte. Drei Jahre später nahm Anders beim gerade gegründeten WDR die „Winterreise“ nochmals auf, jetzt begleitete ihn Günther Weißenborn, der sich als versierter Mitgestalter erweist. Auffallend sind die vergleichsweise schnelleren Tempi. Anders singt nun etwas lockerer, auch mit weniger Pathos. Deutete sich da eine Trendwende beim Liedgesang an? Nicht vergessen werden soll seine nach wie vor prächtige Höhe, die mühelos erreicht wird. Leider ist der Klang bei einigen lauten und hohen Stellen ein wenig verzerrt. Der Flügel ist nun präsenter eingefangen und klingt deutlicher als drei Jahre zuvor.

 

Hans Hotter

 

Hotters Vortrag der „Winterreise“ ist der extreme Gegenpol von Fischer-Dieskau. Er beruft sich bei seinem Vortragsstil auf einen Bericht des Schubert-Freundes Leopold von Sonnleithner: Schubert duldete nie heftigen Ausdruck im Liedgesang… Der Liedersänger soll in der Regel nur fremde Erlebnisse und Empfindungen erzählen; er stellt nicht selbst die Person vor, deren Gefühle er schildert. Hotter berichtet über seine Auffassung der Winterreise: Je genialer und „populärer“ ein Kunstwerk ist, umso werkgetreuer muß der Interpret sein. Der beinahe volksliedhafte Grundcharakter der „Winterreise“ kommt nur zum Vorschein, wenn man ihn mit Einfachheit und unter völliger Hintansetzung von eigenwilliger Ausdeutung begegnet. Ob er nur seinen eigenen Standpunkt deutlich machen oder seinen Vortragsstil von dem seines Kollegen Fischer-Dieskau abgrenzen wollte, sei hier einmal dahingestellt. Der als Wotan-Darsteller auf der ganzen Welt bekannte und berühmte Bass-Bariton hat neben seinen vornehmlichen Tätigkeiten auf den Opernbühnen immer wieder Zeit gefunden für Liederabende, wobei Schuberts „Winterreise“ an vorderster Stelle stand. Zum ersten Mal in seinem Sängerleben trug er sie 1941 in Hamburg vor. Ein Jahr später verpflichtete ihn die DGG zu einer Gesamtaufnahme, die in Berlin stattfand. Einige Lieder wurden ein Jahr später nochmals aufgenommen. Hotters Begleiter war Michael Raucheisen, neben Sebastian Peschko damals der bekannteste Liedbegleiter im deutschsprachigen Raum. Die Stimme vermittelt hier den Eindruck an der Schwelle des Greisenhaften, obwohl der Sänger damals erst 31 Jahre alt war. Auch eine geringe Wandlungsfähigkeit ist nicht zu überhören. Hier in dieser Aufnahme, später kaum noch, muss Hotter immer wieder mitten in einer Phrase nachatmen, das ist vermutlich eine Folge von Asthma-Problemen, die ihm zuweilen zu schaffen machten, wie er in seiner Biographie berichtet. Auch noch hingewiesen sei auf verschluckte Anfangskonsonanten, wie das sch, oder Endkonsonanten wie das z. Auch einige übertriebene Betonungen sind nicht zu überhören. In (1) setzt Hotter nach dem Klaviervorspiel langsamer ein als es Raucheisen vorgegeben hat. Überzeugend dagegen das Absetzen bei „Gute Nacht“ und „sacht, sacht“. (16) wird nicht genügend locker gesungen, (19) könnte etwas bewegter sein. Das letzte Viertel der Lieder ist deutlich von Resignation geprägt. Raucheisens Klavierspiel wünschte man sich hier und da exakter am Notentext. Noch während des 2. Weltkrieges nimmt die englische Columbia den Sänger unter Vertrag, damit wechselt er auch zum Begleiter Gerald Moore, der bereits spätestens seit 1938 bei der Aufnahme von Hugo-Wolf-Liedern in Berlin mitwirkte und mit deutscher Lyrik vertraut war. Zusammen mit Hotter nimmt Moore 1954 in London die „Winterreise“ auf. Eine größere Erfahrung durch vorangegangene öffentliche Aufführungen schlagen nun positiv zu Buche: Hotters Stimme ist gereifter und wird gleichmäßiger geführt als in der früheren Aufnahme. Bei allen seinen Aufnahmen fällt an einigen Stellen die Verkürzung von Vokalen zugunsten von Konsonanten auf, was den melodischen Fluss unterbricht, z. B. „Wonne“ wird zu „Wonnnne“, oder „lustig“ zu „lusssstig“. Erst spät habe ich (vermutlich) die Ursache gefunden: In einer TV-Sendung von August Everding äußert er sich so: Ich stamme aus einer Zeit, in der der Gesangslehrer nicht nur die Stimme ausgebildet hat, sondern dem Schüler versucht hat zu erklären, dass die Gesangsstimme organisch aus der Sprechstimme kommt, also sich an dem Sprechen zu orientieren hat. Also muss „Wonnne“ und nicht „Wone“ gesungen werden.  Auch Moore ist in punkto Genauigkeit der Darstellung seines Kollegen überlegen.

 

Dietrich Fischer-Dieskau

 

Ich kenne keinen anderen Sänger, der sich über so einen langen Zeitraum mit Schuberts „Winterreise“ beschäftigt hat. Allein vier Studio-Produktionen für Electrola und DGG sind zu verzeichnen, dazu zwei für den RIAS Berlin sowie den Kölner WDR. Außerdem sind vier weitere Mitschnitte diverser Labels auf dem Markt.

Ganz am Anfang seiner Beschäftigung mit dem Liederzyklus stand eine Aufnahme des 23jährigen Baritons für den RIAS Berlin, der sein Gesangsstudium bei Hermann Weißenborn in Berlin noch nicht abgeschlossen hatte. Die für den Rundfunk produzierte Einspielung fand viele Jahre später auch als Raubpressung Eingang auf den Schallplattenmarkt, dabei muss das Hören der Platten kein Genuss gewesen sein. Im Booklet der audite-CD wird von den Schwierigkeiten bei der Aufnahme im Nachkriegs-Berlin berichtet. Dort ist vor allem mit Mängeln bei der Studiotechnik sowie Frequenzschwankungen im Stromnetz die Rede. Außerdem bestand die RIAS- und spätere DGG-Produzentin Elsa Schiller zu Beginn der Aufnahmesitzung darauf, den hauseigenen Pianisten Klaus Billing einzusetzen und nicht den mit FD mitgebrachten Musiker. Nach 11 Stunden Aufnahmezeit, so erinnert sich der Bariton, stellte der Aufnahmestab fest, dass die ersten 8 Lieder aufgrund eines Materialfehlers nicht sendetauglich seien und neu produziert werden müssten. In todmüdem Zustand seien dann die 8 Lieder nochmals aufgenommen worden. Wobei, trotz höchster Anstrengung aller Mitwirkenden, die Intensität der Darstellung zu Beginn der Aufnahmesitzung jedoch nicht mehr erreicht werden konnte. Die Aufnahme wurde immer wieder im RIAS gesendet und war trotz der Mängel ein Erfolg. Sicher hat auch das Suget des Liederzyklus die Menschen, die tagtäglich mit Elend, Entbehrung und Hunger zu kämpfen hatten, tief beeindruckt.

Für die CD-Ausgabe wurden die Originalbänder durch ein aufwendiges Verfahren bereinigt, dabei gelang es auch, die Original-Tonhöhe in etwa wiederherzustellen. Leider konnten einige Verzerrungen bei hohen lauten Stellen nicht entfernt werden. Das sollte auch eine Warnung an nostalgisch veranlagte Musikfreunde sein, sich heute noch alte Schwarzmarkt-LPs zuzulegen; auch vor frühen CDs, die vermutlich nur als Kopie der LPs produziert wurden, sei gewarnt. Gegenüber dieser ersten Aufnahme kann man, zumindest technisch, die folgende für den WDR als Luxusausgabe empfinden, auch sie wurde von audite auf CD herausgebracht. Am Flügel saß der Komponist und Liedbegleiter Hermann Reutter, der für ein hohes Niveau sorgt und nicht dem Sänger den Vortritt lässt. Während die erste Aufnahme Fischer-Dieskaus hauptsächlich als Stimmdokument gesehen werden darf und bei der gestalterische Freizügigkeit vor textbezogenem Singen steht, begegnet uns hier FD mit mehr Klangfülle. Die 1948 erfolgte Hervorhebung von Konsonanten an Wortenden wird jetzt wieder zurückgefahren, jedoch ein leichtes Forcieren an gewissen Stellen (z. B. in (1) bei „an dich hab ich gedacht“) bricht sich Bahn, was in späteren Aufnahmen noch mehr auftritt. Sehr überzeugend klingt das vorsichtige Ritardando in (19) bei „ihm weißt ein helles Haus“.

Drei Jahre nach dieser WDR-Aufnahme verpflichtet ihn die deutsche EMI-Tochter Electrola zur ersten Plattenaufnahme. Hier trifft FD auf den englischen Pianisten Gerald Moore, der für die nächsten Jahrzehnte sein bevorzugter Klavierpartner werden sollte. Moore, der schon viele Jahre Erfahrung als erfolgreicher Klavierbegleiter vorweisen kann, gibt dem Klavierpart jedes einzelnen Liedes seine besondere Physiognomie (Rhythmus, Beachtung der Pausen, Phrasierung, dynamische Abstufung). Bei FD beobachtet man nun eine weitere intensive Beschäftigung mit Schuberts Vertonung von Müllers Liedtexten, dabei kommt es immer wieder zu leichter Dramatisierung des Textes, wenn es ihm angebracht erscheint. Das wird sich in den kommenden Jahren noch fortsetzen. Insgesamt gesehen halte ich diese Einspielung aus dem Jahr 1955 für eine der besten Aufnahmen der Winterreise, darüber hinaus klingt sie für diese Zeit recht gut. Sie entstand am Ende der Mono-Zeit und es dauerte nur wenige Jahre, bis die Electrola mit denselben Interpreten eine Stereo-Version folgen ließ (1962). FD pflegt hier ein schlankes, ziemlich natürliches Singen, er sendet keine Botschaft aus und konzentriert sich überwiegend auf die Aussage des Textes, eine Spitzenaufnahme!

Das kann man von der dritten Aufnahme dieses Teams, die 1971 für die DGG entstand, nicht sagen. Die Stimme hat etwas von der Fülle und Rundung früherer Jahre verloren. Die melodische Linie wird zugunsten kurzer Floskeln aus einzelnen Tönen verlassen. Manche Stellen klingen von oben herab betrachtet, nicht ganz ernst genommen: (3) „und dringt doch aus der Quelle“ oder (4) „Ich will den Boden küssen“. In (7) stört ein gestelztes Singen verbunden mit verkürzten Notenwerten. Die Aufnahme bewegt sich auf dem Weg von mehr Fischer-Dieskau und weniger Schubert/Müller.

Gerald Moore hebt in seinen Erinnerungen „Bin ich zu laut?“ ausdrücklich FDs Rhythmusgefühl hervor, das ihn vor allen Sängern auszeichne.

 

Fischer-Diskaus zweiter ständiger Klavierbegleiter Jörg Demus weist in seinem uneitlen Klavierspiel nicht die Prägnanz von Moore auf, dass lässt sich z. B. gut in Lied 13 beobachten, er gefällt mir aber besser als des Sängers spätere Partner, die im Hauptberuf Pianisten sind, nicht Liedbegleiter. Die Aufnahme der DGG von 1965 fällt auch sängerisch hinter ihre Vorgänger mit Moore zurück. In Lied 6 bringt er die Stellen „Manche Trän‘ aus meinen Augen“ - „seine kalten Flocken saugen“ zu larmoyant, als hätte hier H. Prey vor dem Mikrophon gestanden. Immer wieder beobachtet man die Verkürzung von Notenwerten bei schnellem Tempo, was zu einer Zerstückelung der Melodielinie führen kann, z. B. bei „Hähne“ in (11).

Der Mitschnitt von den Salzburger Festspielen 1978 mit dem noch jungen Maurizio Pollini als Begleiter enttäuscht mich. Das liegt jedoch weniger am Pianisten als am Sänger. Fischer-Dieskaus helle Baritonstimme klingt hier noch heller, bei vielen Stellen liebt er einen eher deklamatorischen Vortrag, an anderen verfällt er in einen theatralischen, affektierten oder opernhaften Tonfall. Hier stellt sich auch die Frage, ob lautes Singen in Gebrüll ausarten muss? Pollini erweist sich als Begleiter als gute Wahl, der aufmerksam Schuberts Notentext umsetzt, z. B. in (15), wo er die Melodielinie zurückhaltend, aber doch eindringlich hervorhebt, oder beim „Leiermann“, wenn er Schuberts Betonungen in den Takten 4/5 und 7/8 genau darstellt. Auffallend jedoch die zu legato umgeformten staccato-Achtel der linken Hand vor der ersten und dritten Strophe in (13), die nicht vom Notentext abgesegnet sind. Leider ist der in Salzburg eingesetzte Flügel mit einem harten und metallischen Klang behaftet, der m. E. wenig zur „Winterreise“ passt. Der Höhepunkt dieser Interpretation liegt in den letzten Liedern des Zyklus.

Ein Jahr nach dieser Aufführung geht FD nun mit Daniel Barenboim ins Aufnahmestudio, um sich erneut der Winterreise zu stellen. Es ist erfreulich zu beobachten, dass er nun auf den Pfad sängerischer Tugenden zurückkehrt. Barenboim unterstützt ihn mit exakter, teilweise auch gewichtiger, Begleitung, die jedoch kaum eine eigene Handschrift zu erkennen gibt. Das sieht bei der folgenden Studio-Produktion für Philips (1985) besser aus. Brendel entlockt seinem Flügel viel Klang, damit bewegt er sich auch von der Rolle des nur-Begleiters zum echten Partner, der auf genaue Umsetzung der Textvorlage bedacht ist. FD verlässt leider wieder den bei Barenboim gelobten Gesangsstil und verfällt in interpretatorisch fragliches Terrain mit (zu) vielen sängerischen Übertreibungen. Höhepunkte sind hier die Lieder Nr. 5, 7, 19-21. Wenn hier bereits der Alterungsprozess von Fischer-Dieskaus Stimme nicht zu überhören war, trifft dieser noch deutlicher in seiner letzten Aufnahme zu Tage, einer Videoproduktion aus Berlin, die Sony auch als CD herausgebracht hat. Die Stimme verfügt nicht mehr über das Volumen früherer Jahre, klingt abgesungen, vieles klingt dürr und hohl, vergleichbar einem Ast mit nur noch wenigen Blättern. Es fehlt ihr nun der genau fokussierte Sitz. Dazu kommen Stimmverfärbungen sowie erneut ein übertrieben deklamatorisches Singen an vielen Stellen. Am Flügel sitzt nun der Pianist Murray Perahia, der bisher kaum als Liedbegleiter hervorgetreten ist, hier hinter den meisten seiner Kollegen rangiert. Seine Mitwirkung klingt wie einstudiert, ohne eine Empathie für den Liederzyklus erkennen zu lassen. Besonders enttäuschend Lied 19, wenn Perahia kein Gespür für den besonderen Duft dieses Liedes erkennen lässt. Musste diese Aufnahme noch sein? Sie schädigt den Ruf der früheren besseren Aufnahmen dieses Ausnahmesängers.

 

Hermann Prey

 

Im Gegensatz zu Fischer-Dieskau verfolgte der drei Jahre jüngere Prey bei seinen Liedvorträgen weniger den dramatischen Ausdruck, die Emphase, sondern rückt das Gefühlshafte mehr in den Vordergrund und wendet sich damit mehr dem Publikum zu. Verfärbungen des Klangs vor allem bei a, au, und ei, sowie zum Verschleifen von hohen zu tiefen Tönen weisen in Richtung Larmoyanz. Prey hat, wie andere Interpreten auch, eine genaue Vorstellung vom Werk und setzt sie um, verfügt jedoch nicht über die Ausdrucksmöglichkeiten seines Kollegen FD und steht deshalb er immer hinter diesem zurück. Insgesamt hat Prey drei Studioeinspielungen der „Winterreise“ vorgelegt. Die erste entstand 1962 für Electrola mit Karl Engel am Flügel, der musikalisch und sorgfältig begleitet, im Vergleich zu Moore aber etwas trocken, weniger ausdrucksvoll wirkt, vielleicht auch deshalb, dass er sich in der dynamischen Gestaltung etwas zurückhält, um nicht dem Sänger vorzugreifen. Lied (1) wird zurückhaltend gesungen (2) leise, aber trotzdem intensiv die Stelle „Der Wind spielt drinnen“. Lied (5) mit mehr Geschmack als erwartet, ohne Tränen in den Augen, (16) Textänderung bei „manches bunte“, (20) „keiner“ sehr derb im Ausdruck, (23) etwas übertrieben „neulich“. Neun Jahre später erfolgt eine Neuaufnahme, jetzt für Philips, mit Wolfgang Sawallisch, der immer wieder gern vom Dirigentenpult zum Flügel wechselt. Er bleibt nicht nur Begleiter, sondern entdeckt immer wieder Besonderes in der Klavierstimme. Sein Klavierspiel ist schlank, beweglich bei prägnantem Anschlag, z. B. (4), in (19) vermisst man jedoch den von Schubert hineinkomponierten Duft. (1) auch hier zurückhaltend schlicht, (2) jedoch mit viel mehr Dramatik, gelungen die Lieder 21, 23 und 24.

Preys dritte Einspielung entstand 1984 für den japanischen Elektrokonzern Denon, der sich einige Jahre mit klanglich hervorragenden CDs auf dem europäischen Markt behaupten konnte. Preys Partner am Flügel war der junge französische Pianist Philippe Bianconi, der hier jedoch kaum eigene Vorstellungen einbringt, in (5) fehlt es an Duft in der Einleitung, (13) wünschte man sich rhythmisch profilierter und in (18) ist der Flügel zu schwerfällig. Preys Aktivposten sind unterdessen auch geschrumpft, mehr Larmoyanz und Tränen in der Stimme lassen sich nicht überhören, z. B. beim „Lindenbaum“. In (15) stößt Prey bei „Treue bis zum Grabe“ an die Grenzen des Geschmacks, zu viel Vibrato beobachtet man in (21) und (23). Insgesamt ist Preys dritter „Wanderer“ stimmlich gealtert, auch weniger präsent aufgenommen als bei den früheren Aufnahmen.

 

Peter Schreier

 

Die Schubert-Interpreten Schreier und Svjatoslav Richter treffen sich in Dresden bei der „Winterreise“, da muss das Herz höherschlagen. Leider entspricht das akustische Ergebnis nicht den hochgeschraubten Erwartungen, obwohl Schreiers helle Stimme mit bester Textverständlichkeit, sehr beweglich, mit einer sicheren Höhe versehen ist, das sind beste Voraussetzungen für die Gestaltung der einzelnen Lieder. Auf der anderen Seite muss festgestellt werden, dass die Stimme hier nicht sehr farbig geführt wird und weniger wandlungsfähig erscheint. Gleich das Eingangslied kommt etwas wie doziert aus den Lautsprechern. Es wird langsam interpretiert, wie auch der „Lindenbaum“, in dem die 3. Strophe jedoch schneller genommen wird. Auch für andere Lieder nehmen sich Schreier und Richter, die hier im besten Einvernehmen zu erleben sind, mehr Zeit als gewöhnlich. In (10) vernimmt man einen Tonwechsel bei „fort mich wehen“ sowie „Stich sich regen“, jeweils beim zweiten Mal. Schreiers Stimme ist etwas zurückgesetzt und die live-Aufnahme klingt auch etwas hallig. Ständige Huster runden den zwiespältigen Eindruck ab.

Sechs Jahre später erfolgt eine Studioproduktion für Decca, bei der András Schiff am Bösendorfer Platz nimmt. Diese Interpretation hinterlässt einen besseren Eindruck, da sich die Interpreten näher sowohl an der Musik als auch am Text bewegen, man spürt als Hörer mehr aktive Teilnahme als in der früheren Aufnahme, z. B. wird im Eingangslied „Gute Nacht“ natürlicher musiziert. Auch werden etliche Lieder nicht mehr so langsam gesungen/gespielt. Die in (10) beobachteten Tonwechsel trifft man jedoch auch hier an. Im Ganzen gesehen handelt es sich um eine Spitzeninterpretation.

 

Christoph Prégardien

 

Prégardien hat Schuberts „Winterreise“ zweimal aufgenommen. Bei der älteren Aufnahme wirkte Andreas Staier am Hammerflügel mit. Herausgekommen ist eine starke Interpretation aufgrund einer hervorragenden Textvermittlung inkl. des literarischen Hintergrundes, sehr gute Artikulation, die das eigentliche Singen nicht verdrängt. Die beiden Abteilungen des Zyklus‘ werden durch eine kleine Pause zwischen den Liedern 12 und 13 voneinander abgesetzt. Staier immer ein aktiver Mitgestalter, sein Instrument klingt hier viel farbiger als bei Schopper, hier und da Arpeggien – (1) einige rit., (zu) schön gesungen, zu gepflegt, (2) jetzt starker Kontrast, (10) in der E die Ruhe gut vermittelt, (13) HF mit mehr Klang, (21) sehr langsam, sehr eindringlich. 16 Jahre später erfolgt eine Neuaufnahme mit seinem inzwischen ständigen Begleiter Michael Gees am Flügel. Beide präsentieren sich als eingespieltes Team, auch hier erlebt man einen höchsten Einsatz, jedoch klingt die frühere Aufnahme für mich authentischer, da unmittelbarer empfunden. Die Stimme klingt jetzt etwas dunkler und besitzt nicht mehr den Schmelz von früher, die Höhe erreicht Prégardien nun nicht immer so mühelos – (5) Triolenbegleitung in der E nicht ganz klar, (8) zu viel Pedal in der E, auch hier werden die beiden Teile mittels einer kleinen Pause voneinander getrennt.

 

Andreas Schmidt

 

Ohne Hörerfahrung mit der „Winterreise“ kann man an Andreas Schmidts erster Einspielung (DGG 1990) Gefallen finden, gesangstechnisch ist da kaum etwas auszusetzen, die Stimme sitzt hervorragend, Höhe und Tiefe sind sehr gut ausgeglichen und eine immer deutliche Artikulation bedingt beste Textverständlichkeit. Leider erreicht Schmidt, trotz hohem Engagement, über schönem ausgeglichenem Gesang nicht das Essentielle hinter den Liedern, er singt oft etwas vordergründig, unbeteiligt, einförmig und neutral. Wo erlebt man ihn einmal richtig betroffen? Sein Klavierpartner Rudolf Jansen glänzt als aufmerksamer Begleiter mit differenzierendem Vortrag. Vielleicht war der Sänger im Nachhinein selbst nicht ganz zufrieden mit seiner Leistung und legt wieder zusammen mit Jansen eine zweite Aufnahme vor (hänssler 2000), die etwas mehr überzeugt, da Schmidt mit seinem Singen jetzt näher am Text bleibt, jedoch nicht immer.

 

Wolfgang Holzmair

 

Nach seiner Philips-Aufnahme der „Winterreise“ in Begleitung von Imogen Cooper legte der österreichische Bariton 15 Jahre später eine weitere Interpretation beim Label Capriccio vor, jetzt begleitet von Andreas Haefliger am Flügel, der mich beim ersten Hören an einen Hammerflügel erinnert. In der Erstaufnahme ist Holzmairs angenehm klingende, jugendliche Stimme mit guter Textverständlichkeit ein Pluspunkt der Aufnahme. Leider setzt er immer wieder ein leichtes Vibrato ein. Cooper versucht ihrem Partner die beste Unterstützung zu geben, bringt jedoch kaum eigene Ideen in ihr Spiel ein, es hinterlässt bei mir einen neutralen und harmlosen Eindruck. In Holzmairs zweiter Einspielung erleben wir einen gereiften Künstler, der den Notentext neu durchdacht hat, viele Stellen werden jetzt mit etwas mehr Nachdruck versehen und klingen nun persönlicher. Z. B. wird die Stelle „dass ihr erstarrt zu Eise“ in (3) nun eindringlicher als in der älteren Produktion dargeboten. Der Gebrauch des Vibrato wird jetzt etwas eingeschränkt. Haefliger ist ein Partner auf höchstem Niveau, z. B. ist die durchlaufende Triolenbegleitung in (4) eindringlicher als bei Cooper. Auch im folgenden Lied gelingt ihm die Stelle „und seine Zweige riefen“ mit mehr Emphase. Holzmairs Stimme erinnert mich entfernt an die von Julius Patzak.

 

Matthias Goerne

 

Auch wenn ich jetzt viel Widerspruch von Verehrern des Sängers ernte, bin ich der Ansicht, dass Goernes Stimme, speziell hier bei der „Winterreise“, sich nicht immer als vorteilhaft erweist. Die Stimme sitzt weit hinten, zuweilen klingt sie gaumig und in den Aufnahmen mit Brendel und Eschenbach auch nasal. Was ich problematisch finde, ist das eingesetzte Vibrato bei längeren Notenwerten. Am Überzeugendsten klingt sein Vortrag bei Liedern die ein gleichmäßiges Singen verlangen. Bei Liedern jedoch mit Umschwüngen und dramatischen Zuspitzungen klingt seine voluminöse Stimme wie gewalttätig, gleichzeitig auch hohl. Außerdem ist Goernes Stimme hier wenig variabel und verfügt über wenig Differenzierungsmöglichkeiten. Das lässt sich in dem Lied „Frühlingstraum“ (11) genau beobachten: leise Partien gefallen, laute („Rabe vom Dach“) klingen zu voluminös und fest, hohe laute Stellen werden zudem auch gestemmt. Am besten gefällt mir seine Stimme noch in der ersten Aufnahme. Leider findet er seitens seines Begleiters Graham Johnson mit seinem asketischen und neutralen Klavierspiel wenig Unterstützung. Man meint Johnson wollte den Sänger nicht stören und ihm den Vortritt lassen. In (4) klingen die durchlaufenden Triolen etwas geleiert. In (6) passt er die punktierten Achtel den Triolen des Sängers bequem an, im Gegensatz zum Notentext. So verfahren übrigens auch Alfred Brendel und Christoph Eschenbach sowie viele andere Klavierpartner. Die ersten Takte von (11) klingen leider nicht duftig, sondern eher sachlich.

Besser gefällt mir die Zusammenarbeit mit Alfred Brendel, hier spürt man eine echte Partnerschaft. Der Flügelklang hat mehr Fülle als früher und Brendel überzeugt mit differenziertem Vortrag, z. B. im „Lindenbaum“ (5): nach der 3. Strophe klingen „die kalten Winde“ in den Sechzehntel-Triolen der rechten Hand noch nach. Zehn Jahre später ist Christoph Eschenbach Goernes Klavierpartner, der oft mit kräftigem Anschlag aufwartet, in punkto Differenzierung jedoch nicht immer überzeugt, in (4) z. B. bleibt er nur beiläufig. Goernes Singen klingt an einigen Stellen etwas kurzatmig, ein Nachatmen an etlichen Stellen ist nicht zu verbergen. Durch (dezente) Hallbeigabe wirkt die Stimme jedoch mächtiger.

 

 eingestellt am 25.03.22

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